Schlaglicht: Drohende Impfpflicht – auch eine Frage historischer Verantwortung

Deutschland will öffnen – zum Frühlingsanfang. Gleichzeitig geht die Debatte um eine Impfpflicht weiter, auch wenn etwa Teile der Union die Debatte runterzufahren versuchen und nur noch von einem Vorratsbeschluss sprechen wollen, der bei neuen Krankheitswellen scharf gestellt werden kann.

Gegen diese fortgesetzte Impfdebatte bleibt festzuhalten, auch wenn es dem Kanzler nicht in den Kopf will: Der Staat hat kein Recht, durch Impfzwang, faktische Impfnötigung oder gesetzliche Impfpflicht in den Körper des freien Subjekts einzugreifen, schon gar nicht bei Impfstoffen mit bedingter Notfallzulassung. Wer dagegen Widerspruch erhebt, tut dies aus gewichtigen Gründen: Denn es geht um die freie Entscheidungsfähigkeit des einzelnen Subjekts, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Schon die Masernimpfpflicht stellt eine deutliche Grenzüberschreitung des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates dar. In der Coronadebatte sind die Dämme weiter gebrochen. Bereits die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Gesundheits- und Pflegeberufe bleibt ein Menschenrechtsübergriff, zu dem ein Rechts- und Verfassungsstaat nicht berechtigt ist. Umso mehr gilt dies für eine allgemeine Impfpflicht. Wenn Politiker, wie beispielsweise der oberfränkische CSU-Bundestagsabgeordnete Thomas Silberhorn, einerseits erklären, eine solche sei gegenwärtig nicht erforderlich, andererseits aber mit einem Vorratsbeschluss hierfür liebäugeln, zeigen sie damit, wes Geistes Kind sie sind.

Gesundheit ist wichtig. Aber sie ist dennoch kein Gut um dessen willen der Einzelne vom Staat technokratisch vermessen, gesteuert und digital registriert werden darf. Ein solches Menschenbild und Staatsverständnis verstoßen gegen die Wert-, Freiheits- und Grundrechtsordnung, um die wir in unserem Vaterland hart gekämpft haben und zu der wir uns auch aus historischer Verantwortung treu und fest bekennen sollten. Prinzipien in Sonntagsreden zu beschwören und bei Schönwetterpolitik vor sich her zu tragen oder diese in der Krise auch fest zu leben, sind zwei paar Dinge. Wir erleben in dieser Coronakrise allerdings, dass Entscheidungsträger – und nicht nur sie – reihenweise wie Dominosteine umkippen und grundlegende Wertüberzeugungen unserer rechtsstaatlichen Ordnung preisgeben – gleich, mit welchen konfessionellen, weltanschaulichen oder politischen Argumenten der Einzelne dies begründen mag.

Der Verweis auf kollektive Zwecke, etwa Schutzpflichten des Staates oder gesundheitspolitische Systemnotwendigkeiten, als Begründung für gravierende Eingriffe in die Selbstbestimmungsfähigkeit und die Freiheit des Einzelnen kommt meistens viel zu schnell. Solche Eingriffe wären, wenn überhaupt ethisch zulässig, sehr sorgfältig zu begründen. Doch je länger die Coronakrise anhielt, desto schlampiger wurden die Begründungen der Exekutive. So leichtfertig und so schnell dürfen Grundfreiheiten von Staats wegen nicht außer Kraft gesetzt werden, wenn wir am Ende nicht in einem autoritären Zwangsstaat aufwachen wollen. Das kann, wenn wir nicht aufpassen, schneller passieren, als uns lieb ist.

Wir erleben einen deutlichen Verfall an Freiheitsbewusstsein in unserem Land. Die moralischen und sozialen Folgeschäden, welche diese Politik hinterlassen wird, werden immens sein. In Kollegien, Freundeskreisen, Vereinen oder anderen sozialen Zusammenhängen kann vielfach nur noch in konspirativen Zirkeln offen miteinander gesprochen werden. Es gibt einen offiziellen und einen inoffiziellen Diskurs. Das alles ist Anzeichen für eine beginnende autoritäre Umformung der politischen und sozialen Kultur in unserem Land. Der Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, zerstört fundamentales Vertrauen, auf vielen Ebnen unseres Zusammenlebens. 

Umso wichtiger ist es, gegen diese Entwicklungen jetzt die Stimme zu erheben und für die zentralen Prinzipien unserer Wert- und Verfassungsordnung standhaft einzutreten. Um diese wurde historisch hart gerungen. Für diese tragen wir auch eine soziale, geschichtliche Verantwortung, die weit über unseren Lebenskreis hinausreicht. Was wir der nachfolgenden Generation an Orientierungswerten hinterlassen, hängt auch von uns ab. Hier wird Generationengerechtigkeit, die viele politisch und kirchlich so gern im Munde führen, konkret greifbar. 

Schlaglicht: Schulaufsicht darf nicht Parteipolitik sein

Die Genehmigung von Schulbüchern ist Teil der staatlichen, von der Verfassung vorgegebenen Schulaufsicht und Bestandteil des kulturstaatlichen Auftrags. Aber wie an anderen Stellen des staatlichen Handelns auch: Diese Aufgabe des Staates sollte unvoreingenommen und nichtindoktrinär wahrgenommen werden. Und das ist vielfach mitnichten der Fall. Denn auch in Schulbuchkommissionen haben die üblichen Annahmen „woker“ Identitätspolitik, moralisierender Haltungspädagogik oder manipulativer Agendawissenschaft Einzug gehalten. Andererseits stellt sich die Frage, welchen Einfluss Schulbücher in digitalen Zeiten überhaupt noch spielen. Was an Youtubefilmchen über digitale Tafeln schnell mal in den Unterricht eingespielt wird, hat niemals eine Schulbuchkommission gesehen. Nun haben Lehrer schon immer Primärquellen im Unterricht verwendet – zu Recht. Entscheidend bleibt aber, dass diese mit den Schülern unvoreingenommen, nichtindoktrinär ausgewertet werden.

Ein anderes Beispiel schlechter Schule sind Lehrpläne. Ich hatte mich seinerzeit in verschiedenen Publikationen kritisch zur Bildungsplanreform 2015 in Baden-Württemberg geäußert. Die Wellen schlugen damals im Bereich Gender-, Queer- und Sexualpädagogik hoch. Doch kompetenzorientierte Bildungspläne begehen auch in anderen Fächern und bei anderen Themen pädagogische Grenzüberschreitungen, indem sie die Haltung der Schüler zum Gelernten zu steuern und staatlicher Reglementierung zu unterwerfen suchen.

Aber noch ein weiteres, aktuelles Beispiel: In Baden-Württemberg sind aktuell Curricula für die neue Berufsfachschule für Sozialpädagogische Assistenz erlassen worden. Im kompetenzorientierten Lehrplan für das Fach Gemeinschaftskunde heißt ein Lernfeld „Deutschland als Einwanderungsland begreifen“. Hier nimmt das Kultusministerium eine parteipolitische Setzung, vor, welche die Schüler für eine bestimmte partikulare Weltsicht vereinnahmt, man kann auch sagen: manipuliert. Denn Deutschland mag vielleicht de facto ein Einwanderungsland sein, besitzt aber bis heute keine explizite Einwanderungsgesetzgebung. Über die Frage, ob Deutschland explizit ein Einwanderungsland werden sollte oder nicht, muss politisch kontrovers debattiert werden können. Lehrpläne können diese Frage nicht entscheiden. Andernfalls werden kulturstaatliche Instrumente der Schulaufsicht zu Instrumenten der Parteipolitik, was dem Beutelsbacher Konsens, etwa seinem Kontroversitätsgebot, widerspricht.

Schlaglicht: Warum unser Land einen Aussöhnungsprozess brauchen wird

Wie soll Deutschland auf die Infektionen mit Omikron reagieren? Ein klares politisches Vorgehen ist nicht erkennbar. Oder sollte man vielleicht besser sagen: immer weniger. Auch zwei Jahre nach Beginn der Coronakrise reagiert die Politik hektisch, moralisierend und wenig rational auf die damit verbundenen Herausforderungen. Die politischen Maßnahmen scheinen nur sehr vage mit dem medizinischen Geschehen verbunden zu sein. Die Datenlage ist in vielem immer noch sehr dünn und wenig gesichert. Ja, schlimmer noch: Datenskandale wie in Hamburg oder Bayern haben das ohnehin schon beschädigte Vertrauen in die Politik noch weiter erschüttert. Dass die immer zahlreicher werdenden „Spaziergänge“ gar nicht erst behördlich angemeldet werden, ist Ausdruck dieses Vertrauensverlustes – und ein beachtliches Signal in einem Land, in dem Revolutionäre einem bekannten Zitat zufolge früher angeblich erst eine Bahnsteigkarte lösten, wenn sie den Bahnhof besetzen wollten.

Die Erfahrungen nach zwei Jahren Coronakrise können auf einen Begriff gebracht werden: Wir haben es mit einem Fall von Staatsversagen zu tun. Die politischen Handlungsträger und die Verwaltungen sind überfordert. Immer komplexere Detailregelungen (mittlerweile gibt es nicht nur Geimpfte, Genesene oder Getestete, sondern auch noch „frisch Geimpfte“, „Geboosterte“ und „Genesene mit Auffrischimpfung“), die kaum noch zu durchschauen sind, verhindern ein effizientes Krisenmanagement, verhindern notwendige Routinen in der Bevölkerung und damit einen zielgerichteten, effektiven Infektionsschutz. Stattdessen werden die Kollateralschäden immer größer.

Dabei geht es nicht um Kleinigkeiten: An immer mehr Stellen erodiert die Wert- und Verfassungsordnung des Landes. Alle drei Gewalten sind mittlerweile ramponiert. Die Judikative hat ihre Unschuld verloren, seit die obersten Richter im Kanzleramt diniert haben. Nun droht auch der Bundestag durch 2G-Regelungen an Würde zu verlieren. Wer Abgeordnete ausgrenzt, trifft damit immer auch Teile des Souveräns, die sich mitgemeint sehen – und das zu Recht. Dabei sind es nicht allein die selbsternannten Fortschrittskoalitionäre, die sich maßlos überschätzen, wenn sie keine roten Linien mehr anerkennen wollen. Gleiches gilt für Politiker der C-Parteien, die bei der Debatte über eine allgemeine Impfpflicht gar keine Gewissensentscheidung zu erkennen vermögen; ein Staatsverständnis, das aus einer solchen Haltung spricht, wird dem christlichen Personalitätsprinzip nicht gerecht.

Die politischen Spitzen, vom Bundeskanzleramt bis zum Präsidenten des Landkreistages, haben sich auf eine solche Impfpflicht als einzige Lösung der Krise eingeschossen. Aber keiner wagt sich so richtig an einen Gesetzentwurf heran. Die quälende Debatte wird weitergehen und das Land noch mehr spalten. Zwar gibt es erste Anzeichen, die eine wachsende Unsicherheit gegenüber einer solchen staatlichen Zwangsmaßnahme andeuten, ein grundlegender Richtungswandel ist in der Debatte aber noch nicht erkennbar. Die Situation könnte sich in diesem Jahr noch brandgefährlich zuspitzen, wenn eine allgemeine Impfpflicht real durchgesetzt werden sollte, die Ausgrenzung durch 2G(+)-Regeln auch über den Sommer hinweg durchgezogen wird und die Proteste gegen diese Politik weiter zunehmen werden. Die Spaltung der Bevölkerung in unterschiedliche Gruppen zerstört auf Dauer den gesellschaftlichen Zusammenhalt und beschädigt eine lebendige Bürgergesellschaft. Aber möglicherweise ist es vielen in der Politik – zumindest unbewusst – gar nicht unrecht, wenn Formen einer selbstbewussten, konservativen, bürgerlichen Kultur die Coronakrise nicht überleben werden.

Es wird immer deutlicher, dass nach dieser Krise viel aufzuarbeiten sein wird. Dies betrifft nicht nur Fragen nach der Handlungsfähigkeit des Staates in einer Krisensituation – schon das allein wäre eine dringend notwendige Aufgabe. Denn Corona wird in einer globalisierten Welt nicht die letzte biopolitische Herausforderung bleiben.

Wir werden einen nationalen Aussöhnungsprozess brauchen, der nicht mit billiger Münze zu haben sein wird. Der politische Vertrauensverlust, den diese Krise hinterlassen wird, ist deshalb so veritabel, weil bei nicht wenigen der Eindruck entstanden ist, als Rechtspersönlichkeit nicht mehr geschützt zu sein – und das wiegt schwer, rührt an die Fundamente unserer Wert- und Verfassungsordnung. Erst recht dann, wenn es um Eingriffe des Staates in die körperliche Unversehrtheit, theologisch kann man sogar sagen: in die Integrität der eigenen Leiblichkeit, geht. Allerdings bleibt die Frage, wie ein solcher Aussöhnungsprozess angestoßen werden kann, wenn nahezu alle politisch-gesellschaftlichen Akteure in dieser Krise moralisch Schaden genommen haben werden, von der Politik über die Medien und Hochschulen bis zu den Kirchen und darüber hinaus. Der Bundespräsident hat mit einer Diskussion in Schloss Bellevue vor einer halben Woche versucht, einen ersten Schritt in diese Richtung zu setzen. Aber es steht zu erwarten, dass der jetzige und wohl auch künftige Amtsinhaber nicht das notwendige Format besitzt, diese Mammutaufgabe wirklich zu leisten. Möglicherweise werden sich aus der Krise heraus neue politische Mehrheiten oder Formationen ergeben, denen es gelingt einen solchen Aussöhnungsprozess anzustoßen; Friedrich Merz sollte etwa nicht zu früh eine Zusammenarbeit seiner Partei mit der AfD ausschließen. Wie auch immer – eines bleibt sicher: Wir werden einen nationalen Aussöhnungsprozess brauchen, wenn das Land nicht dauerhaft gespalten bleiben soll.

Eine wichtige Voraussetzung hierfür wäre eine erneuerte Streitkultur und ein offenes, respektvolles, unvoreingenommenes Diskursklima. Dies gilt nicht allein für die Corondebatte, sondern etwa auch für die Klima- oder Migrationspolitik. Schon länger und immer häufiger werden politische Konflikte moralisch kodiert. Dadurch werden alternative Positionen „unsagbar“, Andersdenkende an den Rand getrieben und faktisch aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Verständigung und Annäherung müssen misslingen, solange diese Mechanismen nicht durchschaut und aufgearbeitet werden.

Schlaglicht: Seit wann ist das Lied der Deutschen verboten?

Hubertus Knabe kommentiert auf WELT online das neue Dossier des Berliner Senats zur Umbenennung von Berliner Straßen. Mehr als hundert Straßen wurden als Problemfall etikettiert, von Martin Luther und Katharina von Bora über Hoffmann von Fallersleben und Richard Wagner bis zu Thomas Mann und Konrad Adenauer. Vor den neuen Kulturkämpfern ist keine Epoche und kein Namen mehr sicher. Nur Karl Marx fehlt in der Sammlung des Gutachtens.

Wenn wir das Dossier ernstnehmen, wissen wir, was an kulturellen Verteilungskämpfen auf uns zukommen wird und welch scharfer Wind über kurz oder lang allen um die Ohren wehen wird, die sich künftig noch zu den kulturellen Traditionen unseres geliebten Vaterlandes bekennen wollen. Und bei alldem nimmt es das Gutachten mit den Fakten nicht so genau – denn: Heute zählt Haltung mehr als ein Wissensstand, wie uns die neue Werbekampagne der „Zeitung für Deutschland“, der F.A.Z., wissen lässt. So schreibt Knabe:

„Manchmal stimmen nicht einmal die Fakten – wie die Behauptung, die beiden ersten Strophen des Deutschlandliedes seien ‚aufgrund ihres aggressiven Nationalismus und revanchistischen Gehalts‘ verboten worden. Ihr Verfasser, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, findet sich ebenfalls auf der Liste.“

Das Lied der Deutschen ist keinesfalls verboten und wird auf burschenschaftlichen Veranstaltungen auch weiterhin gesungen. Bezeichnend für den Verfall der politischen Debatte in unserem Land ist, dass für eine Senatsverwaltung juristische Wahrheit offenbar nicht mehr zählt. Ein solcher Staat ersetzt das Recht schleichend durch die Herrschaft kultureller Willkür. Eine Politik aber, die das kulturelle Gedächtnis des Landes ausradieren will und Unterstellungen an die Stelle des Rechts setzt, gefährdet die kulturelle Stabilität des Gemeinwesens. Man nennt das wohl „gesellschaftlichen Fortschritt“, denn die Parteien desselbigen regieren in unserer Hauptstadt.

Eine bissige Schlussbemerkung: Berlin darf nur der Anfang sein. Über kurz oder lang werden wir dann auch für das Verbindungshaus jener Burschenschaft, welcher der Verfasser angehört, eine neue Adresse bekommen. Ganz sicher. Der auf das nahegelegene ehemalige Siechenhaus zurückgehende Name Siechenstraße diskriminiert bestimmt alle Kranken, jedenfalls die geimpften. Die „demokratischen“ Parteien im Bamberger Stadtrat sollten endlich handeln und eine Straßenumbenennung einleiten.

Schlaglicht: Deutschland vor der Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht

Bereits vor einem Jahr, als in Deutschland mit den Coronimpfungen begonnen wurde, forderten erste Stimmen eine Impflicht – also lange vor Omikron und einer vierten Welle, und völlig unabhängig von der tatsächlichen Impfbereitschaft im Land. Die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht hat ab Sommer beständig an Fahrt gewonnen. In Kürze wird der Bundestag darüber entscheiden, ohne Fraktionsdisziplin. In Form von wissenschaftlichen Erklärungen, Offenen Briefen oder „Montagsspaziergängen“ formiert sich zunehmend Widerstand gegen einen staatlichen Zwang zum Impfen. Lässt sich ein solcher noch verhindern?

Ich befürchte: Nein. Die Entscheidung über eine Impfpflicht wird im Parlament nicht mehr aufzuhalten sein. Auch besitzt die kleine Gruppe der Impfpflichtgegner um Wolfgang Kubicki  wenig moralische Glaubwürdigkeit bei ihrer Position, insofern sich diese Abgeordneten bereits früher gegen den indirekten Impfzwang hätten wehren müssen, statt die bisherigen Maßnahmen im Rahmen der Fraktionsdisziplin mitzutragen.

Aber die gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Initiativen wider eine Impfpflicht haben dennoch einen großen Wert – abgesehen von der Funktion, den eigenen Moralhaushalt so zu beeinflussen, dass man noch morgens in den Spiegel sehen kann. Sie dokumentieren, dass die Entscheidung für eine Impfpflicht nicht alternativlos ist. Auch wenn die politischen Mehrheitsverhältnissse gegenwärtig nicht zu ändern sind, speisen widerständige Stellungnahmen und Positionierungen einen „Vorrat“ an Fähigkeit zum Perspektivwechsel in den öffentlichen Moraldiskurs ein – auf Vorrat sozusagen, für die spätere Debatte. Denn die Kontroverse über diese Politik, bei der viel für unser künftiges Zusammenleben sowie das Staats-, Freiheitsverständnis und Menschenbild unserer Wert- und Verfassungsordnung auf dem Spiel steht, muss weitergehen. Und das ist auch gut so.

Manche „Spaziergänge“ gleichen gegenwärtig einem Schweigemarsch, was ein wirksames Mittel des politischen Protests sein kann, wie die Geschichte zeigt. So ist der Widerstand gegen einen staatlichen Impfzwang gegenwärtig vielleicht nicht mehr als eine stumme Mahnung – aber schon das ist wichtig. Warum bin ich so skeptisch, dass sich die politische Stimmung gegenwärtig noch drehen lässt – wohlgemerkt: zugunsten einer freien, selbstbestimmten Entscheidung des Einzelnen für oder gegen eine Impfung, nicht gegen jede Impfung als solche.

Zunächst ist die Stimmung in der Bevölkerung mehrheitlich immer noch eine andere. Das Narrativ von einer vermeintlichen „Pandemie der Ungeimpften“ bleibt wirksam. Die Mehrheit hofft, dass mit einer Impfpflicht alles bald vorbei sei. Dann ist die neue Regierung mit einer solchen Entschlossenheitsrhetorik gestartet, dass ein Zurück jetzt kaum denkbar ist. Schließlich haben sich die führenden Politiker in den Parteien auf eine Impfpflicht eingeschossen, zu nennen sind hier nur allein die beiden Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg – daran werden sich trotz Gewissensentscheidung ohne Fraktionszwang viele Abgeordnete orientieren. Dann hat es die Politik in den vergangenen Jahren der Merkelära immer mehr verlernt, Fehler einzugestehen – und das müssten die Politiker bei einem Kurswechsel in Richtung freier Impfentscheidung. Und ein Letztes: Die Zeit für eine grundlegende Debatte ist mittlerweile zu kurz, um noch substantielle Bewegungen zu erreichen. Hierfür müssten bereits Gruppenanträge auf dem Tisch liegen, über die transparent und kontrovers diskutiert werden könnte.

Ich kann in der Impfpflichtdebatte gegenwärtig keinen Stimmungswechsel ausmachen – aber: Ich würde mich in dieser Frage liebend gern irren.

PS: Und die bildungsethische Moral von der Geschicht‘? Wer nach einer Pflicht ruft, gesteht indirekt ein, dass rationale Argumente nicht mehr zu überzeugen vermögen. Schon länger bestimmt Moralisierung den Coronadiskurs.

Schlaglicht: In Verantwortung vor Gott und den Menschen – sozialethische Gedanken zum Amtsverständnis der neuen Ampelkoalition

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ hat sich das deutsche Volk nach dem moralischen Desaster des Nationalsozialismus das Grundgesetz gegeben. So heißt es in dessen Präambel. Der Gottesbezug unserer Verfassung hält jene „Leerstelle“ im geistig-moralischen Fundament unseres Gemeinwesens offen, die der Staat nicht selbst füllen darf, ohne die aber letztlich auch die Freiheit des Menschen auf der Strecke bliebe. Die Deutschen haben dies in zwei Diktaturen deutlich erfahren. Die Ideologie der Freiheit darf niemals mächtiger werden als die konkrete Freiheit des Einzelnen.

Als im Dezember die neue Bundesregierung vereidigt wurde, verzichtete eine bemerkenswert hohe Zahl an Kabinettsmitgliedern auf die religiöse Eidesformel, darunter auch der aus der Kirche ausgetretene Bundeskanzler Olaf Scholz. Immer wieder haben Politiker auf die religiöse Bekräftigung ihres Amtseides verzichtet, durchaus auch Politiker mit christlicher Überzeugung. Ja, es bleibt im liberalen, weltanschaulich neutralen Rechts- und Verfassungsstaat das freie Recht des Einzelnen, ob er die Anrufung Gottes hinzufügt oder nicht. Dennoch zeigt die politische Rhetorik, welche den jüngsten Regierungswechsel begleitete, dass die religiösen Elemente unserer Verfassungsordnung eben doch mehr sind als nur überkommener politischer Zierrat.

Der Hildesheimer Bischof, Heiner Wilmer, betonte in seiner Silvesterpredigt, es mache ihn „dankbar und hoffnungsfroh“, dass die Regierungsgewalt im Dezember reibungslos und respektvoll übergeben worden sei. Die Demokratie in Deutschland sei stark und funktioniere. Selbstverständlich sei das  nicht – so Wilmer mit einem Seitenhieb auf Donald Trump und dessen Abgang aus dem Präsidentenamt. Vielleicht hätte es dem neuen Sozialethikbischof aber gut angestanden, auch einen selbstkritischen Blick auf Deutschland zu werfen, anstatt noch einmal das hinlänglich bekannte, nicht gerade anspruchsvolle „Trump-Bashing“ aufzuführen. Aus sozialethischer Sicht hätte sich durchaus einiges zum Amtsverständnis der neuen Ampel sagen lassen.

Nach dem Willen des Souveräns sollen die Regierungsmitglieder ihr politisches Amt „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ausüben. Ein solches Bewusstsein kann vor politischer Hybris bewahren – oder anders ausgedrückt: vor einer Amtsauffassung, die „keine roten Linien“ kennt. Scholz hat diese Formulierung, die wohl Entschlossenheit demonstrieren soll, zu Beginn seiner Amtszeit gleich mehrfach wiederholt. Aber ein Bundeskanzler, der keine roten Linien kennt, überschreitet eben gerade jene roten Linien, welche die Verfassung zieht. Es gereicht der AfD zur Ehre, dass sie als Opposition an einem solchem Amtsverständnis deutlich Kritik übt.

Gegen Politiker, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, für Entscheidungen einzustehen, und auch bei Kritik Prinzipienfestigkeit beweisen, ist nichts zu sagen. Wir brauchen Politiker mit Pflichtgefühl und Verantwortungsethik, die mehr sein wollen als „Pragmatiker des Augenblicks“, immer frei nach dem Motto: Hier stehe ich, ich kann auch jederzeit anders … Was wir allerdings nicht brauchen, sind Politiker mit Erlösungsversprechen, Machbarkeitsphantasien oder Selbstüberschätzung.

Denn es bleibt zu unterscheiden: Auf der einen Seite eignen sich vorletzte Fragen nicht als „status confessionis“. Vielmehr gehören politische Fragen zu den irdischen Wirklichkeiten, die unter Beachtung der ihnen „eigenen Gesetze und Werte“ (Gaudium et spes 36) zu klären sind. Urteile in zeitlichen Dingen, die auf eine der Vernunft und ihrem Sollen angemessene Weise gefällt werden, sollten dem Kriterium der Verbindlichkeit genügen, können aber keinen Anspruch auf Endgültigkeit oder Absolutheit erheben. Sie gelten immer nur bis zum Erweis des Gegenteils.

Auf der anderen Seite hat der Verfassungsgesetzgeber mit der Gottesformel eine wichtige Wertvorentscheidung getroffen, die alle staatliche Gewalt bindet, eben rote Linien zieht. Die Gottesformel stellt – ebenso wie die religiöse Eidesformel – kein persönliches Glaubensbekenntnis dar, sie ist auch nicht auf ein christliches Gottesbild beschränkt. „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus“, so der frühere Kulturpolitiker Thomas Sternberg. Es geht um jene letzte Grundlage, die uns überhaupt moralisch handeln lässt. Es geht um ein Bekenntnis, dass wir noch einer anderen Instanz, Gott und Gewissen, gegenüber verpflichtet sind. Es geht um eine Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen und einer Selbstüberschätzung des Menschen. Diese rote Linie darf nicht überschritten werden.

Denn es geht um deutlich mehr als eine politische Stilfrage. Wo keine roten Linien mehr gelten sollen, sind auch die Menschenwürde und die Selbstbestimmung des freien Subjekts nicht mehr geschützt. Die Gottesformel wehrt das Verständnis eines Staates ab, der sich absolut setzt, wider jede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag.

Vom Wahlkampfversprechen auf Respekt ist beim Antrittsantritt des neuen SPD-Kanzlers wenig übriggeblieben: Der neue Amtsinhaber heizt die politische Stimmung im Land gefährlich an, wenn er in der ohnehin schon angespannten Coronadebatte keine Signale der Versöhnung aussendet, sondern die Suche nach Sündenböcken noch intensiviert und den Keil zwischen Geimpften und Ungeimpften weiter vorantreibt. Überdies bleibt fraglich, ob eine mit schonungsloser Härte vorangetriebene Impfpflicht tatsächlich die erhoffte Erlösung bringen wird – und wenn nicht, was dann!?

Aber auch gesellschaftspolitisch hat sich die neue Ampelkoalition einiges vorgenommen. Die geplanten Liberalisierungen in der Kinder-, Familien- und Geschlechterpolitik, beim Lebensschutz am Beginn und Ende des Lebens oder in der Stammzellforschung, in der Drogenpolitik oder auch die forcierte Zuwanderung bei gleichzeitiger Absenkung von Integrationserfordernissen bergen eine Menge Zündstoff. Deutschland steht vor gewaltigen Anstrengungen, die Folgen der Coronakrise aufzuarbeiten – nicht allein wirtschaftlich. Gewaltige Anstrengungen wird auch der notwendige nationale Aussöhnungsprozess verlangen, von dem Jens Spahn schon sehr früh sprach, der aber keineswegs mit billiger Münze zu haben sein wird. Die gegenwärtigen „Montagsspaziergänge“ vermitteln einen Eindruck, was hier auf uns zukommen wird.

Umso wahnwitziger mutet es an, dass die Fortschrittskoalitionäre in einer solchen Situation allen Ernstes daran denken, den vor drei Jahrzehnten mühsam erreichten Kompromiss in der Abtreibungsgesetzgebung gerade jetzt wieder aufzuschnüren. Gleiches gilt für die angestrebte Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen: eine Debatte, die in ihrer Brisanz für den Erhalt der kulturstaatlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens vermutlich deutlich unterschätzt wird.

Den Kirchen könnte noch ein rauer Wind um die Ohren wehen. Ob es den Kirchen gelingt, in einem solchen Klima geistig-moralische Orientierung zu geben, wird sich zeigen. Bischof Wilmer könnte in dieser Legislaturperiode eine deutliche sozialethische Bewährungsprobe bevorstehen, die mehr abverlangt als kirchliche Zeitgeistigkeit und routinierte, phrasenhafte Stellungnahmen aus dem kirchlichen Amtsapparat.

Sollte die F.A.Z. mit ihrer Vermutung kurz vor Weihnachten angesichts einer neuen Allensbachumfrage Recht behalten, dass 2021 vielleicht das letzte Weihnachtsfest mit einer kirchlichen Mehrheit im Land gewesen sein könnte, so zeigt dies, dass sich die religiösen Gewichte schneller wandeln könnten, als vielen lieb ist. Die genannte Umfrage zeigt, dass es auch bei abnehmender Kirchenbindung immer noch eine sehr starke Mehrheit im Land gibt, die sich eine christliche Prägung für unser Zusammeleben wünscht. Eine solche ist aber kein fester Besitzstand. Sie wird zwangsläufig schwächer werden, wenn eine christlich-kirchliche Praxis schwindet. Und es braucht den starken politischen und gesellschaftlichen Willen, die christlich-abendländischen Grundlagen unserer Wert- und Verfassungsordnung auch kulturstaatlich zu pflegen. Wo die Sorge um die geistigen Grundlagen unseres Gemeinwesens erlahmt, werden über kurz oder lang kulturelle und soziale Verteilungskämpfe ein­setzen.

Schlaglicht: Gesellschaftliche Befriedung in der Impfdebatte verlangt mehr

„Tichys Einblick“ kommentiert die Rolle des Deutschen Ethikrates in der Debatte um eine Impfpflicht:
https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/knauss-kontert/ethikrat-impfpflicht/

Das Vorgehen des Ethikrates wird in keinster Weise die gesellschaftliche Stimmung im Land befrieden. Ähnliche Einschätzungen habe ich auch schon von anderen gehört. Ganz abstrus wird es, wenn der Ministerpräsident im Südwesten glauben machen will, eine allgemeine Impfpflicht werde das Land befrieden, weil dann alle gleich(gemacht) seien. Ein solches Menschenbild offenbart, wie sehr die K-Gruppen-Vergangenheit dieses Politikers noch nachwirkt. Aber auch der neue Bundesjustizminister glaubt, dass eine parlamentarisch beschlossene Impfpflicht das Land befrieden werde. Dafür sind durch einen De-facto-Impfzwang mit üblen Mitteln und die erste Regierungserklärung des neuen Kanzlers die Gräben schon viel zu tief aufgerissen worden. Auf so einfache Weise wird ein nationaler Aussöhnungsprozess nicht zu haben sein.

Passend zur Stimmung im Land, noch ein Leserbrief aus der F.A.Z. vom 29. Dezember 2021 (= Dr. Thomas Weinsberg, Arzt):
https://www.faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/der-mensch-jesus-17705546.html

Der Ethikrat soll nach der Devise handeln: Wess‘ Brot ich ess‘, dess‘ Lied ich sing. Ein Wissenschafts- und Demokratieverständnis, dass Abweichler mit gesellschaftlicher Ächtung bedroht, erinnert eher an einen Demokratischen Zentralismus als an die differenzierte Güterabwägung in einer freiheitlichen Gesellschaft. Besser könnte man die zuerst genannte Kolumne nicht bestätigen.

Schlaglicht: Ein Weihnachten der Ausgrenzung

Weihnachten steht vor der Tür – oder in diesem Jahr besser: An Weihnachten wird vielen Gläubigen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Uns steht in einer Woche ein Weihnachten der Ausgrenzung bevor. Der bekannte Journalist und Buchautor Peter Hahne hat hierzu – wie wir es von ihm gewohnt sind – deutlich Position bezogen: https://www.kath.net/news/77081

Ja, Peter Hahne hat Recht: Was in diesem Jahr zu Weihnachten in vielen Kirchen und Gemeinden (zum Glück nicht überall) zu erleben sein wird, ist eine geistliche Bankrotterklärung einer entleerten, säkularisierten Kirche. Gewiss, die Kirche ist nicht von der Welt, aber doch in der Welt. Darum müssen wir uns auch in der Kirche Gedanken über Hygiene-, Lüftungskonzepte und Infektionsschutzmaßnahmen machen. Anderes wäre verantwortungslos. Aber eine Kirche, die Kumpanei mit einer menschenwürdefeindlichen Coronapolitik betreibt, die gesellschaftliche Polarisierung aktiv vorantreibt und vor allem Christen aufgrund einer freien, verantwortlich getroffenen Gewissensentscheidung vom Leib des Herrn ausschließt, bietet keine geistliche Orientierung mehr und verrät sich selber – oder wie es Kardinal Gerhard Ludwig Müller gesagt hat: Eine solche Kirche handelt wider den Willen des Herrn. Und wohlgemerkt: Der Kardinal hat auch darauf hingewiesen, dass eine Impfpflicht nach Entscheidung der Glaubenskongregation im gegenwärtigen Fall der katholischen Sittenlehre widerspricht.

Es wird ein bitteres Weihnachten werden. Vielleicht werden die Kirchenverantwortlichen irgendwann aufwachen, aber zu spät – und merken, was sie angerichtet haben: Eine Kirche, deren Weihnachtsbotschaft hohl, deren Weihnachtsglocken scheppernd dröhnen und deren Weihnachtslieder verlogen klingen, braucht am Ende niemand mehr. Und es könnte sein, dass man an Weihnachten in diesem Jahr viele treue Gottesdienstbesucher gerade vom konservativen Flügel der Kirche verlieren wird – aber vielleicht ist auch dies gewollt. Für die Wertordnung unseres Zusammenlebens verheißt es nichts Gutes, wenn am Ende dieser Krise nicht nur viele gesellschaftliche Akteure, sondern auch die Kirchen moralisch diskreditiert sein werden.

Schlaglicht: Freiheit und Verantwortung

Die kontroverse Debatte um die Coronapolitik kann als eine Spielart der allgemeinen Debatte um Freiheit und Verantwortung gelesen. Und diese wird vielfach vom Sozialstaat dominiert. Der Sozialstaat ist wichtig, aber nicht alles – zumal wir in der Tradition des Ordodenkens ein sozialer Rechtsstaat und kein rechtlicher Sozialstaat sind.

Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn alle auf ihre Rechte pochen, keiner aber bereit ist, Verantwortung und Pflichten zu übernehmen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 weist an ihrem Ende darauf hin, aber gerade dieser Artikel wird selten zitiert. Die Frage nach transhumanen Pflichten betrifft nicht allein den Sozialstaat, sondern nicht minder den Rechts- oder Kulturstaat.

Auch ein Rechtsstaat kolabiert letzten Endes, wenn alle nur auf ihre Rechte pochen, aber niemand bereit ist, Pflichten zu übernehmen. Und der Kulturstaat implodiert, wenn – etwa in der Integrationsdebatte – einseitig von Pflichten der Aufnahmegesellschaft gesprochen wird, den zu Integrierenden aber keine Pflichten mehr abverlangt werden dürfen. Die Deutschen müssten sich integrieren, damit die Gesellschaft integrativ wird. Und Integrationskurse sollten abends stattfinden, weil tagsüber schwarzgearbeitet werde – darauf müsse man Rücksicht nehmen. Die Beispiele mögen absurd klingen, aber ich habe beides auf hochrangigen wissenschaftlichen Tagungen gehört – und keiner der anwesenden Wissenschaftler wagte zu widersprechen. Alle stimmten pflichtschuldigst zu. Wenn wir von Verantwortung reden, müssen wir auch von der Verantwortung für die rechtlichen und kulturellen Ressourcen und Grundlagen unseres Zusammenlebens sprechen.

Das Plädoyer für Freiheit klingt hohl, wenn die Verantwortung ausgeblendet (was aber häufig geschieht, etwa in den Debatten um Partizipation oder Kinderrechte). Richtig ist aber auch: Die Gemeinschaft profitiert von der Freiheit. Auf bisher unübertroffene und in keiner Weise überholte Weise – im Gegenteil! – hat dies Humboldt in seiner Ideenschrift „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ ausgedrückt. Wenn wir beherzigen würden, was dort formuliert ist, stünde unser Staats- und Gemeinwesen wesentlich besser dar, davon bin ich überzeugt. Was will ich sagen?

Freiheit sollten wir nicht zu stark von den Lasten für die Gemeinschaft her denken. Vielmehr wird es keine lebenswerte, mit Wohlstand ausgestattete, produktive Gemeinschaft geben ohne Freiheit. Denken wir Freiheit daher von ihrem unverzichtbaren und nicht bezahlbaren Wert für die Gemeinschaft her. Allerdings ist damit eine produktive, erwachsene Freiheit des mündigen Bürgers gemeint. Eine solche Freiheit meint nicht die Freiheit zum Kiffen (der neue Koalitionsvertrag drängt dieses Beispiel auf), sondern die Selbstentfaltung der Produktivität des Einzelnen – und zwar zuvorderst in den Bereichen, die allein durch die freie Selbstentfaltung der Einzelnen gesichert werden und in denen jedes Gemeinschaftshandeln versagen muss. Der Staat kann die Menschen nicht gegen ihren Willen bilden, moralisieren und so fort.

Schlaglicht: Wo steht ein Bischof in diesen Tagen?

Anmerkungen zu einer Podiumsdiskussion „Kirche und Demokratie“, mit der im November die Katholische Akademie des Bistums Hildesheim ihren Umzug von Goslar nach Hannover gefeiert hat:

„Du bist von Gott gewollt und geliebt“, erklärt Bischof Wilmer auf einem glamourösen Podium in der Landeshauptstadt. Und bekennt, er wolle sich an die Seite derer stellen, „denen es nicht gut geht.“ Ich höre die Worte wohl, allein mir fehlt der Glaube – in einer Zeit, da ein tiefer Riss durch unser Land geht, da eine Politik, die Maß und Mitte, Anstand und Rationalität verloren hat, die Polarisierung der Gesellschaft in ungeahntem Ausmaß vorantreibt, da eine bestimmte Gruppe zu Sündenböcken gestempelt und ihrer Teilhaberechte beraubt wird. Wo steht der Bischof angesichts einer solchen politischen Entwicklung? Wo hört man ein geistliches Wort der Orientierung aus Bischofsmund zu den gravierenden Wertkonflikten dieser Tage? Unter der gegenwärtigen Coronapolitik leiden auch viele Gemeindemitglieder, ganz konkret. Die Debatte darüber spaltet Gemeinden, wie mir ein Priester vor kurzem sagte. Er befürchtet, dass viele, vom moralischen Versagen der Kirche enttäuscht, nicht mehr zum Gottesdienst zurückkehren werden. Steht der Bischof auch an der Seite seiner geistlich besorgten Priester?