Es war Mitte Juli: Sonntagsausklang bei Apfelwein, Handkäs und grüner Soße vor der Alten Wache in Frankfurt. Eine Gedenktafel erinnert dort heute an den Frankfurter Wachensturm und an die Bedeutung des Ortes im Rahmen der Freiheitskämpfe des neunzehnten Jahrhunderts. Geschichtliche Erinnerung ist notwendig. Denn Zukunft braucht Herkunft und Identität. Doch wer vor der Alten Wache sitzt und den Blick schweifen lässt, wird zugleich nachdenklich. Wie lieblos und traditionsvergessen wurde die Wahlstadt der römischen Könige, später dann auch Krönungsort der deutschen Kaiser, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut. Das Stadtpalais Thurn und Taxis, die Paulskirche, die Alte Wache, der Eschersheimer Torturm oder die Bockenheimer Warte … – sie wirken nur noch wie traurige Versatzstücke inmitten einer gesichtslosen, wenig einladenden Großstadtarchitektur, die einmal dem Ideal der autogerechten Stadt huldigte.
Der Eindruck, der sich auf der Terrasse vor der Alten Wache einstellt, wird zum Sinnbild eines Landes, das seine freiheitlichen Traditionen vielfach vergessen zu haben scheint, das meint, auf seine überkommene Identität verzichten zu können – und diese ersetzt durch eine neue Zivilreligion der Diversität und Buntheit. Die Regenbogenflagge ist mittlerweile quasi zum staatlichen Hoheitssymbol avanciert und darf ganz offiziell auf Amtsgebäuden wehen. Die Realität hingegen sieht anders aus.
Die Folgen einer auf Spaltung, Ausgrenzung und aggressive Impfnötigung setzenden Coronapolitik sind keineswegs überwunden, geschweige aufgearbeitet – und niemand weiß, ob sich Ähnliches nicht im kommenden Herbst und Winter erneut wiederholen wird. Querdenken gilt nicht mehr als Ausdruck von konstruktiver Kritik und notwendiger Suche nach Innovation, sondern als ein Verdachtsfall verfassungsfeindlicher Gesinnung und Delegitimierung des Staates.
Anlass der Reise nach Frankfurt war die Mitgliederversammlung des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit, gegründet als Reaktion auf eine zunehmende „Cancel Culture“ und Löschkultur hierzulande. Die Liste an Themen, mit denen sich jemand verdächtig machen kann, wird immer länger. Die Freiheitsräume im öffentlichen und akademischen Diskurs werden zunehmend enger.
In einzelnen Bundesländern können „Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenzen“, gemeint sind Gesinnungsdelikte, künftig bei sogenannten Meldestellen dokumentiert werden. Nein, Denunziantentum werde dadurch nicht gefördert, beeilt man sich zu versichern. Die Träger würden schließlich „von einer professionellen Prozess- und Organisationsbegleitung unterstützt“. Klingt gut, macht es aber nicht besser. Wer Deutsche hingegen als „Kartoffeln“ verächtlich macht, empfiehlt sich für höchste Staatsämter. Die Mehrheit des Bundestages stört sich an einer solchen Gesinnung offenbar nicht.
Die Rede vom vermeintlich „besten Deutschland, das wir je hatten“, erweist sich zunehmend als Pfeifen im Walde. Denn unser Land steckt in der Krise. Selten haben sich in so rascher Folge Gewissheiten einer vermeintlich alternativlosen, utopistisch-moralisierenden Politik aufgelöst. Unser Land ist verwundbar geworden: mangelnde Verteidungsfähigkeit, Energiekrise, Inflation, Stabilitätsverlust des Euro, Fachkräftemangel … Thilo Sarrazin wollte sein Diplom in Volkswirtschaftslehre zurückgeben, wenn nicht binnen zehn Jahren eine Inflation auf die von ihm kritisierte Eurorettungspolitik folgen sollte.
Ja, es hat warnende Stimmen gegeben, die man im Juste Milieu nicht hören wollte. Andreas Zimmermann sieht Deutschland sogar schon auf einem Weg Richtung Schwellenland: „eine Entwicklung, die sich am Zustand von Straßen, öffentlichen Gebäuden und der generellen Infrastruktur mittlerweile bereits recht deutlich abzeichnet“. Wenn wir nicht gegensteuern, sind Wohlstand und Leistungsfähigkeit, Stabilität und Sicherheit unseres geliebten Vaterlandes deutlich in Gefahr.
Gemeinsam geteilte Traditionen, Überzeugungen und Werte halten uns im Alltag den Rücken frei, bewahren davor, unser Zusammenleben ständig neu verhandeln zu müssen, und schaffen jenen Freiraum, der uns geistig vital und produktiv sein lässt. In Krisenzeiten wie diesen könnten wir es noch bitter bereuen, Herkunft und Identität so wenig wertgeschätzt, Kultur und Zusammenhalt unseres Landes leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu haben.
Die starke Bindekraft nationaler Identität zeigt sich mitunter erst dann, wenn andere Mechanismen versagen: Sie hilft, so drückt es Francis Fukuyama aus, „Gesellschaften, ihre Tiefpunkte zu überstehen, wenn die Vernunft allein zu Verzweiflung über die Arbeit ihrer Institutionen führen würde.“ Sollte uns ein solcher Anlass im Winter bevorstehen? Noch weiß keiner, wie unser Land mit einer ernsten Mangel- und Krisensituation umgehen wird. Noch weiß auch keiner, welcher gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen „von länger hier Lebenden“ und Zugewanderten dann aktiviert werden kann – oder eben auch nicht. Vielleicht könnten wir uns dann noch nach Identität und Leitkultur sehnen, die so lange kleingeredet oder verdächtigt wurden.