Index theologicus ./. Die Neue Ordnung: Landtag Baden-Württemberg weist Petition ab

Die Universitätsbibliothek der Eberhard-Karls-Universität Tübingen betreut im Rahmen des Sonder­sammel­gebietsplans der Deutschen Forschungsgemeinschaft das Sondersammelgebiet Theologie und übernimmt damit für dieses Fachgebiet eine wichtige Funktion bei der Literaturversorgung, weit über Baden-Württemberg hinaus. Ein wichtiges Instrument für die Auswertung und Dokumentation theologischer Fachliteratur ist der Index Theologicus. Internationale Bibliographie für Theologie und Religionswissenschaft. Dienstanbieter ist die Universitätsbibliothek Tübingen, in Kooperation mit dem Programm „Fachinformationsdienste“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Eine Petition (Nr. 17/00154) an den Landtag Baden-Württemberg aus diesem Jahr begehrte die Wiederaufnahme der sozialethischen Zeitschrift Die Neue Ordnung, herausgegeben vom Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e. V. in die Liste der im Index Theologicus ausgewerteten Zeitschriften.

Die Neue Ordnung, begründet 1946, zählt innerhalb der katholischen Theologie zu den zentralen sozialethischen Fachzeitschriften. In ihr werden wichtige Debatten des Faches geführt. Im März 2019 veröffentlichte die Fachgesellschaft AG Christliche Sozialethik unter dem Titel „Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik zu der Zeitschrift ‚Die Neue Ordnung‘“ einen Boykottaufruf gegen die Zeitschrift.

Die „Erklärung“ der AG Christliche Sozialethik wurde in der Wochenzeitung Die Tagespost von rund sechzig Wissenschaftlern, Publizisten und Autoren der „Neuen Ordnung“ als wissenschaftlich unbegründet zurückgewiesen. Das unabhängige Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stuft den Boykottaufruf der AG Christliche Sozialethik gegen Die Neue Ordnung in seiner Dokumentation als Ausdruck von „Cancel Culture“ und damit als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit ein: „Die Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik veröffentlicht eine Erklärung zu der bekannten und profilierten Zeitschrift „Die Neue Ordnung“, die das von Dominikanern geleitete Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg herausgibt. In der Erklärung heißt es, die Zeitschrift sei „in ein populistisches und extrem rechtes Fahrwasser geführt“ worden, übernehme insbesondere in den Editorials kritiklos die Stereotypen und Ressentiments sowie die Ausgrenzungen und Abwertungen des Rechtspopulismus und der extremen Rechten. Zudem: „Auch viele Artikel der „Neuen Ordnung“ nehmen wir mangels wissenschaftlicher Substanz nur noch als zugespitzte Meinungsäußerungen wahr.“ Deshalb handele es sich nicht mehr um eine sozialethische Zeitschrift, vielmehr stelle sie sich „außerhalb der Grenzen eines seriösen Fachdiskurses der katholischen Sozialethik“. Die Verfasser der Erklärung „gehen davon aus, dass in Zukunft keine wissenschaftlichen Sozialethikerinnen und Sozialethiker in der „Neuen Ordnung“ mehr publizieren werden.“ Vertreter anderer Fächer werden eingeladen, sich dieser Entscheidung anzuschließen. Weiterhin gebe es „keinen Grund, die Zeitschrift weiterhin in wissenschaftlichen Bibliotheken zu führen“. Dem Dominikanerorden wird empfohlen, „Wege zu suchen, den Schaden für den Orden wie auch für die Sozialethik zu begrenzen“. Eine von etwa 70 Autoren der Zeitschrift unterzeichnete Gegenerklärung „Substanzieller Dialog statt Stigmatisierung und Ausgrenzung“ führt nicht zu einem solchen (substantiellen Dialog). – In der Folge der Erklärung nimmt die Universitätsbibliothek Tübingen, die im Bereich der Theologie eine zentrale Rolle spielt, die „Neue Ordnung“ aus dem Index theologicus heraus. Damit sind die in der „Neuen Ordnung“ publizierten Positionen öffentlich kaum noch sichtbar. Proteste gegen die Entscheidung der Universitätsbibliothek Tübingen bleiben erfolglos. (2019)“ (Quelle: Dokumentation des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit).

Das Vorgehen der Universitätsbibliothek Tübingen hat im Rahmen des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit internationale Beachtung gefunden. Diese Wahrnehmung belegt auch das hohe Interesse, das eine Stellungnahme zum Vorgehen der Universitätsbibliothek Tübingen mit dem Titel „Against academic censorship“ im internationalen Wissenschaftsportal Academia.edu gefunden hat: The AG katholische Sozialethik which represents the senior researchers of catholic social ethics in German speaking countries has published an open attack against the editor of the renowned journal »Die Neue Ordnung« considering that this journal be removed from the libraries and suggesting that the editor (Pater Ockenfels) be reprimanded by his order. The index librorum prohibitorum comes up again … Here is an appeal to the AG to take up again and to enjoy the risk of an open academic debate. If points of view proposed in »Die Neue Ordnung« are wrong, misleading, even ethically suspect, then demonstrate that by good research! The better view will be successful in a free debate without censorship!”

Die  Universitätsbibliothek Tübingen hat aufgrund der umstrittenen, politisch einseitigen und von anderen wissenschaftlichen Akteuren als wissenschaftsfeindlich eingeschätzten „Erklärung“ der AG Christliche Sozialethik „Die Neue Ordnung“ aus der Liste der im Index Theologicus ausgewerteten Zeitschriften herausgenommen. Die Petenten sind der Ansicht, dass keine unvoreingenommene, unabhängige, differenzierte und ergebnisoffene Bedarfsprüfung innerhalb der Fachcommunity vorgenommen wurde. Das von der Abteilungsleitung Fachinformationsdienste verantwortete Verfahren der Bedarfsprüfung und Entscheidungsfindung sei im Fall der „Neuen Ordnung“ als intransparent und einseitig zu werten; es verletzt die Verpflichtung, unterschiedliche Richtungen innerhalb einer Fachcommnity und innerhalb eines pluralen Wissenschaftsdiskurses hinreichend zu berücksichtigen und ausgewogen abzuwägen. Da der Index Theologicus die wichtigste Bibliographie zur Dokumentation und Recherche theologischer Fachliteratur darstellt, bedeute diese politisch motivierte, wissenschaftlich nicht begründete Entscheidung der Universitätsbibliothek Tübingen sowohl einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der Autoren der „Neuen Odnung“ als auch in die Freiheit des theologisch-sozialethischen Diskurses. Beiträge und Positionen, die in der „Neuen Ordnung“ publiziert sind, würden durch diese Entscheidung diskriminiert und würden in der Folge im theologischen Fachdiskurs kaum noch wahrgenommen. Eine Universitätsbibliothek dürfe im Rahmen ihres bibliothekarischen Auftrags nicht einseitig Partei nehmen und wissenschaftliche Diskurslenkung betreiben, indem wissenschaftlich unerwünschte Positionen bewusst ausgeschlossen werden.

Die Universitätsbibliothek Tübingen besitze als öffentliche Institution des Landes Baden-Württemberg einen der Allgemeinheit verpflichteten Auftrag. Durch ihre einseitige Parteinahme für einen umstrittenen politischen Boykottaufruf, der als Ausdruck einer wissenschaftsfeindlichen „Cancel Culture“ zu werten sei, verletze die Universitätsbibliothek Tübingen ihren neutralen Dokumentationsauftrag sowie ihre Verpfllichtung, das Schriftgut innerhalb der Theologie möglichst umfassend, plural und diskriminierungsfrei auszuwerten und zu bibliographieren.

Ferner beschädige die Universitätsbibliothek Tübingen durch ihre parteiische Entscheidung, dem Boykottaufruf wider „Die Neue Ordnung“ Folge zu leisten, das hohe Ansehen des Index Theologicus, das sich dieses bibliographische Instrument weltweit erarbeitet hat, und gefährde dessen Brauchbarkeit mindestens für das disziplinäre Fachgebiet der Sozialethik.

Die Petition wurde im November 2021 mit Landtagsdrucksache 17/1069 als unbegründet zurückgewiesen. Dennoch bestehen weiterhin Zweifel im Umgang mit der Wissenschaftsfreiheit. Der Boykottaufruf wie auch die beratende Rolle wissenschaftlicher Gesellschaften im Rahmen des Index theologicus zeigt, welch problematische Rolle Fachgesellschaften im wissenschaftlichen Diskurs spielen können. Wer das individuelle Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, das nicht an einen institutionellen Status seines Trägers gebunden ist, wirksam schützen will, darf strukturelle Fragen nach dem Einfluss kollektiver Akteure innerhalb des Wissenschaftssystems nicht vernachlässigen.

Gesegnete Adventsgrüße

Adventliche Erwartung ist die Freude über eine unendlich verheißungsvolle, uns von Gott zugesagte Zukunft: ein Neuanfang, bei dem sich Befreiung und Erlösung verbinden.

Diese Zukunft ist nicht fern von uns. Als Christen glauben wir, dass diese Zukunft bereits begonnen hat: in Jesus Christus. Er selbst hat die Prophetenworte, die uralten Verheißungen Israels, zum Maßstab gemacht, an dem wir erkennen können, dass Gottes Reich bereits unter uns begonnen hat – wenn er den Jüngern des Johannes erklärt: „Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht“ (Mt 11, 4).

Als Christen leben wir schon heute in der Zukunft Gottes. Und zugleich wissen wir, dass diese noch nicht vollendet ist. Noch liegen Kummer und Seufzen über der Schöpfung. Aber wir haben die feste Zukunft, dass diese nicht das letzte Wort haben werden. Die Zukunft, von der Jesaja kündet, ist bereits unwiderruflich angebrochen. Daher gehört zum Advent beides – der Ruf: Komm, o Herr, und erlöse uns!, genauso wie die Gewissheit: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Freut euch! Denn der Herr ist nahe.

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern und Leserinnen meines Weblogs in politisch dunkler Zeit eine gesegnete, hoffnungsvolle Adventszeit, Ihr Axel Bernd Kunze

Vorankündigung: Bildung und Religion. Die geistigen Grundlagen des Kulturstaates

Im Vorjahr erschien der Band „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“ (von Alexander Dietz, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze und Ludger Schwienhorst-Schönberger; Leipzig 2020), der im September 2020 durch die Theologische Literaturzeitung als „Buch des Monats“ ausgezeichnet wurde.

Der folgende Titel schließt an den vorstehend genannten Band an:

Axel Bernd Kunze: Bildung und Religion. Die geistigen Grundlagen des Kulturstaates (LIT-Verlag 2022).

Pädagogische und religiöse Fragen hängen eng zusammen. Dieses Verhältnis bleibt auch für den weltanschaulich neutralen Staat bedeutsam. Denn zur Sorge um dessen Kontinuität gehört die Sorge um seine kulturelle Wurzeln. Diese sind politisch-geschichtlich gewachsen und religiös geprägt. Der Band zeigt auf, welch bleibende Bedeutung Bildung und Religion auch in Zeiten gesellschaftlicher Pluralität für einen freiheitlichen, vitalen und tragfähigen Kulturstaat besitzen. Wo die Sorge um seine geistigen Grundlagen erlahmt, werden über kurz oder lang kulturelle und soziale Verteilungskämpfe ein­setzen.

Der Verfasser ist Sozial- und Bildungsethiker. Er lehrt als Privatdozent für Erziehungswissenschaft in Bonn und ist als Schulleiter tätig.

Für Rückfragen, Anregungen oder die Vormerkung von Rezensionsexemplaren wenden Sie sich bitte an: Kunze-Bamberg[at]t-online.de

Vorstellung des neuen Titels:

Der Band will deutlich machen, welche bleibende Bedeutung Bildung und Religion auch unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität für einen freiheitlichen, vitalen und tragfähigen Kulturstaat besitzen. Wo die Sorge um seine geistigen Grundlagen erlahmt, werden über kurz oder lang kulturelle und soziale Verteilungskämpfe ein­setzen.

Inhaltsverzeichnis:                      

Präludium

Teil I:    Christliche Burschenschaften – eine historische Vergewisserung

Teil II    Dreifache Annäherung an den Bildungsbegriff

Teil III   Bildung und Religion brauchen einander

Teil IV   Freiheit in der Bildung – ein Überblick zu ihren menschenrechtlichen Grundlagen in Europa

Teil V    Zum pädagogischen Umgang mit Religion in der pluralen Gesellschaft

Teil VI   Der Kulturstaat braucht eine normative Grundlage

Teil VII  Didaktische Anregungen I – Interreligiöse Bildung

Teil VIII Didaktische Anregungen II – Religionspropädeutik

Teil IX   Didaktische Anregungen III – Diakonische Bildung

Bildungsethisches Postludium

Anliegen des Bandes:

In der jüngeren sozialethischen Debatte zeigt sich vielfach ein unreflektiertes Verhältnis gegenüber dem Staat: Zum einen ist eine Staatsvergessenheit zu beobachten, welche Fragen nach staatlicher Leistungsfähigkeit ausblendet. Der Fokus liegt vor allem auf Fragen der Gesellschaftsreform; der Staat interessiert allenfalls noch in Gestalt des Sozialstaates. Zum anderen ist mit Beginn der Coronakrise eine Rückkehr des Staates zu beobachten, dem nun auf einmal weitreichende Grundrechtseingriffe zugebilligt werden. Eine angemessene sozialethische Debatte hierüber fehlt bisher.

Der vorliegende Band reflektiert aus einer vorrangig bildungsethischen Perspektive über Rolle und Aufgabe des Kulturstaates. Gefragt wird, welche Verantwortung der Kulturstaat für die Sicherung sozialethischer Orientierungswerte trägt. Gleichzeitig wird gefragt, wo um der Freiheit willen der Rechtsgüterschutz des Staates in religiös-kulturellen Belangen notwendig begrenzt bleiben muss.

Inhaltszusammenfassung:

Pädagogische und religiöse Fragen hängen eng zusammen. Wer sich bildet, ist mit dem Kernbereich seiner Person daran beteiligt. Daher ist das Verhältnis zwischen Bildung und Religion ein besonders sensibler Bereich, der nicht allein eine Aufgabe sozialstaatlicher Organisation darstellt. Bei der Ausgestaltung des Bildungsbereichs erhält der Staat weitreichenden Einfluss auf die personale Integrität des Einzelnen, sowohl in geistig-intellektueller als auch in psychisch-emotionaler und moralisch-religiöser Hinsicht.

Die freiheitliche Verfassung liefert zwar Orientierungs­maßstäbe; wie deren Ziele aber innerlich verwirklicht werden, bleibt Sache des mündigen Bürgers. Für das freiheitliche Gemeinwesen ist daher ein Trägerpluralismus im Bildungs­bereich unverzichtbar. Dem Bürger bietet dies die Möglichkeit der Wahl, bedingt aber auch den Zwang zur Entscheidung. Erst aus dem Vorhandensein sich überschneidender, auch konkurrierender Orientierungswerte gewinnt die freiheitliche Verfassungsordnung des Staates „Maßstäbe für Verantwortung“ und inhaltliche Erfüllung. Ein die Freiheit seiner Bürger absorbie­render Staat entspräche nicht dem neuzeitlichen Freiheitsideal und der Würde des Menschen. Menschenrechtlich geschützt ist der individuelle Anspruch, sich frei zu vergemeinschaften und Bildung in nichtpolitischer, beispielsweise konfessioneller, Form bestimmen zu können. Gerade konfessionelle Schulen sind ein wichtiges Instrument, die menschenrechtlich geschützte Wahlfreiheit im Bildungsbereich praktisch einzulösen.

Wie der Zusammenhang zwischen Bildung und Religion gesehen und ausgestaltet wird, bleibt auch für den weltanschaulich neutralen Kulturstaat von entscheidender Bedeutung.

Zur Sorge um die Kontinuität des Staates gehört auch die Sorge um dessen kulturelle Grundlagen. Und diese lassen sich nicht abstrakt bestimmen. Sie sind politisch-geschichtlich gewachsen und religiös geprägt, wie in einer historischen Vergewisserung am Beispiel der christlich-burschenschaftlichen Bewegung zu Beginn des Bandes deutlich wird (Teil I). Die Überlegungen führen an die Wiege des modernen Kultur- und Verfassungsstaates und zeigen, wie eng im Prozess der Nationalstaatsbildung politische, päd­agogische und religiöse Fragestellungen miteinander verwoben waren.

Schließlich wird in einer dreifachen Annäherung heraus­gearbeitet, welche Bedeutung der Bildung in  der Moderne für die Personalität wie Sozialität des Einzelnen zufällt (Teil II). Bildung wird dabei als Befähigung zur Selbstbestimmung verstanden.

Ein reflektierter Glaube wird ebensowenig auf Bildung verzichten können, wie Bildung die menschlichen Fragen nach Sinn abschließend beantworten kann. Vielmehr brauchen Bildung und Religion einander (Teil III).

Der moderne Rechts- und Verfassungsstaat, der nicht über­griffig werden will, tut gut daran, die religiösen Bindungen der Einzelnen zu achten und die Kultivierung menschlicher Freiheit im Bildungsprozess verfassungs- und grundrechtlich zu sichern. Wie sich diese Freiheitsverpflichtung rechtlich konkretisiert, verdeutlicht ein Überblick zum Menschenrechtsschutz  in Europa  (Teil IV).

Die politische Gegenwartssituation ist durch wachsenden kulturell-religiösen Pluralismus gekennzeichnet. Aus diesem folgen auch in pädagogischer Hinsicht besondere Heraus­forderungen, die den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit religiösen Fragen und Überzeugungen betreffen (Teil V).

Aber auch der weltanschaulich plurale Kulturstaat tut gut daran, sich seiner kulturellen, religiös geprägten Grundlagen immer wieder zu versichern, wenn das Gemeinwesen nicht auseinanderfallen soll (Teil VI).

Den Abschluss des Bandes bilden didaktische Anregungen, die aufzeigen wollen, wie religiöse Bildung im Rahmen des allgemeinen Bildungsauftrags heute gelingen kann: im Rahmen interreligiöser Bildungsprozesse (Teil VII), in Gestalt einer Religionspropädeutik, die zu religiöser Wahrnehmungs- und Sprachfähigkeit sowie zur Auseinandersetzung mit religiösen Fragen hinführen will (Teil VIII), und in Form diakonischer Bildung, die sich als Ausdruck politisch-gesellschaftlicher Diakonie im Bildungsbereich versteht (Teil IX).

Vorankündigung: Jahrmarkt der Befindlichkeiten

Im Frühjahr 2022 wird ein neuer streitbarer Titel des Berliner Erziehungswissenschaftlers Bernd Ahrbeck erscheinen:

Bernd Ahrbeck: Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft, Springe am Deister: zu Klampen 2022.

Aus der Verlagsankündigung: Einen höheren Grad an Gleichberechtigung als in unserer Gesellschaft hat es kaum je in der Geschichte gegeben. In den gegenwärtigen Debatten jedoch scheint es häufig so, als seien noch nie so viele Menschen diskriminiert worden wie heute. Beständig drängen neue Interessengruppen mit Forderungen nach Entschädigung an die Öffentlichkeit, ein regelrechter Wettkampf, wem die größte Opferrolle gebührt, ist entbrannt. Befindlichkeit ist Trumpf. Mit den gesteigerten Empfindlichkeiten wächst das Bedürfnis nach Deutungshoheit und Sozialkontrolle. Gegen die Interessen und Lebensvorstellungen einer überwältigenden Mehrheit streben kleine Gruppierungen, getrieben von politischem Sendungsbewusstsein, den fundamentalen gesellschaftlichen Wandel und ein neues kulturelles Selbstverständnis an. Bernd Ahrbeck zieht eine ernüchternde Bilanz dieser Entwicklung und verweist auf ihre beachtliche Sprengkraft.

Der Verfasser ist Erziehungswissenschaftler, Diplompsychologe und Psychoanalytiker. Er lehrt als Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin. Von 1994 bis 2016 hatte er einen Lehrstuhl am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin inne.

Kommentar: „Vom Leitmedium zum Armutszeugnis“

Im Sommer habe ich mich von meinem Abonnement jener Zeitung, hinter der angeblich nur kluge Köpfe stecken, verabschiedet. Mittlerweile sind die klugen Köpfe auf der Flucht: vor einer Zeitung, die sich vom bürgerlichen Leitmedium zum einseitigen Scharfmacher, vom einem Medium intellektueller Hintergrundberichterstattung zum einseitigen Regierungsblatt, vom journalistischen Flaggschiff zu einem Beispiel des Qualitätsverfalls gewandelt hat. Jesko Matthes bringt dies treffend in einem aktuellen Beitrag zum Ausdruck: https://www.achgut.com/artikel/faz_vom_leitmedium_zum_armutszeugnis

War der Qualitätsverfall schon länger sichtbar, vor allem im Politikbuch der Zeitung, hat die Coronapolitik der F.A.Z. den Rest gegeben. Wer sehen will, wie Bürgerlichkeit im Land zusehends verfällt, findet im Blatt aus Frankfurt ein hervorragendes Beispiel. Zeit, sich zu erinnern, welche Widerstandskraft freiheitlich verstandene Bürgerlichkeit besitzen kann.

Odo Marquardt hat immer wieder darauf hingewiesen, so Norbert Bolz schon vor über zehn Jahren: „Denn zu nichts braucht man heute mehr Mut als zur Wahrnehmung des Positiven. Und damit erweist sich der Bürger auch als der letzte Träger der Aufklärung, der das ‚sapere aude‘ in eine Lebenspraxis der Freiheit umsetzt. Kants Mut zum Selberdenken konkretisiert sich heute als Mut zur Bürgerlichkeit. So hat Odo Marquard den Begriff Zivilcourage übersetzt. Es gibt noch Ritterlichkeit, auch wenn es keine Ritter mehr gibt. Und es gibt noch Bürgerlichkeit, auch wenn es keine bürgerliche Gesellschaft mehr geben sollte“ (Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht, München 2010, S. 136).

Erstes Bamberger Opfer des Nationalsozialismus: Wilhelm (Willy) Aron (geboren 1907 in Bamberg; ermordet 1933 im KZ Dachau)

Justizreferendar und begeisterter Waffenstudent, geprägt durch die sozialdemokratische und jüdische Jugendbewegung

Vortrag gehalten am 20. November 2021 unter dem Titel „Willy Aron – von Würzburg nach Dachau“ auf der Tagung „Jüdische Korporierte, jüdischen Korporationen“ der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und des Arbeitskreises der Studentenhistoriker.

 „Wenn man heute in Bamberg der Opfer des Nazismus gedenkt, dann ist an erster Stelle ein Name zu nennen – Willy Aron. Er war der erste Bamberger, der im Kz. Dachau sein Leben für Recht und Freiheit lassen mußte.“ (1) – so der Bamberger SPD-Politiker Georg Grosch, 1947, der ebenso wie Wilhelm (Willy) Aron der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) angehörte und nach der Machtergreifung für kurze Zeit gleichfalls ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert wurde. (2)

Aron trat mit vierzehn Jahren in die SAJ ein und wurde im Wintersemester 1925/26 in Würzburg als Fuchs in die paritätische Studentenverbindung Wirceburgia aufgenommen. (3) Der Bund wurde am 5. November 1885 als Wissenschaftlich-gesellige Vereinigung mit den Farben rot-blau-weiß und unter dem Wahlspruch Amicitia – scientia – veritas! gegründet. Die Tradition der Wirceburgia lebt heute in der Schülerverbindung Abituria aller Würzburger Gymnasien weiter, die 1993 ihren Namen um den Bestandteil „Wirceburgia“ erweiterte (https://www.abituria.org).

Alte Herren der Wirceburgia waren maßgeblich an der am 31. August 1919 in Berlin erfolgten Gründung des Burschenbunds­convents beteiligt: „Als einziger farbentragender und schlagender Verband vertrat er nicht nur den Grundsatz der Parität, sondern bekannte sich auch offen zur neuen politischen Ordnung der Weimarer Reichsverfassung.“ (4)

Der Burschenbund Wirceburgia erfuhr in den Zwanzigerjahren der Weimarer Republik trotz erlebter Ausgrenzung von Seiten der Würzburger Verbindungen eine Blütezeit und konnte als erster Bund im Burschenbundsconvent 1924 ein eigenes Korporationshaus in der Mergentheimer Straße 22 in Würzburg erwerben, das 1935 abgerissen wurde. (5)

Politischer Werdegang Willy Arons

Der jüdische Sozialdemokrat, Waffenstudent und Justizreferendar Willy Aron (geboren am 3. Juni 1907 in Bamberg, ermordet am 17./19. Mai 1933 im Konzentrationslager Dachau) war das erste Opfer, das der Nationalsozialismus aus Bamberg forderte. Der genaue Todestag ist bis heute strittig. Die Verwaltung des Konzentrationslagers Dachau gab den 19. Mai an, weitere Zeugen nannten später den 17. Mai.

Willy Aron, Sohn des jüdischen Justizrates Albert Aron und dessen Frau Berta (6) (beide kamen später ebenfalls durch den Nationalsozialismus um (7) ), engagierte sich in der jüdischen und sozialistischen Jugendbewegung. Nicht zuletzt die Nationalsozialisten verspotteten Aron, der auch als Student und Justizreferendar ein aktiver Funktionär der Bamberger SAJ blieb, als  „Stehkragenproletarier“. Er hielt in der SAJ Bildungsveranstaltungen ab, nahm an Wanderungen und Jugendtagen teil. Auch in der jüdischen Jugendbewegung hatte Aron Funktionen inne, so leitete er die Bamberger Ortsgruppen der Deutsch-Jüdischen Jugend (DJJ) und des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes „Kameraden“. (8)

Schon früh geriet der kämpferische Jungsozialist ins Visier der Nationalsozialisten. Hierzu beigetragen hatte nicht zuletzt, dass Aron im Prozess um die sogenannte „Schlacht am Schillerplatz“, eine von den Nationalsozialisten am 31. Juli 1932, dem Abend der Reichstagswahl, initiierte Massenschlägerei in einem bekannten Bamberger Arbeiterlokal, der „Restauration Nöth“ (heute eine bekannte Bamberger Steinofenpizzeria), die Verteidigung mehrerer Sozialdemokraten übernommen hatte. (9) Der Prozess, den Aron mit hohem persönlichen Einsatz führte, brachte ihm eine starke Publizität über die Bamberger Öffentlichkeit hinaus ein.

Ob seine Führungstätigkeit innerhalb des Bamberger Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold oder seine Äußerung, die Nationalsozialisten hätten den Reichstag selbst in Brand gesteckt, den äußeren Anlass für seine frühe Verhaftung gab, ist umstritten. Auf jeden Fall gehört Willy Aron, den die Nazis einen „Roten Hund“ nannten, in Bamberg zu den Ersten, die das neue Regime am 10. März 1933 aus politischen Gründen in „Schutzhaft“ nehmen ließ, wie es verschleiernd in der Sprache der Nationalsozialisten hieß. (10) Aron stand vermutlich kurz vor seiner zweiten juristischen Staatsprüfung.

Im Konzentrationslager Dachau, wo er am 15. Mai eintraf, wurde Aron, der durch seine Körpergröße und seine roten Haare auffiel (11), auf äußerst brutale Weise misshandelt. Zeugen berichteten später, dass dem bereits Fieberwahnsinnigen immer wieder von neuem auf die eiternden Wunden geschlagen wurde. (12) Thomas Dehler wies später auf die besondere Rolle hin, die Lorenz Zahneisen für Arons Schicksal gespielt haben soll: Zahneisen, seit 1922 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), war deren Kreisleiter in Bamberg und später ab 1934 dortiger Oberbürgermeister. Er soll nicht nur für die Schutzhaft Arons verantwortlich gewesen sein, sondern durch einen „Uriasbrief“ auch noch seine dortige Behandlung und rasche Ermordung provoziert haben. (13)

Die SS (14), deren Macht zu dieser Zeit noch nicht hinreichend gefestigt war, versuchte, den Mord an Aron zu vertuschen, und befürchtete, er könnte zum jüdischen Märtyrer werden. Als der Sarg in Bamberg eintraf, durfte er bis zur Beisetzung am 22. Mai nicht mehr geöffnet werden. Der Sarg soll ungewöhnlich leicht gewesen sein, was erhebliche Zweifel am Inhalt nährte.

Im März 1948 begann die strafrechtliche Verfolgung des Falles. (15) Die Täter brachten bis zum Schluss kein Schuldgefühl auf. Einer der beiden Angeklagten, Hans Steinbrenner, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die er bis 1962 absitzen musste; er beging 1964 Selbstmord. Das Gericht hatte in diesem Fall in den wiederholten Misshandlungen Vorsätzlichkeit erkannt und daher auf Mord befunden. Der zweite Angeklagte, Johann Unterhuber, wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen, aber später – 1970 – wegen Beihilfe zum Mord an drei jüdischen Häftlingen eines anderen Lagers zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ein dritter mutmaßlicher Täter, Johann Kantschuster, war vermutlich im Zweiten Weltkrieg gefallen.

Andreas Dornheim spricht in seiner Biographie über Aron davon, „dass viele Nationalsozialisten zumindest ahnten, dass sie mit Wilhelm Aron nicht nur einen unschuldigen, sondern auch einen begabten Menschen mit einem gewissen Charisma umgebracht haben“ (16). Erhalten geblieben sind von Aron drei Fotoaufnahmen: seine Immatrikulationsfoto in den Universitätsarchiven Würzburg und München, und ein Gruppenbild im Kreis der SAJ, das sich im Archiv der Bamberger SPD befindet.

Willy Arons Grab befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Bamberg. Schon kurz nach dem Krieg beginnt die öffentliche Erinnerung an Aron, auch dank des publizistischen Einsatzes Thomas Dehlers. Heute erinnern in seiner Heimatstadt die nach ihm benannte Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg e. V. (gegründet 2003 anlässlich des siebzigsten Todestages Arons (17) ), drei „Stolpersteine“ (18) des Kölner Künstlers Gunter Demnig (vor dem Anwesen Luitpoldstraße 32, das die Familie nach mehrmaligen Umzügen innerhalb der Stadt nach Geburt des einzigen Kindes Wilhelm bezog) (19), eine Aronstraße im Bamberger Osten, eine Gedenktafel im Justizgebäude am Wilhelmsplatz (enthüllt am 8. November 2000), eine Wanderausstellung (20) sowie ein Mahnmal im Harmoniegarten (21) an den kämpferischen Sozialdemokraten und Waffenstudenten.

Das von der Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg e. V. initiierte und vom Bamberger Bildhauer Albert Ultsch geschaffene Mahnmal zeigt auf drei Stelen die Büsten dreier Widerstandskämpfer, die exemplarisch die Bandbreite des Bamberger Widerstandes vertreten: Willy Aron steht für den sozialistischen, der Rechtsanwalt Hans Wölfel für den christlichen und Claus Schenk Graf von Stauffenberg für den militärisch-konservativen Widerstand. Der ursprüngliche Plan, das Denkmal auf Universitätsgelände zu errichten, wurde aufgrund von Protesten gegen dessen Konzeption, die verschiedenen Richtungen des Widerstands gemeinsam zu ehren, fallen gelassen. Das Mahnmal des Bamberger Widerstandes wurde am 25. Juni 2016 im Harmoniegarten auf städtischem Grund eingeweiht.

2. Akademischer Werdegang Willy Arons (22)

Willy Aron begann zunächst – ohne Wohnortwechsel – sein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften im Mai 1925 in Erlangen, wechselte aber, vielleicht wegen des latent antisemitischen Klimas dort, nach nur einem Semester nach Würzburg. Hier wurde er, den sie wegen seiner politischen Auffassung mit Spitznamen „Ilja Andrewitsch“ riefen, Waffenstudent des paritätischen Burschenbundes Wirceburgia.

Die Reception zum Burschen erfolgte nach zwei genügenden Bestimmungsmensuren auf dem Semesterantrittsconvent im Sommer 1926. Sein Leibfuchs Günther Berger berichtete später: „Mir wurde mein Leibbursch ein wertvoller Freund im Gedankenaustausch. Im Zweifel hätte ich mit einem anderen Leibburschen nur über Banalitäten sprechen können.“ (23) Günther Berger war zunächst Keilgast bei der Würzburger Turnerschaft Asciburgia gewesen, die ihm aber nicht behagte: zum einen wegen Unmäßigkeit im Trinken, zum anderen wegen des abstoßenden Judenhasses. 1896, als die Einweihung des neuen Kollegienhauses der Universität Würzburg am Sanderring mit einem Festzug gefeiert wurde, hatte Asciburgia diesen boykottiert, weil sie nach Losentscheid zwischen zwei jüdischen Verbindungen laufen sollte. (24) Berger, aus Schlesien stammend, galt unter den zumeist bayerischen Bundesbrüdern der Wirceburgia als „eine Sehenswürdigkeit“; für die Nationalsozialisten war er ein „nichtarischer Mischling ersten Grades“. Er schied nach seinem Fuchsensemester im Guten und herzlich verabschiedet wieder aus der Wirceburgia aus, da ihm eine zweite gültige Mensur fehlte und er sein Studium in seiner Heimatstadt Breslau fortsetzte, wo er dem Burschenbund Alemannia beitrat. Günther Bergers Erinnerungen an das Fuchsensemester in Würzburg wurden Ende der Neunzigerjahre im GDS-Archiv publiziert. (25)

Im folgenden Semester wurde Aron zum Zweitchargierten und damit zum Fechtwart gewählt. Als der Semesterabschlussconvent den als still, schlank und sportlich beschriebenen Burschen aus seiner Charge entließ, wurde ihm sofort die Klammerung gestattet. Zeitgleich ließ Aron sich inaktivieren, da er das Sommersemester 1927 in München verbringen wollte. Dort wurde er Verkehrsgast des Burschenbundes Südmark. Als Aron im Wintersemester 1927/28 nach Würzburg zurückkehrte, erhielt er die Aufgabe des Fuchsmajors übertragen.

Trieb ein Bundesbruder seinen Ulk mit Aron, ließ dieser so etwas keinesfalls einfach auf sich sitzen. Der Studentenhistoriker Thomas Schindler schreibt Aron die Fähigkeit zur Selbstironie zu. So zeichnete er zum 45. Stiftungsfest seiner Wirceburgia (1930) das Liederheft seines Bundesbruders Hellmann hinter seinem Namen nicht nur mit Zirkel (unter Weglassung der Klammer), sondern auch mit der zweimaligen Wiederholung seines Nachnamens – einmal auf Griechisch, einmal – wenn auch äußerst ungelenk und kaum lesbar – auf Hebräisch. (26)

Ab dem 4. März 1930 war Aron wieder dauerhaft in Bamberg ansässig. Ursprünglich preußischer Staatsbürger (die Familie kam aus dem Westerwald), war ihm erst Anfang April 1929 im Hinblick auf das erste juristische Staatsexamen die bayerische Staatsbürgerschaft verliehen worden (eine einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft wurde erst am 5. Februar 1934 geschaffen); mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten zerschlugen sich alle Hoffnungen auf eine spätere Beamtenlaufbahn. (27) Sein mutiges politisches Engagement sollte Willy Aron bereits kurz danach mit seinem Leben bezahlen.

Das Haus seiner Wirceburgia wurde in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1933 von einem SA (28)-Trupp gestürmt. Willy Aron war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Bamberger Volksblatt schloss am 23. Mai 1933 die Notiz über sein Begräbnis mit den Worten: „An der offenen Gruft sprach ein Bundesbruder des Toten herzliche Worte des Abschiedes.“ (29)

3. Sammelband „Rote Fahnen, bunte Bänder“

Ein Lebensbild Willy Arons fand auch Eingang in den 2016 vom Lassalle-Kreis, einer Vereinigung korporierter Sozialdemokraten herausgegebenen Sammelband „Rote Fahnen, bunte Bänder“ (Bonn 2016 (30) ). Die getroffene Auswahl versammelt korporierte Genossen von den Anfängen der Partei bis in die Gegenwart, vom Vormärz und dem Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zur „alten“ Bundesrepublik und zum wiedervereinigten Deutschland. Die gesammelten Lebensbilder repräsentieren unterschiedliche Strömungen und Flügel innerhalb der Partei. In ihnen zeigen sich unterschiedliche persönliche Motive oder Lebenserfahrungen, die dazu geführt haben, warum jemand zur Sozialdemokratie gestoßen ist. Nicht zuletzt zeigt sich in den zusammengetragenen Portraits aber auch die Vielgestaltigkeit des deutschen Couleurstudentums.

Die Lebensbilder sind auf Anregung des früheren Vorsitzenden des Lassalle-Kreises, Alexander Stintzing, über mehrere Jahre hinweg zunächst für die Rubrik „Korporierte Genossen“ auf den verbandseigenen Internetseiten (31) entstanden. Eine erste, noch deutlich kleinere Zusammenstellung wurde 2010 anlässlich der damaligen Lassalle-Tagung in Tübingen in Manuskriptform an die eigenen Mitglieder ausgegeben. (32) Die vorliegende Buchfassung wurde im Rahmen der Jubiläumstagung zum zehnjährigen Bestehen des Lassalle-Kreises wiederum in Tübingen auf dem Haus der AV Virtembergia vorgestellt. (33)

4. Schlusswort

Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und Barbarei, der Holocaust, die Zeit der Verfolgung und der Vernichtung veränderten das Selbstverständnis und Menschenbild der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung. Der Holocaust, das darf nicht vergessen werden, vernichtete auch die große Tradition der jüdischen Arbeiterbewegung in Europa, nicht zuletzt in Osteuropa.

Willy Aron, dem wir heute gedenken, war geprägt durch die Idee des Sozialismus und die Jugendbewegung. Er Ein Lied von 1921, das in der sozialistischen Jugend der Zwanzigerjahre sehr populär war und häufig gesungen wurde, bringt das Bild vom Menschen zum Ausdruck, von dem die Arbeiterbewegung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts erfüllt war:


Hebt unsere Fahnen in den Wind!

Sie fließen hell wie Sonnenglut

und künden, daß wir gläubig sind:

Der Mensch ist gut!

(…)
Hebt unsere Fahnen in den Wind,

hebt in die Sonne euren Mut!

Wir kämpfen, weil wir gläubig sind:

Der Mensch ist gut! (34)


Der Mensch ist von Natur aus gut, wenn er nicht durch die herrschenden Produktions-, Kapital- und Machtverhältnisse an der Entfaltung seiner Anlagen gehindert wird: Dieses optimistische Bild des Menschen wurde durch die einschneidende Erfahrung des Nationalsozialismus nachhaltig erschüttert. Die nationsozialistische Ideologie hatte brutal gezeigt, was Menschen einander antun können, wozu Menschen fähig sind. Spätere Parteiprogramme formulierten skeptischer und realistischer, so etwas das Berliner Programm der SPD von 1989: „Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren undin Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Weil der Mensch offen ist und verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, kommt es darauf an, in welchen Verhältnissen er
lebt. Eine neue und bessere Ordnung, der Würde des Menschen verpflichtet, ist daher möglich und nötig zugleich. Die Würde des Menschen verlangt, daß er sein Leben in Gemeinschaft mit anderen selbst bestimmen kann. (…) Die Würde des Menschen ist unabhängig von seiner Leistung und Nützlichkeit.“ (35)

Sein Mut, öffentlich gegen die nationalsozialistische Propaganda einzutreten, war für Willy Aron tödlich. Schließen möchte ich mit einem Zitat aus einer Gedenkrede, die am 15. Mai 2003 im Rahmen einer Gedenkfeier zum siebzigsten Todestag Willy Arons auf dem Jüdischen Friedhof in Bamberg gehalten wurde. „Menschenwürde und Freiheit müssen immer wieder von neuem gelebt und verteidigt werden. […] Nicht Festakte und Sonntagsreden, sondern der Umgang mit den Grundlagen unserer Demokratie im politischen Alltag sagt etwas über die politische Kultur in  unserem Land aus.“ (36)

Auszuloten, was dies in bedrängenden Zeiten wie den unsrigen und angesichts der Einschränkungen von Teilhaberechten sowie Freiheitseingriffe unserer Tage bedeutet, fällt nicht mehr in die Zuständigkeit des Historikers. Die Antwort muss jeder von uns selber geben.

Literatur

Günther Berger (bearb. v. Thomas Schindler): Wirceburgia 1928. Ein Fuchsensemester in einer paritätischen Verbindung, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte, Bd. 4, Köln 1998, S. 7 – 19.

Monika Bieber, Axel Bernd Kunze: Gedenkreden zum 70. Todestag Willy Arons am 15. Mai
2003, o. O. (Bamberg) 2006; Onlineausgabe verfügbar unter: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2006-3-Arbeitspapier03_2006.pdf [Zugriff: 06.03.2019].

Manfred Blänkner, Axel Bernd Kunze (Hg.): Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Ferdinand Lassalle bis heute, hg. i. A. des Lassalle-Kreises, Bonn 2016.

Andreas Dornheim: Zwischen Bürgertum, Sozialismus und NS-Gewalt – Annäherungen an Wilhelm Aron, in: Ders., Thomas Schindler: Wilhelm Aron (1907 – 1933). Jude, NS-Gegner, Sozialdemokrat und Verbindungsstudent, Bamberg 2007, S. 9 – 69.

Herbert Fuchs (Gesamtleitung), Kommt, reicht eure Hände. Falkenlieder 1, Audio-CD mit Booklet, o. O. (Hamburg) o. J., Nr. 7. Worte: A. Zwickler (1921), Weise: M. Englert.

Georg Grosch: Willy Aron, in: Gerhard C. Krischker: Bambergs unbequeme Bürger,
Bamberg 1987, S. 25 – 28.

Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin geändert auf dem Parteitag in Leipzig am 17.04.1998, herausgegeben vom. SPD-Parteivorstand, o. O. (Berlin) o. J. (1998).

Axel Bernd Kunze, Hendrik Leuker: Aufruf zur Zivilcourage. Ein Themenabend am 8. Mai
2008, o. O. (Bamberg) 2008; Onlineausgabe verfügbar unter: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2008-7-Arbeitspapier07_2008.pdf [Zugriff: 06.03.2019].

Ders.: Gedenkrede zum 70. Todestag Willy Arons am 19. Mai 1933, in: Monika Bieber, Axel Bernd Kunze: Gedenkreden zum 70. Todestag Willy Arons am 15. Mai
2003, o. O. (Bamberg) 2006, S. 8 – 11; Onlineausgabe verfügbar unter: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2006-3-Arbeitspapier03_2006.pdf [Zugriff: 06.03.2019].

Daniel Manthey, Mechthildis Bocksch, Andreas Ullmann (Hg.); Mechthildis Bocksch, Axel Bernd Kunze (Red.): „Wölfel, Aron, Stauffenberg – Formen des Widerstandes“. Ausstellungseröffnung am 7. Februar 2014, 2., korr., überarb. u. erg. Ausgabe, o. O. (Bamberg) 2018; Onlineausgabe: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2018_1-ueberarbeitetes%20und%20ergaenztes%20Arbeitspapier%202014_1.pdf [Zugriff: 06.03.2019].

Heinz Niemann (Rez.): „Mit Schmissen im Jesicht“. Manfred Blänkner und Axel Bernd Schulz [sic!] über korporierte Sozialdemokraten, in: Neues Deutschland v. 18. Oktober 2016.

Thomas Schindler: Der unbekannte Wilhelm Aron: Jude, Sozialdemokrat und Waffenstudent, in: Andreas Dornheim, Thomas Schindler: Wilhelm Aron (1907 – 1933). Jude, NS-Gegner, Sozialdemokrat und Verbindungsstudent, Bamberg 2007, S. 81 – 105.

Christian Vollradt (Rez.): Genossen mit Schmiß. Ein Sammelband über die Korporierten in der SPD, in: Junge Freiheit v. 14. Oktober 2016.

  1. Zitiert nach: Georg Grosch: Willy Aron, in: Gerhard C. Krischker: Bambergs unbequeme Bürger,
    Bamberg 1987, S. 25 – 28 (Quellenanhang: 29 f.), hier: S. 25.
  2. Georg Grosch (1906 bis 1987): Gewerkschafter und Mitglied der SAJ (zeitweilig SAJ-Unterbezirksvorsitzender in Bamberg), ab 1925 Mitglied der SPD; vor dem Nationalsozialismus Redaktionsangestellter bei der Bamberger SPD-Zeitung „Der Freistaat“, Kriegsdienst bei der Luftwaffe, französische Kriegsgefangenschaft, von 1946 bis 1948 hauptamtlicher Parteisekretär, 1948 bis 1956 und 1960 bis 1972 Dritter Bürgermeister in Bamberg; 1933 kurzzeitig Mitglied des Bamberger Stadtrates, 1952 bis 1966 Mitglied des Bayerischen Landtages.
  3. Vgl. Andreas Dornheim: Zwischen Bürgertum, Sozialismus und NS-Gewalt – Annäherungen an Wilhelm Aron, in: Ders., Schindler (2007), S. 9 – 69, hier: 20.
  4. Vgl. Thomas Schindler: Der unbekannte Wilhelm Aron: Jude, Sozialdemokrat und Waffenstudent, in: Andreas Dornheim, Thomas Schindler: Wilhelm Aron (1907 – 1933). Jude, NS-Gegner, Sozialdemokrat und Verbindungsstudent, Bamberg 2007, S. 81 – 105, hier: 87.
  5. Eine Abbildung des Hauses der Wirceburgia findet sich in Dornheim, Schindler (2007), S. 79.
  6. Zur familiären Herkunft Arons vgl. Dornheim (2007), S. 10 – 15.
  7. Vgl. ebd., S. 49 f.
  8. Vgl. ebd., S. 27.
  9. Vgl. ebd., S. 30 – 35.
  10. Vgl. ebd., S. 35 f.
  11. Dies lässt auch ein Foto erkennen, das sich im Archiv der SPD Bamberg-Stadt befindet: https://lassalle-kreis.de/content/wilhelm-willy-aron-1907-1933 [Zugriff: 06.03.2019].
  12. Vgl. Dornheim (2007), S. 38 – 44.
  13. Vgl. ebd., S. 36.
  14. Schutzstaffel.
  15. Vgl. ebd., S. 44 – 49.
  16. Ebd., S. 51.       
  17. Monika Bieber, Axel Bernd Kunze: Gedenkreden zum 70. Todestag Willy Arons am 15. Mai
    2003, o. O. (Bamberg) 2006; Onlineausgabe verfügbar unter: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2006-3-Arbeitspapier03_2006.pdf [Zugriff: 06.03.2019]. Vgl. auch Axel Bernd Kunze, Hendrik Leuker: Aufruf zur Zivilcourage. Ein Themenabend am 8. Mai
    2008, o. O. (Bamberg) 2008; Onlineausgabe verfügbar unter: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2008-7-Arbeitspapier07_2008.pdf [Zugriff: 06.03.2019].
  18. http://www.willy-aron-gesellschaft.de/Stolpersteine.html#content9-52 [Zugriff: 06.03.2019].
  19. Mit einer Gedenkfeier am „Stolperstein“, der in Bamberg an Willy Aron erinnert, begann am 30. März 2011 die Gründung der fränkischen Regionalgruppe des Lassalle-Kreises. Der Erste Vorsitzende der Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg e. V., Nikolai Czugunow-Schmitt, und der Gründungssprecher der Regionalgruppe Franken des Lassalle-Kreises, Axel Bernd Kunze, hielten zwei kurze Gedenkreden. Czugunow-Schmitt überlegte in seiner Rede, was aus Willy Aron geworden wäre, wenn er den Nationalsozialismus überlebt hätte; vielleicht hätte er sich in der frühen Bundesrepublik als Jurist auf ähnliche Weise engagiert wie Fritz Bauer. Gemeinsam wurde Willy Aron in einer Schweigeminute gedacht und eine Rose an seinem „Stolperstein“ niedergelegt. Als Gäste konnten bei der Gedenkfeier u. a. der Bamberger Diözesanbeauftragte für das Martyrologium des zwanzigsten Jahrhunderts, Alwin Reindl, und eine Schülerin, die an einer Facharbeit über Willy Aron arbeitete, begrüßt werden. Die Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg und der fränkische Lassalle-Kreis vereinbarten, künftig vertrauensvoll zusammenzuarbeiten und das Gedenken an Willy Aron gemeinsam zu pflegen, unter anderem durch den Einsatz für das geplante Mahnmal „Bamberger Widerstand“.
  20. [1] Der Ausstellungskatalog ist als Band 1/2018 der Publikationsreihe „Arbeitspapiere der Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg e. V.“ erschienen: Daniel Manthey, Mechthildis Bocksch. Andreas Ullmann (Hg.); Mechthildis Bocksch, Axel Bernd Kunze (Red.): „Wölfel, Aron, Stauffenberg – Formen des Widerstandes“. Ausstellungseröffnung am 7. Februar 2014, 2., korr., überarb. u. erg. Ausgabe, o. O. (Bamberg) 2018; Onlineausgabe: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2018_1-ueberarbeitetes%20und%20ergaenztes%20Arbeitspapier%202014_1.pdf [Zugriff: 06.03.2019]. Die Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg e. V. hat eine vierzehnteilige, ausleihbare Wanderausstellung zum Bamberger Widerstand konzipiert. Die Bildtafeln beleuchten einerseits den ideologischen Hintergrund des Nationalsozialismus sowie die Rolle von Militär, Justiz und Religion im NS-Staat, andererseits das Leben und Wirken der drei Bamberger Widerstandskämpfer Willy Aron, Hans Wölfel sowie Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Am Ende der Ausstellung wird gezeigt, wie die Bamberger Akteure innerhalb der verschiedenen Gruppen und Kreise des deutschen Widerstandes vernetzt waren. Die Ausstellung wurde konzipiert durch die Bamberger Historiker Daniel Dorsch und Andreas Ullmann, die Dramaturgin am städtischen E.T.A.-Hoffmann-Theater, Anja Simon, sowie die Bamberger Pädagogen Erhard Schraudolph und Mechthildis Bocksch. Getragen wird das Ausstellungsprojekt, das u. a. durch die Oberfrankenstiftung gefördert wird, neben der Willy-Aron-Gesellschaft durch das Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater, die Initiative Widerstands-DokuZentrum, die Katholische Erwachsenenbildung in der Stadt und im Landkreis Bamberg e. V., den Förderkreis zur Pflege des Erinnerns an Hans Wölfel e. V., die Projektabteilung im Erzbistum Bamberg sowie die Bamberger SPD.
  21. Weitere Informationen: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/Mahnmal.html#menu1-z [Zugriff: 06.03.2019].
  22. Vgl. Schindler (2007), S. 89 – 92.
  23. Günther Berger (bearb. v. Thomas Schindler): Wirceburgia 1928. Ein Fuchsensemester in einer paritätischen Verbindung, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte, Bd. 4, Köln 1998, S. 7 – 19, hier: 13.
  24. Vgl. Schindler (2007), S. 85 u. 92.
  25. Günther Berger [bearbeitet von Thomas Schindler]: Wirceburgia 1928. Ein Fuchsensemester in einer paritätischen Verbindung, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte, Bd. 4, Köln 1998, S. 7 – 19.
  26. Vgl. ebd., S. 95. Ein Foto des Eintrags findet sich in Dornheim, Schindler (2007), S. 77.
  27. Vgl. Schindler (2007), S. 95 – 97.
  28. Sturmabteilung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP).
  29. Zit. nach: Schindler (2007), S. 96.
  30. Herausgegeben im Auftrage des Lassalle-Kreises von Manfred Blänkner (Hamburger und Göttinger Wingolf, Wingolfsbund) und Axel Bernd Kunze (Leipziger Burschenschaft Alemannia zu Bamberg, verbandsfrei; Burschenschaft im CCB im SB Rheno-Germania Bonn, Schwarzburgbund): Manfred Blänkner, Axel Bernd Kunze (Hg.): Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Ferdinand Lassalle bis heute, hg. i. A. des Lassalle-Kreises, Bonn 2016.
  31. www.lassalle-kreis.de [Zugriff: 06.03.2019].
  32. Axel Bernd Kunze (Red.) (2010): Bekannte korporierte Sozialdemokraten, hg. vom Vorstand des Lassalle-Kreises anlässlich der Lassalle-Tagung 2010 in Tübingen, Tübingen.
  33. Ergänzt wurden die Lebensbilder korporierter Sozialdemokraten aus der früheren bis neueren Partei­geschichte um „Gedanken sozialdemokratischer Korporierter heute“ (Blänkner, Kunze [2016], S. 237 – 278), ein Streitgespräch über die Zukunftsfähigkeit von Männerbünden in der Verbindungslandschaft (ebd., S. 279 – 291) und drei Beiträge zur Entwicklung und zum Auftrag des Lassalle-Kreises (ebd., S. 293 – 313). Angesprochen werden im weiteren Verlauf des Bandes u. a. das gegenwärtige Verhältnis der Sozialdemokratie zu Studentenverbindungen, die politische Ausrichtung der Verbindungslandschaft, biographische Gründe, die zum Eintritt in eine Verbindung geführt haben, oder die Rolle von Damenverbindungen heute. Den Herausgebern war es wichtig, den Band so zu platzieren, dass er nicht ausschließlich im couleurstudentischen und studentengeschichtlichen Rahmen wahrgenommen wird. Der Band fand über ein weitgespanntes politisches Spektrum hinweg Beachtung, wie die Breite an Rezensionen zeigt – diese reichten vom „Neuen Deutschland“ (Heinz Niemann [Rez.]: „Mit Schmissen im Jesicht“. Manfred Blänkner und Axel Bernd Schulz [sic!] über korporierte Sozialdemokraten, in: Neues Deutschland v. 18. Oktober 2016) auf der einen bis zur Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (Christian Vollradt [Rez.]: Genossen mit Schmiß. Ein Sammelband über die Korporierten in der SPD, in: Junge Freiheit v. 14. Oktober 2016) auf der anderen Seite.  
  34. Herbert Fuchs (Gesamtleitung), Kommt, reicht eure Hände. Falkenlieder 1, Audio-CD mit Booklet, o. O.
    (Hamburg) o. J., Nr. 7. Worte: A. Zwickler (1921), Weise: M. Englert.
  35. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin geändert auf dem Parteitag in Leipzig am 17.04.1998, herausgegeben vom. SPD-Parteivorstand, o. O. (Berlin) o. J. (1998).
  36. Ders.: Gedenkrede zum 70. Todestag Willy Arons am 19. Mai 1933, in: Monika Bieber, Axel Bernd Kunze: Gedenkreden zum 70. Todestag Willy Arons am 15. Mai2003, o. O. (Bamberg) 2006, S. 8 – 11, hier: 9 f.; Onlineausgabe verfügbar unter: http://www.willy-aron-gesellschaft.de/assets/files/2006-3-Arbeitspapier03_2006.pdf [Zugriff: 06.03.2019].

Schlaglicht: Verlust an Personalität

Es war für alle, die es sehen wollten und die politische Äußerungen zu deuten wussten, schon zu Jahresbeginn absehbar, dass eine Impfpflicht kommen soll. Es bleibt beschämend, dass ein solcher politischer Totalitarismus an vorderster Front von jemandem vorangetrieben wird, der zur christlich-burschenschaftlichen Bewegung gehört. Mit Verfassungsstaatlichkeit, Humanität und Freiheit hat das nichts mehr zu tun:

https://www.welt.de/politik/deutschland/article235174482/Coronavirus-Markus-Soeder-fordert-Impfpflicht-fuer-alle.html

Wir erleben ein Scheitern unserer Wert- und Verfassungsordnung – vor den sehenden Augen des Souveräns, der es nicht sehen will. Und die großen gesellschaftlichen Akteure, etwa Kirchen und Universitäten, schweigen dazu. Diese Infragestellung einer menschenrechtlich geschützten Personalität wird unser Zusammenleben in der Tat auf Jahrzehnte vergiften, weil ein solcher Verlust an Verfassungsstaatlichkeit politisch nicht verzeihbar ist – jedenfalls nicht ohne entschiedene juristische Aufarbeitung, die es nicht geben wird.

Zwischenruf: Einigkeit und Recht und Freiheit

Als Mitglied im Lassalle-Kreis korporierter Sozialdemokraten habe ich den Band „Rote Fahnen, bunte Bänder“ mitherausgegeben. Einigkeit und Recht und Freiheit – alle drei burschenschaftlichen Ideale unserer Nationalhymne sind durch die Coronapolitik in unserem Land mittlerweile schwer beschädigt worden. Wir erleben gegewärtig, wie eine affektgeleitete Politik vollends in eine der Panik und der Hetze umschlägt. Wir erleben gegenwärtig, wie unsere Wert- und Verfassungsordnung scheitert. Wir erleben den Tod des freien Subjekts. Ich kann eine solche Politik nicht mehr länger mit meinem Gewissen vereinbaren und habe daher nach achtundzwanzig Jahren Mitgliedschaft meinen Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erklärt.
Die Regierungsparten gleich welcher Couleur sind an dieser Krise gescheitert. Dies muss ich leider feststellen, auch wenn ich Parteien sozialethisch grundsätzlich immer als notwendig und legitim verteidigt habe und davon auch weiterhin überzeugt bin – so wie in meiner Dissertation „Parteien zwischen Affären und Verantwortung“, die vor mehr als fünfzehn Jahren entstanden ist. Das staatsbürgerliche Engagement, wie es für Burschenschafter selbstverständlich sein sollte, muss auf andere Weise fortgeführt werden. Der Kampf um die Freiheit muss weitergehen. Denn ein Zusammenleben ohne Freiheit ist nur schwer erträglich.

Kommentar: Die moralische Schicht des Zusammenlebens bleibt ein dünner Firnis

Der Allerseelenmonat November ist dem Gedenken an unsere Verstorbenen gewidmet. In den bedrängenden Zeiten, die wir in diesem Herbst erleben, muss ich immer wieder an meinen ehemaligen Lehrer in Kirchengeschichte denken, der im Sommer verstorben ist. Er war eine beeindruckende Priester- und Forscherpersönlichkeit, wie sie an der Universität wohl selten zu finden ist. Genauer gesagt, kommt mir seine Warnung vor moralischem Hochmut in den Sinn. Wir Menschen sollten uns der erreichten Zivilisation nicht allzu sicher sein. Die moralische Schicht unseres Zusammenlebens sei nur ein dünner Firnis, so der Mentalitätshistoriker. Damals, Anfang der Neunzigerjahre, waren solche Mahnungen keinesfalls populär. Helmut Kohl sprach von einer „Friedensdividende“, die wir jetzt einfahren könnten. Andere träumten schon ein „Ende der Geschichte“ herbei, das mit einem weltweiten Siegeszug der liberalen Demokratie gleichzusetzen sei. Der Professor verwandte das Bild eines Wolkenkratzers, den er – wie es seine Art war – mit eindrücklichen Gesten in die Luft malte: Jederzeit könnten Gesellschaften moralisch dreißig Stockwerke in die Tiefe fallen.

Kann es sein, dass wir gegenwärtig einen solchen Vorgang erleben? Von einem Siegeszug der liberalen Demokratie kann aktuell wohl nicht mehr ernsthaft gesprochen werden. Vielmehr steht die Frage im Raum, ob unsere westlichen Gesellschaften noch zu rationaler und effizienter Katastrophenvorsorge und Krisenpolitik in der Lage sind. Diese Frage stellt sich nicht minder für Deutschland – im Gegenteil: Eine schon lange affektgeleitete Politik ist vollends in eine Politik der Hetze und der Panik umgeschlagen, der Maß und Mitte, Anstand und Humanität verloren gegangen sind. Und so kann ein Editorial in Zeiten wie diesen nur politischer Natur sein.

Nahezu täglich werden neue Verschärfungen und Grundrechtseingriffe ungeahnten Ausmaßes diskutiert. Auch die Kollektivierung des Körpers ist kein Tabu mehr. Der Politik ist das letzte Maß an Verlässlichkeit abhandengekommen. Routinen, die in der Krise Sicherheit und Orientierung bieten, können nicht entstehen. Und wieder einmal wird nach Sündenböcken gesucht, wird die Bevölkerung gespalten und wird eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ihrer Teilhaberechte beraubt. Auch wenn Christian Drosten eine „Pandemie der Ungeimpften“ für falsch hält, ist das Narrativ nicht mehr rückholbar. Zur Diskussion stehen nicht mehr parteipolitische Alternativen des Guten, die im Rahmen des Richtigen nebeneneinander stehen können.  Es geht um mehr: Ohne nennenswerten Widerstand des Souveräns wird die Wert- und Verfassungsordnung auf den Kopf gestellt.

Ein Zurück in eine Normalität „ante coronam“ wird es so schnell nicht geben. Schon im August sprach ein Kommentar in der WELT davon, dass die gegenwärtige Polarisierung, die politisch immer weiter vorangetrieben wird, das gesellschaftliche Klima auf Jahrzehnte vergiften werde. Ich befürchte, der Kommentar könnte Recht behalten. Die Coronapolitik gehört endlich auf den Prüfstand.

Die vielbeschworene Erziehung zu Menschenrechten, Demokratie und Zivilgesellschaft erweist sich in der Krise als aufgesetzt. Ich erlebe es gegenwärtig selber in meinen Lehrveranstaltungen: Man diskutiert über die Themen, stellt aber keinen Zusammenhang zu den aktuellen Fragen und Konflikten her. Es wird pflichtschuldigst nachgebetet, was Dozent und Disziplin vermeintlich hören wollen, aber es berührt nicht. Es bleibt äußerlich – nicht nur in der Hochschule.

Gravierende Wertkonflikte werden nicht mehr als solche erkannt. Die Fähigkeit zur differenzierten ethischen Güter- und Übelabwägung ist fast gänzlich abhandengekommen. Nahezu alle großen gesellschaftlichen Akteure werden am Ende, so die Befürchtung, moralisch diskreditiert und politisch desavouiert sein. Der alte Untertanengeist ist zurück – oder war er nie weg? Und der akademische Großmeister des bundesrepublikanischen Lebensgefühls, Jürgen Habermas, gibt zu allem seinen altväterlichen Segen, indem er den Staat ermächtigt, um der Sicherheit willen jede Grundfreiheit beliebig einschränken zu dürfen. Die schon erwähnte WELT nannte dies die neue „Habermas-Diktatur“. Ein Freund brachte das, was wir im Coronadiskurs erleben, mit einem Bonmot auf den Punkt: Der herrschaftsfreie Diskurs ging, als er proklamiert wurde.

Was gegenwärtig in unserem Land geschieht, kann niemanden gleichgültig lassen, dem sein Vaterland am Herzen liegt.

Unser Land geht schweren Zeiten entgegen. Der Weg nationaler Versöhnung, der uns bevorsteht, wird lange brauchen. Und es ist wichtig, dass wir die Fehler dieser Krise schonungslos aufarbeiten. Denn Biosicherheit bleibt in einer globalisierten Welt ein fragiles Gut: „Wir brauchen“, mahnte der Geschichts- und Politikwissenschaftler Ulrich Adam in diesem Herbst, „bewährte Handlungsstrategien, die nicht einfach […] kurzerhand von staatlichen Stellen missachtet und durch ein Regime zentralisierter Bevormundung ersetzt werden können. Unvermeidlich wächst in ernsten Krisenlagen bei den zuständigen Politikern die Versuchung, die Gesellschaft in eine Art kollektiven ABC-Schutzanzug zu pressen. Aber eine solche Anmaßung ist zum Scheitern verurteilt; sie ist und bleibt, was sie schon Ende der 1980er Jahre zu Zeiten des Kalten Krieges war: eine kindlich-naive, wirklichkeitsfremde, hochgefährliche Illusion.“ Aufkeimende „Overkillangst“, hektischer Politaktionismus, ein affektgeleiteter Politmodus, Diskursverengung, Verunglimpfungs­strategien und die Suche nach Sündenböcken bleiben schlechte Ratgeber, Corona sollte hier als warnender Präzedenzfall dienen. Stattdessen müssen wir den Diskurs führen über Deutungs- und Verhaltenskonzepte, die im Bedrohungsfall rationales Handeln ermöglichen und mit den Prinzipien eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates vereinbar sind. Denn wann, wenn nicht in der Krise, erweist sich, ob Verfassungsordnung und gesellschaftliches Ethos tatsächlich tragfähig sind!?

Wo liegen die Ursachen der gegenwärtigen Krise? Schon lange wurde der Coronadiskurs moralisiert, emotionalisiert, vermachtet und einseitig geführt. Die Politik hat nicht erst mit Beginn der Coronakrise Anfang 2020 viel Vertrauen verspielt. In Deutschland spielt der Migrationssommer 2015 hierbei eine nicht unwichtige Rolle. Ein rationales Verhältnis zum Staat und seinen Leistungen ist schon länger verloren gegangen. Nun schlägt die Staatsvergessenheit in die Bejahung eines umgreifenden „Intensivstaates“ um (so eine Formulierung aus dem Berliner „Tagesspiegel“).

Wenn wir später einmal die Frage stellen sollten, wie es so weit kommen konnte, werden wir allerdings tiefergehender fragen müssen. Ich möchte nur eine These äußern. Eine Ursache könnte darin liegen, dass das Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft schon lange einen schweren Stand hat. Mittlerweile kann man mit einem aberkannten Doktortitel selbst ohne Schamfrist gleich wieder eine Landesregierung führen. Wo das Leistungsprinzip verkommt und Bildung nur noch auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch beschreibbare Anpassungsleistung reduziert wird, regieren am Ende Dummheit und Rohheit. Nur ein persönliches Beispiel: Ich habe im Sommer mein Abonnement jener Tageszeitung, hinter der angeblich immer nur kluge Köpfe stecken, gekündigt, weil ich die einseitige, bornierte, moralisierende, teilweise sogar hetzerische Haltung des Blattes nicht mehr ertragen konnte. Wer sehen will, wie sich Bürgerlichkeit gegenwärtig auflöst, findet im Niedergang einer einstmals großen und wichtigen Zeitung des Landes reichlich Anschauungsmaterial.

Und noch etwas kommt hinzu: Wo in postmodernen Zeiten Geltungsansprüche nicht mehr zugelassen werden, ersetzt Aktion die Reflexion. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus ersetzt. Ein solcher schlägt schnell in Gewalt um. Und am Ende geht die Achtung vor dem freien Subjekt verloren.

PS: Ein lesenswerter Kommentar findet sich in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Tagespost“: Die Coronapolitik steckt in der Sackgasse, die Kollateralschäden werden immer größer. Aber auch dieser Ruf, zu  Vernunft und Besonnenheit zurückzukehren, wird ungehört verhallen …:  

https://www.die-tagespost.de/politik/hysterisierung-spaltet-die-gesellschaft-art-222923