Neuerscheinung: Sozialpädagogik oder Elementarbildung?

Am 30. Januar 2019 hielt Professor Dr. Volker Ladenthin seine Abschiedsvorlesung zum Thema „Bildung und Demokratie“: streitbar, transzendentalkritisch, anschaulich … Er gehörte zu den dienstältesten Professoren der Bonner Philosophischen Fakultät, wie der Dekan in seinem Grußwort vermerkte. Am Ende wurde dem Erziehungswissenschaftler eine Festschrift überreicht, deren Frage sich auf das Leitmotiv seiner Hochschullehrertätigkeit bezieht: Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff?! Mit dem Geehrten verlässt wieder einmal mehr eine gewichtige Stimme die Universität, die an einer genuin bildungsbezogenen Begründung von Schule, Hochschule und Lehrerbildung streitbar festgehalten hat – aber eine Abschiedsvorlesung bedeutet hoffentlich nicht den Abschied aus dem öffentlichen Bildungsdiskurs.

Stephan Stomporowski, Anke Redecker, Rainer Kaenders (Hgg.): Bildung – noch immer ein wertvoller Begriff`?! Festschrift für Prof. Dr. Volker Ladenthin (Wissenschaft und Lehrerbildung; 3), Göttingen: V & R unipress/Bonn University Press 2019.

Heutzutage ist es erschreckend bequem, unmündig zu sein. Habe ich eine internationale Vergleichsstudie, die für mich Verstand hat, ein Bildungsmonitoring, das für mich Gewissen hat, und einen Fitness-Tracker, der für mich die passende Diät liefert, können die Mühen des eigenständigen Denkens und Prüfens durch Datensammeln ersetzt werden. Der Begriff der Bildung gewinnt in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Flexibilisierung und globaler Komplexität bei gleichzeitiger Neigung zu Simplifizierung, bequemlicher Isolierung und ökonomischem Verwertungsinteresse zunehmend an pädagogischer Bedeutung.“ (aus dem Klappentext)

Axel Bernd Kunze fragt in seinem Beitrag für die Festschrift: Sind Tageseinrichtungen für Kinder Institutuionen der Sozialpädagogik oder Elementarbildung? Beobachtungen zum bildungsbezogenen Sprachgebrauch um frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung, in: ebd., S. 199 – 217.

Schlaglicht: Es war einmal eine Universität …

Ab und an zeigt sie sich noch einmal bei Festakten und Feierstunden: Die freiheitliche Universität, die einst an der Wiege des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates stand, zumindest in Preußen und Deutschland: eine Universität, welche aus der Gedanken-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit lebt. Nicht umsonst hat sich der Festredner einer solchen Festveranstaltung gestern Abend beim Land Nordrhein-Westfalen (und beim Steuerzahler) bedankt, der Forschung auch dann fördert, wenn sie Kritik an der aktuellen (Bildungs-)Politik übt. Leider ist das nicht in allen Ländern der Fall, aber auch hier wird das geistige Klima enger und unfreier. Fast als Gegenentwurf zur gestrigen „Sonntagsrede“ liest sich daher ein Beitrag im akutellen „Cato“: Norbert Bolz, Im Neuhumanismus wurde die Universität einst als eine Ausbildungsstätte geistiger Freiheit und menschlicher Souveränität gegründet. Heute fördert sie Angepaßtheit und Unselbständigkeit, in: Cato 2/2019, S. 74 – 78. Der Titel spricht für sich. Der Beitrag wurde in ähnlicher Form schon im November 2018 veröffentlicht:
https://www.achgut.com/artikel/treibhaeuser_der_konformitaet

Christliche Sozialethik – ein persönlicher Rückblick auf fünfundzwanzig Jahre

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Doch sind wir nicht bloß Produkt der Zeitläufte – dann wäre unser akademisches Tun allein Reaktion auf das, was uns äußerlich begegnet. Zugleich sind wir Akteure, die sich zu den Entwicklungen – mal mehr, mal weniger aktiv – verhalten können. Für die bildungsethische Reflexion spielt dieser Punkt eine nicht unbedeutende Rolle …

 

Umweltethik und Gemeinsames Sozialwort der Kirchen

Wenn Bildung zum Gegenstand sozialethischer Reflexion werden soll, genügt es nicht, allein deren äußere soziale Seite zu betonen. Bildung wäre dann nicht mehr als äußere Anpassung; von einer Widerständigkeit des Subjekts könnte keine Rede mehr sein. Die vorgängig subjektiv – personal – bestimmte Sicht auf Bildung in Beziehung zu setzen zu ihren sozialen Bedingtheiten, bildet die spezifische Herausforderung jeder Sozialethik der Bildung.

Diese gehört nicht zu den traditionellen Themen der Disziplin. Das seinerzeitige Bamberger DFG-Forschungsprojekt „Menschenrecht auf Bildung: Anthropologisch-ethische Grundlegung und Kriterien der politischen Umsetzung“ zeigt, wie sich das Fach ausdifferenziert hat. In Münster, wo mein Interesse an der Christlichen Sozialethik geweckt wurde, war diese Entwicklung deutlich wahrzunehmen – in jenen Jahren vor allem geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen Sozialwort. Das Oberseminar in Bamberg, später in Münster, an dem ich fast zwölf Jahre teilnehmen durfte, hat gezeigt, dass sozialethisches Forschen nicht allein Fragen der Staats- und Wirtschaftsordnung betrifft. Diese Offenheit für eine Bandbreite an Themen habe ich als bereichernd empfunden. Den Beginn, tiefer in die Christliche Sozialethik einzusteigen, bildete vor fünfundzwanzig Jahren eine Hausarbeit im umweltethischen Unterseminar von Prof. DDr. Franz Furger und Dr. Marianne Heimbach-Steins am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster.

 

Axel Bernd Kunze: Soziale Verantwortung zum Thema machen! Das Sozialwort der Kirchen und die kirchlich-soziale Bildungsarbeit (Akademische Abhandlungen zu den Erziehungs­wissenschaften), Berlin 2001.

 

Politische Ethik

Die damalige Spendenaffäre der Union legte ein Thema für die geplante Dissertation nahe: Unser Gemeinwesen lässt sich zentral als Parteiendemokratie bestimmen. Einfluss auf die Ausgestaltung unseres staatlichen oder gesellschaftlichen Zusammenlebens verläuft in entscheidender Weise über die Parteien, denen das Grundgesetz erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte ausdrücklich eine verfassungsrechtliche Rolle zubilligt. Gleichzeitig gibt es ein Unbehagen, das sich auch im Titel der Arbeit niederschlug: Parteien zwischen Affären und Verantwortung. Das erste Mal führte mich beim Vorgespräch mein Weg in die Stadt an der Regnitz …

 

Axel Bernd Kunze: Parteien zwischen Affären und Verantwortung. Anforderungen an eine Verant­wortungsethik politischer Parteien aus christlich-sozialethischer Perspektive (Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; 52), Münster (Westf.) 2005.

 

Bildungsethik

Die erste Berufung meiner Doktormutter nach Bamberg, der ich – ausgestattet mit einem Promotionsstipendium – folgte, erwies sich als glückliche Fügung. Schnell hatte ich mich in Franken eingelebt, Bamberg wurde so etwas wie eine zweite Heimat. Durch Aufnahme des Bandes der Bamberger Alemannia hat sich diese Verbindung verstärkt – und dauert im Lebensbund fort, auch wenn ich die Stadt mittlerweile beruflich Richtung Schwaben verlassen musste.

Aus der sozialethischen Beschäftigung mit Bildungsfragen ist eine Hauptprofession im Schuldienst und in der Schulleitung geworden. Die Fragen kehren in veränderter Gestalt wieder. Wenn Bildung nur als Selbsttätigkeit denkbar ist, muss gefragt werden, auf welche Weise der Staat bildungspolitisch agieren darf, ohne gerade das zu verhindern, was pädagogisch erreicht werden soll: jene Freiheit der Einzelnen, auf die der Staat um seiner eigenen Zukunft willen nicht verzichten kann. Unser Gemeinwesen lebt von der Produktivität seiner Bürger, die nur begrenzt steuerbar bleibt. Viele Veröffentlichungen aus der Habilitationsphase und der Zeit danach – bis heute – drehen sich nicht zufällig um das Thema Freiheit, an prominenter Stelle im Titel der Habilitationsschrift: Freiheit im Denken und Handeln.

Diese bleibt ein gefährdetes Gut. So werden die Fachschulen „im Ländle“ etwa von der Dienst- und Fachaufsicht verpflichtet, eine Didaktische Jahresplanung zu implementieren. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese als Trojanisches Pferd. Denn was auf diese Weise unter dem Signum pädagogischer Qualitätssicherung gesteuert werden soll, ist darüber hinaus das methodische Handeln der Lehrkräfte. Dies widerspricht der pädagogischen Freiheit, welche die eigentliche Professionalität des Lehrberufes ausmacht. Gerade deshalb verschleiert die staatliche Schulaufsicht ihren Eingriff in die konzeptionell-methodische Freiheit der Lehrer und Privatschulen unter dem Etikett „didaktisch“. Nur ein Beispiel dafür, welche Rolle bildungsethische Fragen im beruflichen Schulalltag spielen …

In guter, dankbarer Erinnerung geblieben sind mir aus der Zeit am Bamberger Lehrstuhl die angenehme, kollegiale Atmosphäre sowie die regelmäßigen Dienstbesprechungen, die über das Organisatorische hinaus Einblick in die Praxis wissenschaftlicher Arbeit ermöglichten.

In unserer damaligen DFG-Projektgruppe bestand keinesfalls Einigkeit darüber, wie das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit bei der Bestimmung von Bildungsgerechtigkeit angemessen auszulegen sei. Der Verfasser dieser Zeilen wird bis heute nicht müde, Widerspruch anzumelden gegen einen aus seiner Sicht schädlichen Egalitarismus im bildungspolitischen und -ethischen Diskurs. Weitere Diskussionspunkte waren etwa die Bewertung des neuen Kompetenzparadigmas, die Aussagekraft, die der empirischen Bildungsforschung zugemessen werden kann, oder die Abgrenzung zwischen unerlässlichen Wesensgehalten und vorläufigen, interpretierenden Prinzipien bei Auslegung eines Rechts auf Bildung. Bemerkenswert und sehr wohltuend war, dass die verschiedenen Auffassungen im gemeinsamen Forschungsprojekt zu Wort kommen konnten und respektiert wurden. Aus Sicht der Projektleitung war es sicher nicht immer leicht, die kontroversen Positionen zusammenhalten, was bis zum Ende gut gelungen ist.

 

Axel Bernd Kunze: Freiheit im Denken und Handeln. Eine pädagogisch-ethische und sozialethische Grundlegung des Rechts auf Bildung (Forum Bildungsethik; 10), Bielefeld 2012.

 

Migrationsethik

Immer wieder sind bei der sozialethischen Reflexion Maß und Mitte nicht aus dem Blick zu verlieren. Dies kann ein hartes, kontroverses Ringen bedeuten, wie sich nicht zuletzt in der jüngeren Migrationsethik zeigt. In der ethischen Beurteilung der migrations-, integrations- und staatspolitischen Herausforderungen, vor denen wir nicht allein kurzfristig stehen, zeigen sich auch innerhalb der sozialethischen Disziplin deutliche Gräben zwischen den verschiedenen Lagern. Einen Niederschlag hat dieses argumentative Ringen in der Beteiligung am Sammelband Zerreißprobe Flüchtlingsintegration gefunden.

Nicht zuletzt der Stellenwert staatsethischer Argumente bleibt strittig. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Christliche Sozialethik in der jüngeren Vergangenheit zunehmend unpolitischer geworden ist – möglicherweise eine Kehrseite der oben beschriebenen Ausdifferenzierung? Staatsrechtliche und -politische Fragen, das Nachdenken über die – gefährdeten – Grundlagen unseres Gemeinwesens und die Belastbarkeit des Staates oder Themen wie Vaterland, Nation, Volk und Identität stehen nicht hoch im Kurs. Die Gesellschaft hat dem Staat sozialethisch den Rang abgelaufen. Fragen der Gesellschaftsreform, kulturwissenschaftliche Betrachtungen oder ein Menschenrechtsdenken jenseits nationalstaatlicher Bezüge stehen sozialethisch im Vordergrund.

Meine Skepsis bleibt, dass sich auf diese Weise sozialethisch ein Staat machen lässt. Die Disziplin fußt auf der starken Tradition eines christlich orientierten Staatsdenkens. Möglicherweise werden die genuin staatsethischen Fragen im Zuge der Migrationskrise schneller zurückkehren, als viele gegenwärtig glauben. Ich freue mich darauf, diese und weitere Debatten auch in Zukunft sozialethisch mitzugestalten …

 

Axel Bernd Kunze: Wo stößt Gastfreundschaft an Grenzen?, in: Marianne Heimbach-Steins (Hg.): Zerreißprobe Flüchtlingsintegration (Theologie kontrovers), Freiburg i. Brsg./Basel/Wien: Herder 2017, S. 56 – 69.

Neuerscheinung: Educational Governance und Inklusion

Axel Bernd Kunze und Sven Sauter: Educational Governance im Kontext von Heterogenität und Inklusion, in:

Roman Langer, Thomas Brüsemeister (Hgg.): Handbuch Educational Governance Theorien (Educational Governance; 43), Wiesbaden: Springer VS 2019,

S. 573 – 614.

Dieser Beitrag diskutiert die Perspektive der Educational Governance im Kontext von Heterogenität und Inklusion aus einer erziehungswissenschaftlichen, bildungssoziologischen und bildungsethischen Perspektive. Aufgezeigt wird, dass es im Zuge langanhaltender Bildungsreformen trotz begrifflicher Unschärfen, theoretischen Kontroversen und empirischen Lücken in den Debatten bezüglich Heterogenität & Inklusion zu einer erkennbaren Wertegeneralisierung im Hinblick auf das Menschenrecht auf Bildung gekommen ist. Diese gilt es – theoretisch fundiert – genauer hinsichtlich der konkreten Rekontextualisierungen in den Blick zu nehmen, um anstatt sich in Strukturdiskussionen zu verlieren, die Qualität von Bildung weiter zu entwickeln und Inklusion als Leitprinzip für Bildungsprozesse zu etablieren.

Online verfügbar: Beiträge zur Didaktik der Elementarbildung

Die Hefte der Publikationsreihe „Gruß aus der Großheppacher Schwesternschaft“ (gleichzeitig als „Kind und Schwester“ erschienen) stehen kostenlos als Download zur Verfügung. Darin finden sich folgende Beiträge zur Didaktik der Elementarbildung:

Axel Bernd Kunze: Braucht Religion Bildung? Braucht Bildung Religion?, in: Ausgabe 123.

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Axel Bernd Kunze:  Eine Vorschule des Glaubens. Zur Bedeutung gemeinschaftlicher Rituale im Schulalltag, in: Ausgabe: 125.

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Axel Bernd Kunze: Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen wird 30 Jahre alt, in: Ausgabe: 2018/19.

Klicke, um auf 181204-ghs-gruss-2018-2019-ds.pdf zuzugreifen

Schlaglicht: Das Streiten wieder lernen – oder: Gedanken vor der kommenden Europawahl

Eine Podiumsdiskussion irgendwo im Land – mit dabei: ein ehemaliger Minister, ein Unternehmer und ein bekannter Nachrichtenredakteur aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunkt. Es ging wie so oft um eine Welt voll neuer Unsicherheiten, den beklagenswerten Zustand Europas – ach, nein: der EU – und das veränderte politische Klima im Allgemeinen. Man hörte, was man schon oft gehört hat: Europa fehlten die Visionäre. Europa verliere den Anschluss. Und: Niemand in den Medien verfolge eine geheime parteipolitische Agenda. Richtig, das wird man sogar glauben dürfen. Aber es gibt eine Milieugebundenheit vieler Berufsgruppen, die Alternativen von vornherein ausschließt – hier liegt das Problem einer einseitigen Stimmungsmache heute. Dies fiel aber niemandem auf. Vision ja, aber in den festgelegten Bahnen.

Trump ist böse, aber noch schlimmer ist China – ja, da sollten wir zu Recht aufpassen, bevor wir von unliebsamen Entwicklungen überrollt werden. Aber keiner auf dem Podium kam auf die Idee zu fragen, ob es dafür nicht ein anders organisiertes Europa braucht. Die EU steckt in einer Vertrauenskrise, der Brexit hat dies augenfällig gemacht. Das einzige Rezept, das auch an jenem Abend genannt wurde, lautet aber: noch mehr von einer EU, die längst den Glanz früherer Tage verloren hat. Die Forderungen werden immer umgreifender: Schaffung einer europäischen Nation, einer europäischen Republik, einheitlicher Sozialversicherungssysteme (… auch wenn einzelne Länder dabei draufzahlen werden, am Ende – so das Podium – gewinnen alle; den Beweis wird man nicht erbringen müssen, die richtige Gesinnung allein zählt), ein EU-Parlament, das über den nationalen Parlamenten steht …

Applaus gab es für die mehrfach vorgetragene Forderung, die EU bedürfe eines neuen Visionärs, der den Rückschritt durchbreche – einen neuen Helmut Kohl, der gegen alle Widerstände und alle Bedenkenträger, auch gegen den Mehrheitswillen der eigenen Bevölkerung eine einheitliche europäische Nation durchsetze. Eine Nation technokratisch am Reißbrett entworfen!? Aber wer will kleinlich sein, wenn es darum geht, China zu besiegen. Der Widerspruch fiel niemandem auf: Man beklagt das Vordringen autoritärer Politikstile – und findet selbst nichts dabei, die eigene Bevölkerung zu übergehen. Wer nicht anders will, muss eben zum Guten gezwungen werden. Früher nannte man das einmal einen gesinnungsethischen Moralismus, heute heißt es Verantwortung.

Mit der Auflösung der europäischen Nationen in einem einheitlichen Europa könnte Europa als bürokratischer Zentralstaat gerade das verspielen, was Europa immer stark gemacht hat: seine Vielfalt. Wir müssen als christliches Abendland zusammenhalten – aber mit den souveränen Nationen, nicht gegen sie. Was hingegen auf dem Podium gepredigt wurde, darf man durchaus einen europapolitischen „Extremismus der Mitte“ nennen. Dumm nur, dass bei den Europawahlen dann doch noch andere Alternativen zur Wahl stehen. Einmal mehr hat der Abend gezeigt, wie gespalten der öffentliche Diskurs im Land ist und wie gering die Bereitschaft, einander wahrzunehmen und Kompromisse einzugehen. Alles, was nicht ins eigene Weltbild passt, wird ausgeblendet. Nur zwei Beispiele …

„Die Jugend muss endlich aufstehen und die Macht übernehmen. Denn nur die EU kann der Jugend eine Zukunft bieten.“ Hat ein früherer Jugendfunktionär und Staatsratsvorsitzender dasselbe nicht vor der FDJ immer über den Sozialismus behauptet!? Man merke: Die Jugend denkt wie ein monolithischer Block – alle sind glühende Macron- und Merkelanhänger, wenn sie unter 35 sind. Oder: Als zaghafte Kritik aufkam, dass die Deutschen nicht darüber abgestimmt hätten, dass unsere Verfassung und deren Grundrechte mittlerweile durch den EuGH relativiert würden, hieß es: „Wir sind eine repräsentative Demokratie. Die Bürger haben die Parteien im Bundestag gewählt. Und alle Parteien im Bundestag haben sich von Anfang an für die EU entschieden.“ Wie bitte!? Sitzen dort nicht zwei Parteien, für die das nicht gilt: Die AfD will das dezidiert nicht. Und die Linke hat zumindest nicht an der Wiege der EU gestanden, sondern seinerzeit etwas ganz anderes gewollt. Aber wie schon gesagt: Wer will so kleinlich sein, angesichts des großen Ganzen. Für „Fake News“ sind doch immer die anderen zuständig.

Es wird auf Dauer nicht gut gehen, den öffentlichen Diskurs so einseitig zu führen. Und es wird auf Dauer nicht gut gehen, fünfzehn Prozent der eigenen Bevölkerung, die Positionen vertreten, die früher auch einmal in den Unionsparteien hoffähig waren, jetzt als Antidemokraten und Nazis abzustempeln … Dieses Wahljahr könnte spannend werden. Und das muss nicht zum Schaden der Demokratie sein, wenn – ja, wenn – wir das Streiten wieder lernen würden.

Kolumne: Für eine neue politische Streitkultur

In der Kolumne vom 10. Januar 2019 setzt sich Dr. Axel Bernd Kunze, der u.a. als Schulleiter, Sozialethiker und Lehrbeauftragter für Soziale Arbeit und Kindheitspädagogik tätig ist, mit dem rauer gewordenen Meinungsklima in Deutschland auseinander. Kunze wendet sich gegen eine falsche Interpretation dessen, was als gesellschaftlicher Grundkonsens apostrophiert wird, und wirbt für eine politische Streitkultur auf der Grundlage freiheitlich-demokratischer Prinzipien.

(Wolfgang Kurek)

Die aktuelle sozialethische Kolumne aus der „Tagespost“ vom 11. Januar 2019 ist mittlerweile auch auf den Seiten der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle abrufbar.

Der brutale Überfall auf einen Bremer Politiker unterstreicht in diesen Tagen noch einmal auf gravierende Weise, wie wichtig eine faire-demokratische Streitkultur für die politische Kultur in unserem Land ist. Der öffentliche Diskurs gerät in eine Schieflage, wenn um eines vermeintlich alternativlos Guten willen versucht wird, einen nicht zwingend gegebenen Meinungskonsens mit fragwürdigen Mitteln durchzusetzen. Dies gilt für die politische Debatte wie für andere gesellschaftliche Bereiche. Der öffentliche Kurs verliert dadurch an intellektueller Kraft. Die Sachfragen der diskriminierten Positionen haben sich durch die Etikettierung einzelner Positionen noch keinesfalls erschöpft. Sie werden dann in anderer Form wiederkehren und möglicherweise noch schwerer zu bearbeiten sein.

 

Kolumne: Wie politisch ist Diakonie?

Wie politisch ist Diakonie? Verbände und Träger im Sozialbereich wollen nicht abseits stehen.

… mit dieser Frage beschäftigt sich eine Kolumne in der aktuellen Ausgabe der „Tagespost“ vom 11. Januar 2019:

https://www.die-tagespost.de/politik/wi/Kolumne-Wie-politisch-ist-Diakonie;art314,194814

Der Verfasser, Axel Bernd Kunze, ist Sozialethiker und Pädagogik. Er arbeitet als Schulleiter. Ferner lehrt er in der Lehrerbildung an der Universität Bonn sowie als Lehrbeauftragter in der Sozialen Arbeit und Kindheitspädagogik.

Wöchentlich schreiben führende deutschsprachige Sozialethiker für die sozialethische Kolumne, die – in Kooperation mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach – in der katholischen Wochenzeitschrift aus Würzburg erscheint. Kommentiert werden aktuelle Entwicklungen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Seit Jahresbeginn findet sich die Kolumne an fester Stelle auf der Seite für Wirtschaft und Soziales.

Alles Gute und Gottes Segen zum neuen Jahr

Liebe Leserinnen und Leser meines Weblogs,

Ich hoffe, Sie haben alle friedvolle, erholsame Weihnachtsferien verleben können. In der evangelischen Kirche begleitet uns ein Psalmwort als Jahreslosung durch dieses neue Jahr: … suche Frieden und jage ihm nach (Ps 34,15). Weihnachten zeigt uns, dass dieser Friede kein leeres Versprechen ist, keine abstrakte Idee. Gott selbst spricht uns diesen Frieden zu – in ganz konkreter, menschlicher Gestalt: in der Geburt seines eigenen Sohnes. Weihnachten erneuert unser Leben, schenkt uns Hoffnung und Zuversicht – oder wie es Martin Luther in einem Weihnachtslied gedichtet hat: Gott schenkt uns „seinen eingen Sohn. Des freuet sich der Engel Schar und singet uns solch neues Jahr.“ Und so dürfen wir dieses neue Jahr mit der neuen Jahreslosung ganz bewusst unter den Schutz und den Segen Gottes Segen stellen – damit es für uns alle ein friedvolles, gutes, gottgesegnetes neues Jahr werde.

„… ein gottsegnetes neues Jahr“ – mehr können wir uns als Mensch einander nicht wünschen. Und das wünsche ich Ihnen am heutigen Fest der Erscheinung des Herrn  von ganzem Herzen. Den Lernenden unter Ihnen wünsche ich viel Erfolg, Kraft und Gottes Segen für ihre Ausbildung oder ihr Studium und die anstehenden Prüfungen in diesem Jahr! Den Lehrenden unter Ihnen wünsche ich viel Freude, Kraft und Gottes Segen für ihre Unterrichts- oder Forschungstätigkeit!

Ich freue mich, wenn Sie auch weiterhin mein Weblog interessiert verfolgen, und hoffe auf einen weiterhin intensiven, spannenden bildungsethischen Austausch mit Ihnen – herzlichen Dank.

Ihr Axel Bernd Kunze

Rezension: Lyrische Sehenswürdigkeiten – eine Würdigung aus fachdidaktischer Perspektive

Thomas Hald: die abendsonne im glas. Gedichte (Poesie 21), Deiningen: Steinmeier 2018, 96 Seiten.

Haben Sie dieses eigenartige Verhalten auch schon beobachtet? Man steht an einer dieser Sehenswürdigkeiten, dem Eiffelturm, der Tower Bridge, dem Brandenburger Tor oder dem Hradschin – und die Menschen fotografieren, was das Handy aushält. Das allein ist noch nicht bemerkenswert; bemerkenswert ist aber, dass es gleich nebenbei Ansichtskarten von eben diesen Sehenswürdigkeiten zu kaufen gibt, dass die Bilder im Netz stehen und man sie nur herunterzuladen bräuchte und sich bei begrenzter Reisezeit nicht selbst um die beste Perspektive bemühen müsste. Man möchte mit aufs Bild. Mehr noch: Man möchte sein eigenes Bild, seinen eigenen Blick verewigen. Davon handelt der vorliegende Gedichtband. Er thematisiert Sehenswürdigkeiten.
Was macht etwas, das man sieht, wert, gesehen zu werden? Was macht es zu einer Sehenswürdigkeit? Dass alle da waren? Oder dass man selbst da war? Dass man selbst da war, wo alle waren? Nein – lässt Thomas Hald den Leser in seinem neuen Gedichtbahn ahnen – es ist, dass ich anders da war, als alle anderen da waren. Ein Gedichtband, fast ausschließlich gefüllt mit Gedichten, die Titel tragen wie: „mining, berggasse“, „mariawald“, „neuschwanstein“, „london“, „amsterdam“, „hamburg“, „olympia“ und so weiter. Ikonen des Tourismus. Berühmte Städte und Stätten, Sehenswürdigkeiten eben, die thematisiert werden. Kann man dazu noch etwas sagen? Ja, genau so, wie man selbst den Eiffelturm noch einmal für sich fotografieren kann. Die Gedichte halten fest, was das Ich erlebt hat – bis hin zu intimen Details, die ihm zuweilen der wirkliche Höhepunkt der Sehenswürdigkeit zu sein schien. Hemmungslos privat. Im Inhaltsverzeichnis stehen hinter den Gedichten Daten: Sind die Texte an diesem Tag entstanden – oder waren die Eindrücke auf für das Ich nur gültig an diesem einen Tag? Haben sie sich durchs (Be-)Schreiben aufgelöst – oder erst herausgebildet: „am hauptbahnhof die augen voll von / morgensonnengold // (…) spätabends, (…), fließt dir/ das gold vom morgen aufs papier“ (S. 70). Peter Rühmkorf gab 1979 einen Gedichtband mit dem Titel „Haltbar bis Ende 1999“ heraus, der sich auf ein gleichnamiges Gedicht aus dem Jahre 1978 bezog. Ist bei Hald das Entstehungsdatum auch das Verfallsdatum – oder ist das gerade die Frage? Wie lange sollen diese Gedichte halten? Vielleicht nur einen Tag – und gerade deshalb ein ganzes Leben. Weil sie an diesen einen Tag, an diese ein-maligen, unverwechselbaren, unwiederholbaren Augenblicke erinnern: Wie etwas war nur „an diesem Abend“ (S. 19). Hier will das Ich zuerst einmal nichts verallgemeinern; im Gegenteil: Dass Allgemeingut wird vereinzelt und aufs Ich bezogen. Ist es dann noch ein „Gut“? Oder wird die Sehenswürdigkeit überhaupt erst dadurch zum Gut, dass man sie für sich prüft? Das wird man lesend erarbeiten müssen.
Die Gedichte provozieren beim Lesen Gefühle, indem sie zuallererst von (vergangenen) Gefühlen berichten, von Assoziationen: „LONDON (…) war mein erster gedanke beim anblick der …“ (S. 16). Sie berichten wie der zitierte Reiseleiter, von dem, was kommentiert und damit vom Gesehenen getrennt wurde (S. 18).
Man liest das kleine Büchlein beim ersten Mal so, wie man einen Reiseprospekt durchblättert oder einen Fremdenführer: Was kennt man, was kennt man nicht, wo war man auch? Stimmen die Bilder? Aber es sind keineswegs zu Ikonen gefrorene Bilder, Zitate des Bekannten, es sind keineswegs auch nur Skizzen, „hingepinselt, gereimte zeilen / auf dem papier“ (S. 79) keine Kleinigkeiten wie „eine/dampfende tasse kaffee“ (S. 67), sondern Gegengewichte, die das falsche Leben und Erleben des Allgemeinen ausgleichen sollen: „ein schwereres gegengewicht / um die balance zu finden / formlosigkeit mit deinem gedicht / zu überwinden“ (S. 78). Der Autor hat gewissermaßen „den pinsel im Mund“ (S. 20), er malt nicht wie die Maler, er fotografiert nicht wie die Touristen, sondern er ahmt die Geste des Malens nach, ahmt sie mit Worten nach, die die gleiche Geste zu etwas ganz anderem werden lassen: „könnte ich malen, dann wäre ich / kein dichter: würde schauen und schweigen“ (S. 52). Aber er schreibt. Er ordnet.
Hald schreibt in leichter Sprache, gelegentlich etwas sehr leicht, sehr nah am Alltagsjargon, der die Wahrnehmung verstellt („enorm“ [S. 72] – passt das Wort in einen Gedichtband, gleich zweimal?) Viele Gedichte sind nicht gereimt, aber sie zeigen den Sprachartisten, der zuweilen verschwenderisch mit wunderschönen Reimideen umgeht, indem er sie nicht nutzt: „erst schluckte er, dann spuckte er“ (S. 17). „TRAVEMÜNDE // fast eine sünde“ (S. 44). „muscheln“, neben „möwen, die sich kuscheln“ (S. 44). Und dann plötzlich ein Gedicht, das so fein und kompliziert, so artifiziell und federleicht gereimt ist, dass man es beim ersten Lesen überliest: Ausgerechnet das musikalische „Café Mozart“ weist das Reimschema „a,b,c,b,a,c – d,e,d,e, f,g,f,g“ auf (S. 63). (Nur fällt dem mit dem Mund malenden Ich im Café etwas ganz anderes auf, was wir hier dezent übergehen wollen!)
Aber die Hemmungslosigkeit hat einen guten Sinn. Auf diesen Sinn weisen kleine Sprachbilder, die wie Miniaturen in wenigen Worten auf etwas Großes deuten, das man selbst noch auffinden muss: „die eine stirbt, / schon kommt die nächste aus dem nichts“ (S. 86) heißt es – über Wespen. Nur über Wespen? Da „stand im thronsaal nie ein / thron“ (S. 15) – was viel zu denken gibt, zum Beispiel ob ein Esszimmer auch ein Esszimmer ist, wenn man nie in ihm isst? „stop-and-go auf dem Rückweg“ (S. 17) – welch ein Gedankenbild. Bei „Lindau“ erlebt er eine „panoramafahrt / über den boden“ (S. 23) – ist das nicht die Theorie des Tourismus in vier Worten, zumal der Wortsetzer uns lustig stolpern lässt. Denn insgesamt lautet der Satz: „drei länder // panoramafahrt / über den boden // see“ (S. 23). Und: „leucht- / feuer werden vom nebel erstickt.“ (S. 45) – so geht es den Warnern und Propheten; denn „eine boje liegt / auf dem trockenen“ (S.46). In Rom stößt er auf Säulen, die „nur noch ihr eigenes gewicht“ tragen (S. 28) – und vielleicht das Altern symbolisieren – oder den staatstragenden Politiker, den Säulenheiligen, der nicht zurücktreten mag, obwohl er nur noch sich selbst trägt. (Ja, es gibt auch Tagespolitik: Den Brexit [S. 85] etwa. Und witzige Kulturkritik: „timing // beethovensklavier- / trio: zwischen zwei sätzen / klingelt ein handy“.) Kinder, denen der Ballon wegfliegt, und die so ihr Glück nicht fassen können, so wie es uns Erwachsenen im ganzen Leben meistens geht: Man kann es nicht fassen (S. 53). So könnte man, blütenlesend, durch den Text wandern, angeregt vom besonderen Blick und der in Sprache verallgemeinerten Einmaligkeit, die vielleicht mehr über das Ganze verrät, als allgemeine Sätze: „ein spatz / schnappt sich die brösel“ (S. 84).
Das Buch ist artifizieller, als es sich präsentiert und dem spontanen Leser darstellen mag: Es gibt nicht nur die offene Verweise auf andere Poeten, Reiseschriftseller oder Individualisten, auf den heiligen Benedikt (S. 10), Heine (S. 46) (der, wie vielleicht alle Dichter, „beim kurtheater / [nur, V. L.] auf einem niederen sockel“ [S. 47] steht). Verwiesen wird auf Heraklit (Seiten 27. 50) – der das geheime Motto des Gedichtbandes formulierte, nämlich, dass man nichts zweimal gleich erlebt), auf Hölderlin (S. 78), auf Rilke (S. 11; des „überreifen jahrs“; bei Rilke: „Überreif // Mancher Sommer schenkt sich übervoll, / daß man die Früchte nicht mehr pflücken mag. / Die Ernte, die in meinen Körben schwoll, / in meiner Hand in saftig prallen Stücken lag, // war überreich, daß ich sie nur vergeude.“). Sondern es gibt auch feine (und fein versteckte) Zitate, ausgeliehene Bilder: „mir ist immer so fad / (drum fällt mir was ein) / bei der rasur im bad“ – John Lennon fiel dabei ein Liebenslied an seine Frau Yoko ein: „In themiddleof a shave I callyourname / Oh, Yoko / Oh, Yoko / Mylove will turn you on” („Oh Yoko“). Das Gedicht „Schwalben“ (S. 72) erinnert Ernst Tollers erfolgreiches „Schwalbenbuch“ (1924). Und die Frage „wie weit muss man gehen, / um die tage zu nehmen, / wie sie sind?“ (S. 76) an Bob Dylans bekanntestes Lied: „How many roads must a man walk down …”(vergleiche auch Seite 16).
Wie die Sehenswürdigkeiten muss man auch diese Gedichte mehrmals besuchen und dann herausfinden, was sie bedeuten für das eigene Leben.
Die Gedichte dieses Bandes eignen sich (wie schon der frühere Band „im tonfall des jungen sommers. gedichte“. Deiningen 2011; vergleiche Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 3/2013, S. 305) sehr gut zur Einführung in die Spezifika literarischen Sprechens, speziell der Lyrik. Einige Aspekte sind bereits angeklungen:
• Sämtliche Gedichte zeigen an (auch jungen Schülern) bekannten Beispielen („London“) den Vorgang individualisierten Schreibens: Äußere und innere Welt werden unterschieden und dann wieder in Beziehung gesetzt durch eine eigenwillige Metaphorik; durch biographische Einzelheiten; durch Hervorhebungen individueller Aspekte oder sogar Assoziationen – insgesamt durch die Perspektive, die das Ich einnimmt (Blick aus dem Bus, aus dem Touristenboot, vom Balkon und so weiter) Zuweilen nennt nur die Überschrift einen Namen, der Allgemeines verspricht, während der Text ausschließlich subjektiv und zuweilen privat bleibt. Herauszuarbeiten wäre, wie Hald diese Individualisierung erreicht.
• Das Prinzip des pars pro toto wird immer wieder erkennbar, das heißt, an (unauffälligen) Einzelheiten wird etwas Ganzes erklärt. Bei Hald werden Lebenserfahrungen – fast schon Gesetzmäßigkeiten – aus unscheinbaren Beispielen gewonnen – etwa die Boje, die auf dem Trockenen liegt und so keine Funktionen mehr erfüllen kann – als Bild für die funktionslos gewordenen traditionellen Orientierungen (Sitten, Normen, Kirchen und so weiter) in der modernen („ausgetrockneten“, verebbten, sich zurückziehenden) Gesellschaft.
• Hald geht virtuos mit stilistischen Mitteln wie Zeilenstil, Zeilenbruch oder Reim um: Welche Wirkung (Überraschung, Aufmerksamkeit, Erstaunen, Verwunderung, Aufmerken, „Stolpern“) erreicht er durch diese Stilmittel? Wann reimt er – warum? Welche Wirkungen erzielt der Reim? Welche Bedeutung hat die Kleinschreibung, die ja einen bedeutsamen Lesewiderstand darstellt – und so bewusstes Lesen verlangt.
• Zahlreiche Gedichte formulieren eine Poetik der Lyrik, wenn sie den Vorgang des Schreibens betrachten. Warum schreibt Hald? Ist das Motiv verallgemeinerbar? Wie schreibt er diese Gedichte? Ist das typisch für die Lyrik? In seinen Vergleichen mit der Malerei weist er die Sprache und ihre Leistungen als Besonderheit der Literatur aus – die bestimmte Ansprüche der bildenden Kunst („Kontemplation“) nicht übertragbar machen, weil Sprache immer Reflexion ist. Und ohne Sprache bleiben Bilder stumm.
• Das Prinzip der expliziten und impliziten Intertextualität ist sehr gut zu erarbeiten (zur Theorie vergleiche Richard Aczel: Intertextualität und Intertextualitätstheorien, in: Ansgar Nünning [Hg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 2004 [3. Aufl.], Seiten 299 bis 301). Der Autor zitiert andere Autoren, etwa im Motto, im Text, aber er übernimmt auch allgemeine – oder nur ihm – bekannte Textstellen anderer Autoren. Worte sondern zwar im Alltag aus den diffusen Eindrücken das Gemeinte aus, aber sie erweitern auch das konventionelle (scheinbar definierte) Sprechen, indem sie Mitgemeintes transportieren. Die Gedichte Halds sind teilweise ein „Mosaik aus Zitaten“ (vergleiche Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe [Hg.]: Literaturwissenschaft und Linguistik III, Frankfurt am Main 1972, Seiten 345 bis 375, hier: S. 345).

Volker Ladenthin (Bonner Zentrum für Lehrerbildung an der Universität Bonn)

Ich danke Dr. Hans-Michael Tappen (München) für die Vermittlung dieser Rezension.