Gemeinsames Positionspapier zur Zukunft sozialpädagogischer Ausbildungsgänge

Die Gemeinsame Vertretung der Bundesverbände und Bundesarbeitsgemeinschaften der Fachschulen für Sozialpädagogik, Heilerziehungspflege und Heilpädagogik in Deutschland haben ein Positionspapier zur Stärkung der Fachschulen des Sozialwesens veröffentlicht. Das Papier reagiert auf verstärkte politische Forderungen, angesichts des Fachkräftemangels die sozialpädagogischen Ausbildungsgänge in Deutschland in duale Ausbildungen umzugestalten: eine Forderung, die das bisher erreichte Niveau der sozialpädagogischen Fachkräfteausbildung und den hohen fachlichen Standard der Fachschulen gefährdet. Das Papier findet sich u. a. hier:

Einen Kurzkommentar des Papieres bietet der Bundesverband evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik auf seinen Internetseiten:

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit muss aktiv geschützt werden

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fordert Universität Siegen auf, den universitären Schutz von Veranstaltungen zu gewährleisten

Pressemitteilung, 26.4.2022

Die Universität Siegen erwartet von ihren Hochschullehrern, die wissenschaftliche Veranstaltungen organisieren, dass sie im Rahmen ihres Budgets für die Kosten von etwa erforderlichen Sicherheitsdiensten aufkommen. Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit lehnt dies aus grundsätzlichen Erwägungen ab und sieht darin eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit. Die Universität ist verpflichtet, die Ausübung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit, wozu auch die Veranstaltung von wissenschaftlichen Vorträgen und Tagungen gehört, zu schützen. Die Kosten dafür können nicht den Veranstaltern aufgebürdet werden. Das würde dazu führen, dass Drohungen mit Gewalt durch Dritte letztlich darüber entscheiden, wer zu einem Vortrag oder zu einer Tagung eingeladen wird. Dieser Gefahr muss entschieden entgegengetreten werden. Die Universität Siegen wird daher aufgefordert, ihre Entscheidung zu revidieren.

Quelle: http://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de

Hintergrund der Kontroverse sind Auflagen der Universität Siegen im Falle einer Einladung des Politikwissenschaftlers Martin Wagener.

Impulsreferat: Warum „gendergerechte“ Sprache gerade nicht gerecht ist …

Das folgende Impulsreferat wurde am 20. April 2022 auf einem Diskusisonsabend der Kommunalpolitischen Vereinigung Mönchengladbach gehalten. Der Abend trug den Titel: „Political Correctness“ und „Gendersprache“ – gesellschaftliche Sensibilisierung, Kitsch oder „Politischer Kampfbegriff“?

Verehrtes Tagungspräsidium, sehr geehrte Damen und Herren!

Oder sollte ich sagen:

Sehr geehrte Teilnehmer*innen [TeilnehmerSTERNinnen],

oder gleich: sehr geehrte Teilnehmende!

So sollte ich wohl formulieren, wollte ich dem gerecht werden, was unter „geschlechterneutraler“, „gendergerechter“ oder „gendersensibler“ Sprache verkauft wird. Aus Männern oder Frauen werden Personen oder Menschen. Pluralformen sollen verhindern, dass nur ein Geschlecht angesprochen wird. Antragsteller werden zu Antragstellenden, das Rednerpult zum Redepult. Doppelnennungen nach dem Muster „Zuhörer und Zuhörerinnen“ reichen nicht mehr aus. Der Asteriskus, das „Gendersternchen“ im Wort oder zwischen verschiedenen Pronomina, soll alle sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten sprachlich sichtbar machen. In immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens wird sogenannte Gendersprache empfohlen, eingefordert oder mittlerweile vorgeschrieben: in Hochschulen und Schulen, in Medien und Kirchen, in Unternehmen und Verwaltungen. Das generische Maskulinum soll zum Verschwinden gebracht werden. Viel wäre zu sagen über eine Verwechslung des sprachlichen Genus mit dem biologischen Geschlecht oder sozialwissenschaftlichen Geschlechterkonstruktionen. Wer diese Unterschiede nicht sehen will, begeht einen Kategorienfehler. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse werden durch sprachsoziologische Erwägungen oder politische Ziele ersetzt. Wir werden auf die sprachwissenschaftliche Diskussion möglicherweise noch im Rahmen der Diskussion zu sprechen kommen. Ich  möchte mich im Folgenden auf ethische, kulturelle und politische Aspekte konzentrieren.

1. Gendersprache ist einseitig und ausgrenzend

Wenn von „geschlechterneutraler“, „gendergerechter“ oder „gendersensibler“ Sprache die Rede ist, wird unausgesprochen eine Prämisse vorausgesetzt, die bereits mehr als fraglich ist. Gendersprache ist nicht neutral, sondern fußt auf ganz bestimmten partikularen Annahmen, etwa queertheoretischen oder radikalkonstruk­tivistischen Theorien, wie sie etwa von der Philosophin Judith Butler und ihrer Schule vertreten werden. Für den radikalen Konstruktivismus liefert Wahrnehmung nicht das Bild einer bewusstseinsunabhängigen Realität. Vielmehr ist Realität eine letztlich individuelle Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung. Jede Wahrnehmung sei vollständig subjektiv. Dies gelte auch für die Konstruktion von Geschlecht, Geschlechtsidentität und Geschlechterverhältnissen.

Gendersprache besetzt den öffentlichen Raum einseitig durch radikalkonstruktivistische Theoriebildung; gegen linguistische Erkenntnisse werden grammatikalisches und biologisches Geschlecht ineinsgesetzt. Der liberale Kultur- und Verfassungsstaat und seine Institutionen, etwa Bildungseinrichtungen oder Verwaltungen, dürfen nicht einseitig Partei ergreifen oder sogar sprachwissenschaftliche Argumente gänzlich ignorieren. Die unausgesprochenen und unaufgearbeiteten Prämissen, die mit einer administrativ durchgesetzten Gendersprache transportiert werden, überwältigen.  Sprache, die allen gehört, wird durch das Gendern politisiert und moralisiert. Wer anderer Meinung ist, wird ausgegrenzt.

Gerechtigkeit im sozialen Zusammenleben schöpft aus der polaren Spannung von Freiheit und Gleichheit. Wo der freie Sprachgebrauch und der freie Diskurs über konkurrierende Theoriebildung hingegen beschnitten wird, kann auch nicht mehr von Gerechtigkeit gesprochen werden. Aber noch in anderer Hinsicht grenzt Gendersprache aus: Sie ist keineswegs inklusiv, sondern erschwert etwa den sprachlichen Zugang für Personen nichtdeutscher Muttersprache, mit Lernbehinderungen, Hör- oder Sprachbeeinträchtigungen. Und Gendersprache erhebt den Anspruch, alle sozialen Konstruktionen von Geschlecht sichtbar zu machen, reduziert diese dann aber auf ein sprachliches Zeichen, das abstrakt, künstlich und alles andere als selbsterklärend ist.

2. Gendersprache ist künstlich und kulturzerstörend

Sprache ist nicht statisch. Doch Gendersprache hat wenig mit natürlichem Sprachwandel zu tun. Gesellschaftlich hat Gendersprache weiterhin keine Mehrheit, und das aus guten Gründen. Sie ist eine Kunstsprache, die administrativ von oben durchgedrückt wird, etwa durch Dienstanweisungen, Verordnungen, Qualitätssicherungssysteme, personalrechtliche Kompetenzkataloge oder telefon­buch­dicke Sprachvorschriften.

Gendersprache bleibt ein akademisch-administratives Konstrukt, das kulturstaatliche Verpflichtungen unterläuft. Sie läuft alltagssprachlichen Prinzipien der Sprachökonomie zuwider, ist typographisch schwerfällig und zerstört Schönheit sowie Differenzierungsfähigkeit unserer Sprache. Als Pädagoge sei mir folgende Bemerkung gestattet: Wer Freude am Lesen, am Umgang mit Literatur, gar an Lyrik wecken will, kann Gendersprache nicht allen Ernstes propagieren. Wer wollte Goethes Faust schon „gendergerecht“ lesen wollen? Wer hätte seine Freude an Grimms Märchen, die klingen wie eine Verwaltungsvorlage? Oder wer möchte im Gottesdienst künftig die Psalmen mit Genderstern singen? Gendersprache vergreift sich an den Bildungsgrundlagen, Traditionen und Schönheiten unserer Kultur.

Aber auch jenseits von Lyrik und Belletristik führt Gendersprache zu deutlicher sprachlicher Verarmung, zu einem Verlust an sprachlicher Differenzierungsfähigkeit. Zwei Beispiele: Vor kurzem berichtete ein öffentlich-rechtlicher Sender über die Diskussionen im Vorfeld möglicher prorussischer Demonstrationen, die für den Samstag geplant waren. Die Rede war von „Demonstrierenden“. Zu solchen werden sie aber erst dann, wenn sie tatsächlich demonstrieren. Oder anders gesagt: Wenn alle Studenten Studierende wären, gebe es keine Studentenpartys mehr. Sprachverarmung ist das Gegenteil von Vielfalt.

Gendersprache zerstört ein zentrales Identitätsmerkmal der deutschen Kulturnation. Dies passt zu einer dekonstruktivistischen Tendenz, die Identität und kulturelle Gemeinsamkeiten in ihrer Bedeutung kleinredet. Doch ein gesellschaftliches Klima der Freiheit, Toleranz und Offenheit  benötigt einen Vorrat an kultureller Selbstverständlichkeit, der uns im Alltag den Rücken freihält, der uns produktiv und geistlich vital sein lässt.

Gendersprache hingegen politisiert und moralisiert den alltäglichen Sprachgebrauch. Wer sich den sprachpolitischen Vorschriften nicht beugt, riskiert an den Pranger gestellt zu werden. Mehr oder weniger offen, steht immer der Vorwurf im Raum, Rollenklischees und Stereotypen zu reproduzieren, zu diskriminieren und auszugrenzen. Ein falsches Wort kann ins soziale oder berufliche Abseits führen. Doch die beständige Kontrolle abweichender Gesinnungen oder Haltungen vermachtet den öffentlichen Diskurs, zerstört die intellektuelle Lebendigkeit einer Gesellschaft und führt zu einem Klima der Repression und Unfreiheit.

Hinzu kommt: Gendersprache widerspricht der amtlichen Rechtschreibung. Wer diese verpflichtend vorschreiben und administrativ zwingend durchsetzen will, zwingt andere zu einem regelwidrigen Sprachgebrauch. Ein beispielloser Vorgang, der eines Rechtsstaates unwürdig sein sollte. Nicht wer Gendersprache ablehnt, sollte sich rechtfertigen müssen, sondern wer diese gegen sprachwissenschaftliche Kriterien und bestehende Regelwerke durchzusetzen versucht.

3. Gendersprache ist maßlos und übergriffig

Freiheit meint nicht Regellosigkeit. Aus einem freiheitlichen Gesellschaftsverständnis heraus verstehe ich Freiheit als eine Freiheit, die produktiv werden soll. Eine solche Freiheit ist etwas anderes als Anarchie, Beliebigkeit oder Willkür. Zu einer solchen Freiheit gehört ein Mäßigungsgebot im öffentlichen Raum und der Verzicht auf Ideologisierung im öffentlichen Verkehr. Ideologie ist ein Modus des Diskursgebrauchs – etwa die Verwendung unausgesprochener Prämissen, von denen am Anfang die Rede war, die mehr oder weniger gewaltsam übergestülpt werden, aber nicht mehr befragt werden dürfen. Keine Theorie ist davor gefeit. Nicht selten begegnet uns Ideologisierung  frei nach dem Motto: Einfach machen! Oder mit dem Titel einer Broschüre: Einfach gendern! Wo aber nicht mehr argumentiert, sondern nur noch gehandelt wird, ersetzt Aktivismus die Reflexion. Auch dies ist eine Form der Gewalt.

Geschlechtliche Selbstidentifikation, partikulare Weltanschauungen, radikalkonstruktivistische Überzeugungen und anderes mehr kann  in privaten Kontexten ausgelebt werden. Wird daraus allerdings ein Recht, das die Forderung nach öffentlicher Bestätigung durch andere beinhaltet, läuft dies dem Mäßigungsgebot im öffentlichen Raum zuwider. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat besitzt programmatisch die Fähigkeit, unterschiedliche, subjektiv bestimmende, auch sich widersprechende Überzeugungen nebeneinander stehen zu lassen, solange nicht das System einer einzelnen Gruppe es darauf anlegt, den öffentlichen Raum zu dominieren, alleinige Deutungshoheit einfordert und daraus positive, material gehaltvolle Leistungsansprüche an Dritte ableitet. Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Handlungs- und Gewissensfreiheit anderer wären die Folge. Die menschenrechtlichen Freiheitsrechte begründen gerade keine egalitaristische Umgestaltung des öffentlichen Raumes, sondern halten die Möglichkeit offen, unterschiedliche Überzeugungen, Haltungen oder Weltanschauungen zu denken, für sich zu übernehmen und zu vertreten – auch in sprachlicher Hinsicht.

Hierfür setzt der liberale Rechts- und Kulturstaat den notwendigen Rahmen, in dem sich gelebte Freiheit und Toleranz entfalten können. Dabei darf er die Autonomie der kulturellen Sachbereiche, im Fall der Sprache etwa ihre sprachwissenschaftlichen Grundlagen, nicht nach politischem Belieben seiner Verfügungsmacht unterwerfen. Und zu diesem notwendigen Rahmen zählt auch die Sicherung einer einheitlichen Verkehrssprache, die freigehalten wird von ideologischen Zumutungen oder politischer Vermachtung. Zur Sicherung eines freiheitlichen, verlässlichen Zusammenlebens gehört auch, dass dieser Rahmen eine gewisse Beständigkeit aufweist. Stellen wir uns vor, wir hätten, vor zwanzig bis dreißig Jahren unseren öffentlichen Verkehr auf das große Binnen-I verpflichtet, das heute von Vertretern der Queertheorie längst als diskriminierend verworfen wird … Es ist gut, nicht blindlings jedem wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Trend zu folgen.

Der Gebrauch der eigenen Muttersprache gehört zum innersten Kernbereich der Persönlichkeit, der aus gutem Grund durch starke Grundrechte geschützt ist. Ein Staat oder ein Arbeitgeber, der sich anmaßt, auf die Denk- und Sprachformen seiner Staatsbürger oder Mitarbeiter Zugriff zu erheben, verletzt die Menschenwürde. Es ist gut, wenn mittlerweile, unterstützt durch den Verein für Deutsche Sprache, ein Musterprozess gegen den sprachlichen Genderleitfaden bei Audi geführt wird.

Ich komme zum Schluss: Wenn behauptet wird, das generische Maskulinum sei nicht neutral, sondern Ausdruck sprachlicher Diskriminierung, setzt dies eine Politisierung und Moralisierung unserer Sprache bereits voraus. Mitunter wird das „Gendern“ in der Sprache mit einem Gesslerhut verglichen. Nehmen wir einmal an, der Vergleich stimmt, wohlwissend, dass Vergleiche immer hinken: Einem Gesslerhut gegenüber kann man sich nicht „nichtverhalten“. Jede Haltung dem Gesslerhut gegenüber wird als Reaktion gedeutet. Und damit zieht ein permanenter Bekenntnis- und Rechtfertigungszwang ein. Der Gesslerhut war ein Machtmittel der habsburgischen Obrigkeit. Heute gibt es genügend gesellschaftliche Gesslerhüte, für die es gar keine Obrigkeit mehr braucht. Die Gendersprache ist einer davon. Die neuen Gesslerhüte versprechen Toleranz, Vielfalt und Respekt, vermachten aber hingegen den öffentlichen Diskurs und moralisieren unserer Zusammenleben. Doch Vorsicht: Dem Gesslerhut war kein dauernder Bestand beschieden. Nicht das erzwungene obrigkeitliche Wohlverhalten war am Ende stärker, sondern die Freiheit. Das gibt Hoffnung und Mut.

Impuls: Löschkultur und politische Korrektheit – warum das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit entstanden ist

Das folgende Impulsreferat wurde am 20. April 2022 auf einem Diskusisonsabend der Kommunalpolitischen Vereinigung Mönchengladbach gehalten. Der Abend trug den Titel: „Political Correctness“ und „Gendersprache“ – gesellschaftliche Sensibilisierung, Kitsch oder „Politischer Kampfbegriff“?

Sehr herzlich danke ich für die Einladung nach Mönchengladbach und ich freue mich auf einen interessanten, diskussionsstarken, anregenden Abend. Beginnen möchte ich mit dem Zitat eines befreundeten Kollegen aus der Erziehungswissenschaft. Bernd Ahrbeck schreibt in seinem neuesten Band „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“: „Die Gesellschaft ändert sich gravierend, in einer Geschwindigkeit und Richtung, die noch vor einem Jahrzehnt unvorstellbar war. Grundfeste der bürgerlichen Ordnung werden infrage gestellt: Nicht nur punktuell, wie es im Laufe der Zeit immer wieder und teils mit erfrischender Wirkung geschah. Nunmehr kumulieren einzelne, ursprünglich separierte Anliegen zu einer Bewegung, die sich machtvoll in Szene setzt und zunehmend an Einfluss gewinnt. Sie strebt einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel an, ein neues kulturelles Selbstverständnis, das mit dem bisherigen an entscheidenden Stellen bricht.“

Angesichts einer derartigen Zeitdiagnose scheint es nicht fern zu liegen, von Kulturkämpfen zu sprechen, die wir in unseren Tagen erleben. Dem damit verbunden moralischen Druck kann sich kaum noch jemand entziehen, schon gar nicht in akademischen, politiknahen, pädagogischen oder wissenschaftlichen Berufen. Drei Aspekte sollen heute Abend Thema der Diskussion sein: „Cancel culture“, „Political correctness“ und eine zunehmende Pflicht zum sprachlichen Gendern.

„Vorwürfe von Benachteiligung und Unmenschlichkeit, stehen allgegenwärtig im Raum, pauschale Anklagen, die sich dem Abgleich mit der Realität nur selten stellen.“ – umschreibt Ahrbeck im Weiteren die Situation, der sich Wissenschaftler immer häufiger gegenübersehen. Abweichende wissenschaftliche Positionen werden in einem solchen Diskurs- und Forschungsklima zunehmend moralisch stigmatisiert. Diese Differenzen sollen nicht mehr im argumentativen Ringen und im wissenschaftlichen Streit ausgetragen werden. Nein, sie werden vielfach mit Boykott, Bashing, Mobbing oder Gewalt von vornherein aus der wissenschaftlichen Arena ausgeschlossen. Administrative oder politische Vorgaben aus Wissenschaftsministerien und Rektoraten greifen immer häufiger in die Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Forschers ein. Problematische Inhalte sollen durch Warnhinweise gekennzeichnet werden, Seminarinhalte oder Literaturlisten quotiert werden, missliebige Zeitschriften aus Bibliotheken entfernt werden. Mitunter sind es ganze Fachgesellschaften, die Zensurmaßnahmen gegen missliebige Kollegen oder Positionen  ergreifen. Der Vortragende hat 2019 einen Aufruf von sechzig Wissenschaftlern und Publizisten in der Wochenzeitung „Die Tagespost“ unterschrieben, der sich gegen einen Boykottaufruf der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik wider die traditionsreiche Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ richtete. Die vom Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg herausgegebene Zeitschrift steht für die große und für die „alte“ Bundesrepublik durchaus prägende Tradition dominikanischer, rheinischer Sozialethik.

Eine „Cancel culture“ oder Löschkultur, wie sie an angelsächsischen Hochschulen schon länger zu beobachten ist, kann mittlerweile auch in Deutschland nicht mehr geleugnet werden. 2017 erklärte der Deutsche Hochschulverband: „Problematisch ist aber, dass ‚Political correctness‘ zunehmend ausgrenzend und latent aggressiv instrumentalisiert wird, verbunden mit der Attitüde, aus einer moralisch unangreifbaren Position heraus zu argumentieren. Wenn jedoch abweichende wissenschaftliche Meinungen Gefahr laufen, als unmoralisch stigmatisiert zu werden, verkehrt sich der Anspruch von Toleranz und Offenheit in das Gegenteil: Jede konstruktive Auseinandersetzung wird im Keim erstickt. Statt Aufbruch und Neugier führt das zu Feigheit und Anbiederung.“

Wo der freie, plurale, ergebnisoffene, streitbare wissenschaftliche Diskurs, das freie Lehren, Forschen und Publizieren unterbunden werden, ist die Freiheit der Wissenschaft – und damit ein zentrales Grundrecht – in Gefahr. Es geht nicht allein um Zensur der Wissenschaft, sondern  um eine Zensur durch Wissenschaft – und kollegiale Repression kann mitunter noch repressiver sein als solche von außen, weil sie unter dem Radar rechtlicher Absicherungen durchläuft und juristisch schwer greifbar zu machen ist. Große berufsständische Vertretungen wie der Deutsche Hochschulverband erweisen sich hier häufig als wenig kampfeswillig, als indifferent und solidaritätsschwach. Allzu breit gestreut sind die Interessen ihrer Mitglieder oder das Freiheitsverständnis in ihren Reihen.

Im Februar 2021 gründete sich das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, dem knapp unter sechshundertfünfzig Wissenschaftler aller Fachrichtungen angehören. Im Gründungsmanifest heißt es: „Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen. Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.“

Das Netzwerk besteht aus einem inneren Kreis von Vereinsmitgliedern und einem erweiterten Netzwerk weiterer Sympathisanten. Das Netzwerk organisiert Veranstaltungen zur Wissenschaftsfreiheit, diskutiert mit Politikern (eine Eintragung im Lobbyregister des Bundestages ist in Planung), verteidigt Kollegen, die öffentlich oder dienstrechtlich unter Druck geraten sind, nimmt im öffentlichen Raum zur Lehr- und Forschungsfreiheit aktiv Stellung und dokumentiert Fälle deutscher „Cancel culture“. Die Liste ist auf den Internetseiten des Netzwerkes öffentlich einsehbar. Ein eigener Blog und eine eigene Fachzeitschrift zur Wissenschaftsfreiheit, aber auch als Veröffentlichungsort für andernorts abgelehnte Positionen sind gegenwärtig in Planung.

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist ein Zusammenschluss engagierter Wissenschaftler, die sich mit einem zunehmend repressiver werdenden Klima in Wissenschaft und Hochschule nicht abfinden wollen. Der Zusammenschluss ist parteipolitisch und konfessionell neutral. Das bedeutet aber nicht, dass in den eigenen Reihen nicht hart gerungen wird: um das eigene Selbstverständnis von Wissenschaft, um die Grenzen zwischen legitimem Pluralismus und notwendiger Distanzierung von Extremismus, um die Bedingungen redlicher, methodisch kontrollierter Wissenschaft, um das eigene Verständnis von Freiheit – zwischen freiheitlichen und liberalen Positionen.

Wo die Freiheit der Wissenschaft unter die Räder kommt, steht viel auf dem Spiel: unter anderem die Leitungsfähigkeit und das Ansehen der Hochschulen unseres Landes, damit am Ende aber auch volkswirtschaftliche Produktivität, gesellschaftliche Entwicklung, kulturelle Vitalität und technische Innovation, aber auch gesellschaftlicher Friede und politische Stabilität.

Zwischenruf: Hausrecht statt Gesetzgeber?

Viele Kollegen in Schule und Hochschule tragen auch weiterhin Maske – das Vertrauen in die Impfungen ist dahin. Und in Eigenverantwortung kann man das auch machen, gerade in Situationen, die ein höheres Infektionsrisiko bergen. Nun steht das neue Sommersester vor der Tür: ein Semester wieder in Präsenz. Nicht wenige Hochschulen bleiben aber bei einer Maskenpflicht und setzen diese mit Hausrecht durch. Eine Maskenpflicht in einer staatlichen Bildungsinsitution via Hausrecht durchzusetzen, ist allerdings grundrechtlich und rechtsstaatlich mehr als fraglich. Grundrechtseingriffe müssen vom Gesetzgeber legitimiert werden; hier kann es keine Selbstjustiz geben, schon gar nicht in einer Instutition, die in hohem Maße der Sicherung weiterer Grundrechte wie dem Recht auf Berufsausbildungsfreiheit dient. Einzelne Kultusministerien haben dies daher auch ausdrücklich ausgeschlossen. In NRW hat man ein solches „Schlupfloch“ den Universitäten im Bundesland in den infektionsscutzrechtlichen Regelungen eingeräumt, was m. E. aber verfassungspolitisch ein Unding ist. Aber dieser schlampige Umgang mit grundlegenden Prinzipien unserer Verfassungsordnung und unseres Rechtsstaates ist typisch für diese Coronakrise und lässt für das Freiheitsklima im Land nichts Gutes ahnen, zumal angesichts einer Bevölkerung, die gegen den Verlust solcher rechtsstaatlicher Standards nahezu überhaupt keinen Widerstand aufbringt. Wir sollten sensibler sein, was den Umgang mit Grundrechten, verfassungsmäßiger Ordnung und Rechtsstaat angeht. Das sind wir unseren Überzeugungen von Einigkeit und Recht und Freiheit schuldig. Ja, und dies alles zeigt zugleich, dass der Weg in eine „Normalität“ nach den Verfehlungen dieser Coronakrise noch weit sein wird …

Neuerscheinung zur Transgenderdebatte

Bernd Ahrbeck und Marion Felder (Hrsg.):

Geboren im falschen Körper

Genderdysphorie bei Kindern und Jugendlichen

Kaum ein Thema wird gegenwärtig so intensiv diskutiert wie die Transsexualität. Immer mehr Kinder äußern das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, immer häufiger wird der Wunsch geäußert, das Geschlecht zu wechseln. Bei den allermeisten Kindern und Jugendlichen erweist sich die Genderdysphorie aber als ein Übergangsphänomen. Das verweist darauf, wie vorsichtig vorgegangen werden muss, wie wichtig Beratung, Unterstützung, Therapie sind. Die Genderdysphorie wird in diesem Buch von führenden Fachleuten aus medizinischer, psychologischer und pädagogischer, philosophischer und sozial-ethischer Perspektive betrachtet. Fallberichte und Erfahrungen von Betroffenen ergänzen diese Ausführungen.

Herausgeber:

Bernd Ahrbeck, Prof. Dr., International Psychoanalytic University Berlin. Marion Felder, Prof. Dr., Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften.

  

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233 Seiten, kartoniert, 34 Euro

Stuttgart: Kohlhammer 2022

Gesegnete Kar- und Ostertage

Surrexit Dominus de sepulcro, qui pro nobis pependit in ligno.

Liebe Leser und Leserinnen von „Bildungsethik“,

von Herzen wünsche ich Ihnen gesegnete Kar- und Ostertage sowie erholsame Feiertage.

Ich danke Ihnen für Ihr Interesse an der bildungsethischen Debatte. „Bildungsethik“ wird diese auch weiterhin führen, eingebettet in einen größeren gesellschaftlich-sozialethischen Kontext, wie es das Anliegen dieses Weblogs ist – dabei aber stets orientiert an einem substantiellen Bildungsbegriff, streitbar für die Selbstbestimmung des Einzelnen. Ich freue mich, für dieses Anliegen auch weiterhin auf Ihre Unterstützung und Ihr Interesse zählen zu dürfen.

Mit herzlichen Segenswünschen zum Osterfest, Ihr Axel Bernd Kunze

Aussöhnung weiterhin notwendig: „Ich habe mitgemacht.“

Auch nach der Ablehnung einer Impfpflicht vom Donnerstag muss um der Wahrheit willen daran erinnert werden, welche Ausgrenzungsmechanismen und Diffamierungen eine polarisierende Coronapolitik hervorgerufen hat (und leider immer noch hervorruft) – von Politikern, einem Altbundespräsidenten, öffentlich-rechtlichen Medien, Wissenschaftlern usw. Der Publizist Dushan Wegner hat diese unter dem Motto „Ich habe mitgemacht“ gesammelt und ausgewertet. Ohne Wahrheit und den echten Willen zur Aufarbeitung dieser Verfehlungen gegen die Wert- und Verfassungsordnung unseres Landes wird es keine nationale Aussöhnung geben können, wird zerstörtes Vertrauen nicht wiederhergestellt werden können und wird das gesellschaftliche Klima vergiftet bleiben.