Grußwort am 9. Juli 2020 im Restaurant und Theater Friedenau in Stuttgart, gehalten auf Einladung von Peter Launer (Corps Germania Hohenheim):
„Miteinander reden und lachen;
sich gegenseitig Gefälligkeiten erweisen;
zusammen schöne Bücher lesen;
sich necken, dabei aber auch einander Achtung erweisen;
mitunter auch streiten,
freilich ohne Gehässigkeit,
wie man es wohl auch einmal mit sich selbst tut;
manchmal auch in den Meinungen auseinandergehen
und damit die Eintracht würzen;
einander belehren und voneinander lernen;
die Abwesenden schmerzlich vermissen
und die Ankommenden freudig begrüßen –
lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe,
die aus dem Herzen kommt,
sich äußern in Miene, Wort und tausend freundlichen Gesten
und wie Zunder den Geist in Gemeinsamkeit entflammen,
so daß aus den Vielen eine Einheit wird –“
Diese Worte sind tausendsechshundert Jahre alt. So umschreibt der abendländische Kirchenvater Augustinus in seinen „Confessiones“ (IV 8, 13) die Lebensform der Freundschaft: eine Lebensform, deren Feier uns auch heute Abend hier zusammengeführt hat. Jeder von uns mag die Worte mit eigenen Erinnerungen füllen. Unsere beiden designierten Zipfelbrüder, die heute ihre Freundschaft im Zipfeltausch besiegeln wollen, werden wissen, was sie am anderen, am Freund lieben, wie Augustinus dann fortfährt.
Ein Semester weitgehend ohne Semesterbetrieb liegt hinter uns. Schmerzlich haben wir in den vergangenen Wochen die Abwesenheit bundesbrüderlicher, freundschaftlicher Gemeinschaft vermisst. Umso wertvoller ist die heutige Stunde. Und ich danke meinem Zipfelbruder, Peter Launer, sehr herzlich für die Einladung, die heutige Bekundung des Freundschaftsbundes im Ritual des Zipfeltausches zu besiegeln.
Was macht den besonderen Wert der Freundschaft aus? Erlauben Sie mir drei kurze Anmerkungen.
- Joachim Negel, Fundamentaltheologe an der Universität Freiburg im Uetland, umschreibt diese Lebensform folgendermaßen: „Freundschaft ist zunächst und vor allem Gespräch. Freunde sind im Gespräch miteinander, und je intensiver das Gespräch, umso größer der Raum, der sich zwischen ihnen eröffnet. In ihm wird die Welt bedeutsam; man hört, was die Dinge sagen wollen; man sieht (in) ihr Antlitz und gerät dadurch in eine Tiefe und Weite der eigenen Seele wie auch der Welt, die es vorher nicht gab“ (Freundschaft. Von der Vielfalt und Tiefe einer Lebensform, Freiburg i. Brsg. 2019, 51). Und so kann die Freundschaft auch als Geburt der Philosophie bezeichnet werden! Nicht umsonst haben unsere beiden Zipfelbrüder in spe als Zipfelspruch ein Wort Vergils ausgewählt. Dieser bedeutendste Vertreter der augusteischen Dichtung führte nicht allein die lateinische Sprache zu besonderer Blüte, was ihm bis heute einen Platz in der humanistischen Bildung sichert. Er setzte in seinem Epos Aeneis dem Freundespaar Euryalus und Nisus ein ewiges Denkmal. Das Ideal ihrer Freundschaft, das Vergil schildert, steht nicht allein für die Tugend römischer Tapferkeit, sondern verkörpert die seelische Größe der Hochherzigkeit, deren Verpflichtung letztlich selbst das Scheitern der Tat überstrahlt.
- Da ich Burschenschafter bin, mag man es mir nicht verdenken, auf einen weiteren Aspekt der amicitia hinzuweisen: Diese ist nicht allein eine philosophische, sondern zugleich eminent politische Tugend. So schreibt Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik: „Die Erfahrung lehrt, daß Freundschaft die Polisgemeinden zusammenhält, denn die [politische] Eintracht hat offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Freundschaft.“ Man muss nicht allein an Auswüchse der Stuttgarter „Party- und Eventszene“ denken, wie es wohl doch beschönigend hieß, um zu sehen, wie gefährdet ein solches Fundament unseres Zusammenlebens ist.Das gemeinsame Ethos unseres Gemeinwesens will gepflegt werden. Gerechtigkeit im Staat gründet im Kern auf der Tugend seiner Bürger. Der Mensch ist unhintergehbar ein „zoon politikon“. Eine zentrale Tugend hat Michel Foucault einmal so ausgedrückt: „Eintracht ist Freundschaft unter Bürgern.“ Unser gesellschaftliches Ethos, das für ein humanes und gerechtes Zusammenleben unabdingbar ist, „beruht auf der Vorzüglichkeit ihrer seelischen Veranlagung, auf der konzentrierten Pflege solcher Veranlagung im Austausch mit den Freunden sowie auf der daraus sich erbildenden vernünftigen Einsicht“ (Negel, 127). Wo dieses Ethos zerfällt, degeneriert der Staat zur Tyrannis, zur Ochlokratie oder zur Oligarchie. Insofern hat das, was wir in unseren Verbindungen auf Basis unserer von Bund zu Bund, von Dachverband zu Dachverband je eigenen Tradition pflegen, eine eminent politische Bedeutung, die wir nicht unterschätzen sollten – und dieses Pfund sollten wir nicht hinter den Mauern unserer Verbindungshäuser verstecken, sondern im akademischen Beruf und im Engagement für unser Gemeinwesen einsetzen, damit es reichen Zins bringt – mehr, als uns Banken heute geben können.
- Und ein dritter Gedanke: „Nur am Du bildet sich ein Ich.“ Ohne liebendes Du kann es auch kein Ich geben – so hat es Martin Buber in seiner Dialogphilosophie stark gemacht. Dies mag der Grund sein, warum das Thema Freundschaft die Gemüter aller Epochen der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder bewegt hat. Wo sich Menschen in Freundschaft verbinden, öffnen sich unverhoffte Möglichkeiten, erleben wir uns als beschenkt und können auch andere beschenken. Ich kann dem Leben trauen, weil ein anderer zu mir steht. Freundschaft bedeutet Treue und Trost – so heißt es schon in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur. „Es gibt Gefährten, die gereichen zum Verderben. Mancher Freund aber ist anhänglicher als ein Bruder“ (Spr 18, 24), heißt es im Buch der Sprichwörter. Und „ein treuer Freund ist ein Trost im Leben; ihn findet, wer den Herrn fürchtet“ (Sir 6, 16), sagt der Weisheitslehrer Jesus Sirach. Trost und Treue – nicht umsonst wurde in der christlichen Tradition versucht, auch die innertrinitarische Beziehung in Freundschaftskategorien zu denken und die Beziehung zu Gott als Gottesfreundschaft zu deuten. Letztlich versprechen wir mit jeder Freundschaft mehr, als wir Menschen in unserer Sterblichkeit halten können. Mit der Treue, die wir einander versprechen, eröffnen sich existentielle Fragen religiöser Natur. Es geht um den Grund des Lebens, der mich trägt. In einer säkularen Gesellschaft wirken Fragen danach oft peinlich. Und auch in unseren Lebensbünden mag es oft nicht mehr leicht fallen, diese Fragen zu stellen. Und doch: Wir können ihnen am Ende nicht ausweichen. „Die Religion war mir seit langem zuwider, und trotzdem spürte ich auf einmal eine Sehnsucht, mich auf etwas beziehen zu können. Es war unerträglich, einzeln und mit sich allein zu sein.“ – so Peter Handke in seinem „Kurzen Brief zum langen Abschied“. Für Christen kann der tragende Grund des Lebens letztlich vom Menschen nicht selbst gemacht werden oder von ihm ausgesucht werden; er übersteigt das, was der Mensch sich selbst geben kann. Für Christen ist es ein ganz Anderer, der uns sagt: Du sollst sein. Theologen sprechen von Gnade. An ihr hat die Freundschaft Anteil. Und so öffnet uns die Freundschaft eine Tür in die Unendlichkeit, in die Ewigkeit.
Gespräch und Hochherzigkeit, Eintracht und vernünftige Einsicht, Treue und Trost – ich wünsche uns allen, dass wir das immer wieder in unseren Verbindungen erfahren. Ich wünsche unseren beiden neuen Zipfelbrüdern, dass sie dies immer wieder erfahren in ihrem Freundschaftsbund, der heute besiegelt werden soll. Und ich wünsche uns, dass wir auch immer wieder damit beschenkt werden – im Kreis des Lebensbundes, in dieser Runde und darüber hinaus.
Ja, dies dürfen wir auch immer wieder unseren Kritikern entgegenhalten: Wir sind hier versammelt zu löblichem Tun.
In diesem Sinne: Herzliche Glück- und Segenswünsche zum heutigen Zipfeltausch, der hiermit beglaubigt werden soll! Und ein Hoch auf Bundesbrüderlichkeit, couleurstudentische Verbundenheit und die Freundschaft!