Neuerscheinung: Festschrift für Robert Develey und Dokumentation der 78. deutschen Studentenhistorikertagung

Mittlerweile liegen die Vorträge der 78. deutschen Historikertagung, die anlässlich des Jubliäumsjahres der Universität in Bonn stattfand, in gedruckter Form vor. Der Band würdigt zugleich in Form einer Festschrift den Schweizer Stundentenhistoriker Robert Develey zu Ehren seines neunzigsten Geburtstages:

Sebastian Sigler/Peter Johannes Weber (Hgg.): Die Vorträge der 78. deutschen Studentenhistorikertagung Bonn 2018 zugleich Festschrift anlässlich des 90. Geburtstages von Dr. med. Robert Devley, Basel (Beiträge zur deutschen Studentengeschichte; 35/Studentica Helvetica Documenta et Commentarii; 34), München: Akademischer Verlag München 2019.

Aus Platzgründen wird der Vortrag von Axel Bernd Kunze über Korporierte in der Sozialdemokratie erst im Folgeband erscheinen. Der Beitrag ist aber bereits vorab online greifbar über die Internetseiten des Lassalle-Kreises:

Unvereinbar? Korporierte Sozialdemokraten – Überlegungen zum Verhältnis von Parteien und Korporationen am Beispiel der SPD

Neue Kolumne: Individuelle Freiheit in Gefahr

„In vielen Politikfeldern werde das Freiheitsrecht des Grundgesetzes immer mehr beschnitten, schreibt Dr. Axel Bernd Kunze in seiner Kolumne vom 23. Januar 2020. Der Autor, der als Sozialethiker, Erziehungswissenschaftler und Schulleiter tätig ist, nennt hierfür zahlreiche Beispiele und warnt, dass dadurch der Verfassungsstaat sein eigenes Fundament untergräbt.“ (Wolfgang Kurek, Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, Mönchengladbach)

Die Kolumne aus der „Tagespost“ vom 23. Januar 2020 finden Sie hier:

https://www.ksz.de/aktuelle_nachrichten.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=690&cHash=318fcd5e09336f1a52905e529dd804e5

Die sozialethische Kolumne in der katholischen Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ erscheint in Kooperation mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach.

Die Freiheit soll am höchsten leben! – Gedanken zum 250. Geburtstag Ernst Moritz Arndts

„Überhaupt bin ich nach meiner Ansicht der Dinge und nach der Erfahrung, die ich im Leben gemacht habe, der Meinung, dass für die Freiheit, welche akademische Freiheit heißt, fast gar keine Gesetze gegeben werden müssen, sondern dass die Jugend, welche bestimmt ist, einmal die Geister zu führen, durch das freieste Gesetz der Meinung und dadurch der freiesten Meister, durch den Geist beherrscht werden muss. […] Ja, wir müssen es aller Welt sagen, dass unsere Universitäten, dass die akademische Freiheit und der akademische Geist, der wie ein frischer Samen der Tugend und Ehre über das ganze Vaterland ausgesät wurde, unser Vaterland von Sklaverei errettet habe.“

Der dieses Hohelied akademischer Freiheit gesungen hat, zählte zu den ersten Professoren der als preußischer Reformuniversität gegründeten Bonner Alma mater. Sein Denkmal steht noch heute unweit der Universität auf dem Alten Zoll, hoch über Vater Rhein: 1818 zum Professor für Geschichte berufen, 1821 mit Lehrverbot belegt, 1826 im Zuge der Demagogenverfolgung vom Professorenamt suspendiert und 1840 durch Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert. Die Rede ist von Ernst Moritz Arndt, Mitglied der deutschen Nationalversammlung von 1848. Am vergangenen zweiten Weihnachtstag jährte sich sein Geburtstag zum zweihundertfünfzigsten Mal, in diesem Jahr, am 29. Januar, können wir seinen hundertsechzigsten Todestag begehen.

Ein Blick auf Arndt lohnt aber nicht allein wegen der runden Jubiläen (oder weil der Vortragende selbst ein rheinisches Band jener Universität trägt, an welcher Arndt einmal als Professor tätig war). Ich möchte den heutigen festlichen Abend zum Anlass nehmen, an ein paar seiner Gedanken zu erinnern. Die geneigte Corona mag urteilen, ob Arndt heute noch aktuell ist oder nicht.

 

(1.) Arndts Bildungslehre ist wenig rezipiert worden; diese kennt noch nicht die systematische Unterscheidung zwischen Allgemein- und Fachbildung, wie sie heute Gemeingut ist. Doch gibt es für Arndt eine klare Reihenfolge: „Nur im Amtskleide, nur im Amts- und Berufsgeschäfte müßte man den Bürger sehen, weil er da gilt, bei allen anderen Dingen sollte der Mensch immer vorscheinen, das Große vor dem Kleinen.“ Arndt fragt nicht danach, was der Einzelne im Detail an Kenntnissen und Fertigkeiten für seinen Beruf braucht. Der gebildete Mensch – so seine Überzeugung – werde sich leicht, mit geschärftem Sinn und mit eigenem Urteil in die Bürgerpflichten einfinden.

Die Studentenzeit ist für ihn jene Zeit, in der „eine neue akademische Ritterlichkeit in Tat und Gesinnung“ geschaffen wird. Der heutige Abend zeugt davon, dass eine solche Haltung ein ganzes Leben lang tragen kann. Für das Niveau der gesellschaftlichen Debatte und die Leistungsfähigkeit des Landes bleibt es entscheidend, dass es uns auch heute noch gelingt, ein akademisches Ethos zu vermitteln. Kurzatmige Qualifizierung oder „Googlekompetenz“ reichen hierfür nicht aus – so hat vor einigen Jahren der Verfassungsrichter Johannes Masing in der Frankfurter Allgemeinen gefragt: „[…] braucht ein Arzt, ein Anwalt, ein Richter, ein Lehrer oder ein Bankier nicht eine Grundlage, die ihn mit geistiger Nahrung versieht und ihn in die Lage versetzt, ein berufliches Ethos über Jahrzehnte der Berufstätigkeit durchzuhalten.“

 

(2.) Was wir hier tun, mag für viele veraltet, elitär, nicht mehr zeitgemäß sein. Und doch halten wir daran fest. Warum? Vielleicht kann uns ein zweiter Blick in Arndts Bildungslehre dabei helfen: Wahre Menschenbildung  – so Arndt – wolle den anderen nicht bilden, sondern lasse ihm die Freiheit, sich selbst zu bilden. Arndt wörtlich: „Sich bilden lassen soll man den jungen Menschen, alle Züge der schönen Welt sich frisch in die weiche Tafel einzeichnen lassen; so soll das lustige Reich der Bilder, so das Bild der Bilder, das Leben, in ihm und vor ihm auf- und untergehen. Dies wollen wir Bildung nennen, und die Nichtstörung dieses einfältigen Naturverfahrens heißt uns Menschenbildung im höchsten Sinn.“

Wir betreiben ein lustiges Spiel mit bunten Bändern und Mützen, und doch mit tiefem Ernst. Unser Comment ist kein Selbstzweck. Er realisiert eine akademische Bildungsgemeinschaft, die groß vom Einzelnen denkt, die um den Ernst des Daseins weiß, die das Individuum zur Selbsttätigkeit freisetzen und nicht betreuen will, die zum Selberdenken herausfordert und jene Kräfte weckt, die notwendig sind, sich dem Zwang zum unproduktiven Gruppendenken zu widersetzen. Wenn das gelingt, können Studentenverbindungen Orte sein, die eine substantiell durch Bildung bestimmte Lebensform der Freiheit vermitteln, die ein ganzes Leben lang tragen kann – der heutige Abend zeugt davon. Ernst Moritz Arndt hat es in seiner Schrift über den „deutschen Studentenstaat“ so ausgedrückt:

„Wer diese höchste Zeit des Daseins, diese deutsche Studentenzeit durchlebt und durchgespielt und durchgefühlt hat, wer in ihr gleichsam alle Schatten eines dämmernden Vorlebens und alle Masken einer beschränkteren und mühevolleren Zukunft in verkleideten Scherzen und mutwilligen Parodien durchgemacht hat, der nimmt in das ärmere Bürgerleben, dem er nachher heimfällt, und dem er seinen gebührlichen Zins abtragen muss, einen solchen Reichtum von Anschauungen und Phantasien hinüber, der ihn nie ganz zu einer chinesischen Puppe und zu einem hohlen und zierlichen Lückenbüßer und Rückenbücker der Vorzimmer werden lässt.“

 

(3.) Ich hoffe, dass wir uns alle diesen Reichtum an Anschauungen und Phantasien bewahrt haben. Genießen wir den heutigen Abend – gegen alle Eintönigkeit, von denen sowohl Studium als auch akademischer Beruf nicht immer frei sind. Singen wir und erheben wir unsere Gläser – gegen alle Traurigkeit und Lebensangst, die uns vielleicht auch dann und wann befallen mag. Bekennen wir Farbe – gegen den Hang zur Banalisierung und Verflachung. Bekennen wir uns zu unseren Werten und Traditionen – gegen den Trend zur Unverbindlichkeit. Und feiern wir heute Abend, was Band und Zipf ausdrücken: die Verbundenheit und die Freundschaft im Lebensbund. In diesem Sinne gratuliere ich zum heutigen Zipfeltausch aus ganzem Herzen – wie könnte es anders sein, noch einmal mit einem Wort Ernst Moritz Arndts:

Willkommen denn zun Neuen Jahr!

Laß uns die Blicke fröhlich heben!

Die Freundschaft lebe treu und wahr!

Die Freiheit soll am höchsten leben!

 

(Grußwort, gehalten zum Zipfeltausch der AV Vitruvia am 14. Januar 2020 in Stuttgart)

Rezension: Welche Rechte haben Kinder?

Sollen Kinderrechte explizit in die Verfassung aufgenommen werden? Über diese Frage wird verstärkt diskutiert, seit sich die Große Koalition Ende des vergangenen Jahres daran gemacht hat, ein entsprechendes Vorhaben ihres Koalitionsvertrages abzuarbeiten. Die Frage stand auch im Mittelpunkt der Bamberger Jahrestagung 2018 der rechts- und staatswissenschaftlichen Sektion der Göres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, deren Beiträge im Verlag Duncker und Humblot veröffentlicht wurden:

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Arnd Uhle (Hg.): Kinder im Recht. Kinderrechte im Spiegel der Kindesentwicklung (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zu Philosophie, Politik und Geistesgeschichte; 96), Berlin: Duncker & Humblot 2019, 328 Seiten.

Axel Bernd Kunze rezensiert den Tagungsband in der aktuellen Ausgabe der internationalen Zeitschrift für christliche Sozialethik, AMOS international:

Es gibt, wie der vorliegende Band verdeutlicht, gute juristische Gründe gegen ein eigenständiges Kindergrundrecht, auch wenn die Versuchung groß ist, auf diese Weise politisch ein „Zeichen zu setzen“. Die Verfassung aber sollte nicht für Symbolpolitik missbraucht werden. Gerade Eltern, aber auch Lehrer könnten die Folgen systematischer Brüche in der Verfassungsordnung deutlich zu spüren bekommen. Sollten staatliche Ämter zunehmend verpflichtet werden, die Rechte Minderjähriger anwaltschaftlich zu vertreten, könnte der Staat in die paradoxe Doppelrolle geraten, sowohl Adressat als auch Träger von Grundrechten zu sein.

Ein weiterer Aspekt kommt im Band nur am Rande vor. Hinter Forderungen nach einer stärkeren grundrechtlichen Subjektivierung  von Kindern steckt auch, neue Aufgaben und zusätzliche Ressourcen auf dem Feld der Kinderförderung zu generieren. Unterschlagen wird häufig, dass bei einer Schwächung des Elternrechts bestimmte Entscheidungen gleichfalls stellvertretend für Heranwachsende getroffen werden müssen, und zwar umso stärker, je jünger das Kind ist. Dies stärkt in der Konsequenz administrative Entscheidungswege und fördert institutionelle Einflussnahmen. Wo die Autonomie der Familie zurückgedrängt wird, wächst umgekehrt die sozialstaatliche Organisation. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat sollte allerdings einem gerechten Sparsamkeitsgrundsatz folgen. Zulässig sind demnach Eingriffe des Staates in die Grundfreiheiten seiner Bürger nur, wenn diese das Gesamt an Grundfreiheiten stärken und möglichst gering gehalten werden. Unter dieser Maßgabe wird der Staat vorrangig mit Anreizstrukturen arbeiten müssen; da auch von diesen immer schon eine steuernde Wirkung ausgeht, bleibt begleitend ein hinreichender Minderheitenschutz wichtig. (13. Jg., Heft 4/2019, S. 51 f.)

Neuerscheinung: Sind Internate noch aktuell?

Sind Internate noch aktuell?, fragt Axel Bernd Kunze in der aktuellen Ausgabe der „Schwarzburg“ (128. Jahrgang, Nr. 4/2019, S. 10 –  14):

„Internate erfreuen sich in der Kinder- und Jugendbuchwelt weiterhin einer ungebrochenen Beliebtheit; ansonsten stehen sie gegenwärtig aber nicht im Mittelpunkt des Interesses, weder in der Erziehungswissenschaft noch in der Bildungspolitik. In der Erzieherausbildung oder Lehrerbildung kommen sie so gut wie gar nicht vor. Zum einen werfen die verschiedenen Missbrauchsskandale ihre langen Schatten. Zum anderen hängt Internaten der Ruf an, elitär und ausgrenzend zu sein; nicht selten werden sie daher als Bremsklotz für mehr Bildungsgerechtigkeit und Inklusion im Schulsystem betrachtet.

Doch gibt es vielfältige Gründe, warum ein Leben im Internat sinnvoll sein kann: die Entfernung zur Schule; die familiären Verhältnisse oder die berufliche Situation der Eltern; besondere Bedürfnisse der Schüler und bessere Fördermöglichkeiten; Schwierigkeiten innerhalb der bisherigen Bildungsbiographie; die Möglichkeit, spezielle Interessen gezielt zu vertiefen; der Wunsch, selbständig zu werden …

Internate finden sich an allgemeinbildenden, aber auch berufsbildenden Schulen. […] Baustein innerhalb eines differenzierten Bildungssystems darstellen, das unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden will.“

Lebendiges Zeugnis!?

Mit Ablauf des 74. Jahrgangs hat das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken seiner Fachzeitschrift „Lebendiges Zeugnis“ eingestellt. Die Zeitschrift stand in Tradition der 1884 gegründeten Akademischen Bonifatius-Korrespondenz; künftig soll es eine Kooperation zwischen dem Bonifatiuswerk und der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ geben.

In der letzten Ausgabe der nun eingestellten Zeitschrift vom Dezember 2019 waren die Autoren aufgerufen, ihr Verständnis davon darzulegen, wie ein „lebendigem Zeugnis“ der Kirche heute aussehen sollte. Axel Bernd Kunze, promovierter Sozialethiker und habilitierter Erziehungswissenschaftler, mahnt in seinem Beitrag (Lebendiges Zeugnis, S. 40 f.):

Sorge muss bereiten, wenn Kirche selbst sich nicht mehr getraut, zu ihrer Identität zu stehen. Viele ihrer Angebote erwecken den Eindruck, man wolle nicht den Anschluss verlieren und sich irgendwie im Gespräch halten. Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber. Die Folge ist eine spürbare Banalisierung, am Ende bleibt eine gesinnungsethische Schrumpfform von Christentum übrig.

Mir sagte ein Freund kürzlich, bei ihm wachse immer stärker das Bedürfnis nach Werktagsmessen, da er sich dort keine „dummen Predigten“ anzuhören brauche. Ich weiß, dass viele Priester große Sorgfalt auf die Vorbereitung ihrer Predigten legen. Aber es gibt so etwas wie eine unbewusste Milieubindung, die unsere Sprache (auch mein Berufsstand ist davor nicht gefeit) eintönig, austauschbar und einseitig werden lässt. Ich habe mir dies bei einer Martinspredigt im Herbst gedacht. Recht besehen, ging es nicht um den Heiligen, sondern um eine versteckte politische Botschaft: Wie schön ist es, dass auch Muslime am Martinsspiel teilnehmen. Mag sein. Aber statt Kirchenjahresbezug wieder einmal ein bekannter „Kirchensound in Endlosschleife“: Das Leben ist bunt, Vielfalt gut – der Anlass der Verkündigung wird letztlich austauschbar. (Axel Bernd Kunze)

Eine Kirche, die glaubwürdig und lebendig Zeugnis geben will von dem, wofür sie steht, braucht – so Kunze weiter – theologische Klarheit, Freimut  und ein gesundes Maß an Kreativität.  Die gegenwärtigen Strukturreformen in den deutschen Bistümern spiegeln dies nicht immer wider.

Ein Bistum, das schon seit längerem deutliche Sturkturreformen durchläuft ist Hildesheim. Dessen Oberhirte Heiner Wilmer, jüngster Bischof in Deutschland, skizziert im selben Heft so etwas wie das Programm seiner noch jungen Amtszeit: „Unser Zeugnis in der Diaspora“:

Bis vor kurzem konnte man noch ohne Schwierigkeiten die Diasporasituation der Christinnen und Christen einer volkskirchlichen Mehrheitssituation gegenüberstellen. So gab es auf der einen Seite die geordnete volkskirchliche Situation und auf der anderen Seite die schwierig-herausfordernde Diaspora, in der es schwer, aber nicht unmöglich war, eine ‚Miniatur‘ des Volkskirchlichen zu gestalten. (Heiner Wilmer)

Dieses Kirchenmodell ist an seine Grenzen gestoßen. Die Kirche insgesamt muss sich in Deutschland auf eine „postmoderne“ Diasporasituation einstellen. Notwendig, so Wilmer, sei „eine neue Architektur kirchlichen Zeugnisses“:

Christsein ist ein Weg des Werdens und damit ein Weg der Bildungsprozesse. (Heiner Wilmer)

Ob diese Bildungsanstrengung der Kirche gelingt, wird sich erst noch erweisen müssen … Gegenwärtig bleiben, auch im Beitrag Wilmers, die Konturen einer Kirche, die sich in einer postchristlichen Gesellschaft wird behaupten müssen, noch mehr als vage – zumal keiner weiß, wie sich die kulturell-religiösen Gewichte aufgrund vermehrter Migration künftig verteilen und vor allem konkret ausgestalten werden.

Martin Wrasmann, bis zu seinem Ruhestand vor etwas mehr als einem Jahr im Bistum Hildesheim zuständig für die Weiterentwicklung pastoraler Strukturen, vulgo: Kirchenschließungen, zieht im theologischen Feuilletion „Feinschwarz“ zunächst einmal ein ernüchternde Bilanz:

Die Kirche im Dorf erlebt in ihrer gesellschaftlichen Relevanz einen gewaltigen Marginalisierungsprozess, d. h. der Kirche im Ort wird keine oder wenig Kompetenz in Fragen z. B. von Bewahrung der Schöpfung, Grundsicherung oder sozialer Entwicklung zugesprochen.

Vielleicht liegt gerade hier ein Problem, warum das Zeugnis der Kirche so wenig lebendig wirkt: Wer nach religiösen Antworten sucht, erwartet möglicherweise gerade etwas anderes als Gendersternchen, Klimapanik und Sozialstaatsrhetorik, eben den gegenwärtigen Mainstream der politischen Einheitskoalition, die überall den Ton angibt. Will die Kirche lebendig Zeugnis geben, braucht sie in allererster Linie Kompetenz in Glaubensfragen – und dann meinetwegen auch sozialethische Kompetenz, aber in theologisch reflektierter Form. Stattdessen werden vielerorts die Gottesdienste immer weiter zusammengestrichen und Kirchen geschlossen, ohne überhaupt einen Gedanken daran zu verschwenden, wie liturgisches Leben auch ohne Priester weiterbestehen kann. Leise beschleicht einen der Verdacht, dass die Administration in den Großpfarreien soviel Ressourcen frisst, dass man dann bei den Gottesdiensten „spart“. So wird es nicht gelingen, auf neue Weise Kirche in der Diaspora zu leben … Unserem Land wäre anderes zu wünschen.