Die kontroverse Debatte um die Coronapolitik kann als eine Spielart der allgemeinen Debatte um Freiheit und Verantwortung gelesen. Und diese wird vielfach vom Sozialstaat dominiert. Der Sozialstaat ist wichtig, aber nicht alles – zumal wir in der Tradition des Ordodenkens ein sozialer Rechtsstaat und kein rechtlicher Sozialstaat sind.
Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn alle auf ihre Rechte pochen, keiner aber bereit ist, Verantwortung und Pflichten zu übernehmen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 weist an ihrem Ende darauf hin, aber gerade dieser Artikel wird selten zitiert. Die Frage nach transhumanen Pflichten betrifft nicht allein den Sozialstaat, sondern nicht minder den Rechts- oder Kulturstaat.
Auch ein Rechtsstaat kolabiert letzten Endes, wenn alle nur auf ihre Rechte pochen, aber niemand bereit ist, Pflichten zu übernehmen. Und der Kulturstaat implodiert, wenn – etwa in der Integrationsdebatte – einseitig von Pflichten der Aufnahmegesellschaft gesprochen wird, den zu Integrierenden aber keine Pflichten mehr abverlangt werden dürfen. Die Deutschen müssten sich integrieren, damit die Gesellschaft integrativ wird. Und Integrationskurse sollten abends stattfinden, weil tagsüber schwarzgearbeitet werde – darauf müsse man Rücksicht nehmen. Die Beispiele mögen absurd klingen, aber ich habe beides auf hochrangigen wissenschaftlichen Tagungen gehört – und keiner der anwesenden Wissenschaftler wagte zu widersprechen. Alle stimmten pflichtschuldigst zu. Wenn wir von Verantwortung reden, müssen wir auch von der Verantwortung für die rechtlichen und kulturellen Ressourcen und Grundlagen unseres Zusammenlebens sprechen.
Das Plädoyer für Freiheit klingt hohl, wenn die Verantwortung ausgeblendet (was aber häufig geschieht, etwa in den Debatten um Partizipation oder Kinderrechte). Richtig ist aber auch: Die Gemeinschaft profitiert von der Freiheit. Auf bisher unübertroffene und in keiner Weise überholte Weise – im Gegenteil! – hat dies Humboldt in seiner Ideenschrift „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ ausgedrückt. Wenn wir beherzigen würden, was dort formuliert ist, stünde unser Staats- und Gemeinwesen wesentlich besser dar, davon bin ich überzeugt. Was will ich sagen?
Freiheit sollten wir nicht zu stark von den Lasten für die Gemeinschaft her denken. Vielmehr wird es keine lebenswerte, mit Wohlstand ausgestattete, produktive Gemeinschaft geben ohne Freiheit. Denken wir Freiheit daher von ihrem unverzichtbaren und nicht bezahlbaren Wert für die Gemeinschaft her. Allerdings ist damit eine produktive, erwachsene Freiheit des mündigen Bürgers gemeint. Eine solche Freiheit meint nicht die Freiheit zum Kiffen (der neue Koalitionsvertrag drängt dieses Beispiel auf), sondern die Selbstentfaltung der Produktivität des Einzelnen – und zwar zuvorderst in den Bereichen, die allein durch die freie Selbstentfaltung der Einzelnen gesichert werden und in denen jedes Gemeinschaftshandeln versagen muss. Der Staat kann die Menschen nicht gegen ihren Willen bilden, moralisieren und so fort.