Verlust an Publikationsfreiheit und Enteignung von Autoren

„Ansprüche von Autoren scheren die Bundesregierung offenbar nicht. Das zeigt die Novelle zum Wissenschaftsurheberrecht. Sie opfert die publizistische Freiheit.“ So ein Gastbeitrag von Roland Reuss und Volker Rieble in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. April 2017:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/urheberrecht/reuss-und-rieble-zur-novelle-zum-wissenschaftsurheberrecht-14992353.html

Die Publikationsfreiheit, so steht zu befürchten, wird noch in dieser Legislaturperiode erheblich eingeschränkt werden. Die befürchtete Enteignung der Autoren und geistig Produktiven in Deutschland schreitet weiter voran. Zu Recht schreiben die beiden Autoren am Ende ihres Beitrags:

„Wenn schon die Ministerin für Forschung sich allein als Stimme der Verbände begreift und der Justizminister sich für Individualrechte nicht einsetzt, sondern allein Konsumentenrechte zur Geltung bringt – wann, wenn nicht jetzt, wäre die Stunde einer engagierten Staatsministerin für Kultur und Medien und jener gebildeten Parlamentarier, die über den Tag hinausdenken können? Man kann nicht basale Autorenrechte preisgeben und am Kabinettstisch seine Stimme nicht erheben, wenn die Mächtigen sie einkassieren wollen. Die Glaubwürdigkeit bleibt dabei zuerst auf der Strecke. Es geht um Prinzipien des Rechtsstaats, des Individualschutzes, nicht um ‚Interessenausgleich‘.“

Lesung: Rote Fahnen, bunte Bänder – Korporierte Parteimitglieder

Am 26. April 2017 las Axel Bernd Kunze auf dem Haus der Burschenschaft Hilaritas in Stuttgart aus dem von ihm gemeinsam mit Manfred Blänkner herausgegebenen Band „Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Ferdinand Lassalle bis heute“ (Bonn: J. W. Dietz Nachf. 2016). Der Band ist im Rahmen der Jubiläumstagung „10 Jahre Lassallekreis“ im August 2016 in Tübingen öffentlich vorgestellt worden.

Der Lassallekreis ist ein parteinaher Zusammenschluss korporierter Sozialdemokraten, gegründet 2006 aus Anlass eines Unvereinbarkeitsbeschlusses der SPD, der im Januar 2006 vom Parteivorstand zunächst wieder aufgehoben und später dann in einen begrenzten Unvereinbarkeitsbeschluss gegen die Burschenschaftliche Gemeinschaft umgewandelt wurde. Dennoch ging es bei der Lesung keineswegs um eine parteipolitische Veranstaltung. Das Verhältnis zwischen Parteien und Verbindungen ist zwar im Fall der Sozialdemokratie besonders kritisch, wird aber zunehmend auch bei anderen politischen Richtungen fraglich: Was fangen Parteien noch mit Verbindungen an? Was mit ihren korporierten Mitgliedern? Und was fanden die Verbindungen mit den Parteien an? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt bei Burschenschaften, wollen diese doch ihre Mitglieder zu politischem Denken und Handeln erziehen, wenn auch nicht im parteipolitischen Sinne. Wie viele Mitglieder in den einzelnen Bünden haben noch ein Parteibuch? Der Burschenschaftliche Abend bei der Stuttgarter Hilaritas bot Gelegenheit, diese Fragen zu diskutieren.

Dr. Erhard Eppler betont im Vorwort des Bandes des Bandes, dass eine Volkspartei nicht nach den Motiven derer fragt, die sich in ihr engagieren: „So hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands immer auch adlige Mitglieder gehabt, sogar in ihren Führungsgremien: Georg von Vollmar oder Waldemar von Knoeringen. Der Landesverband Baden-Württemberg wurde lange geleitet von Alex Möller, dem Generaldirektor einer bedeutenden Versicherungsgesellschaft.“ Im Folgenden sollen Auszüge aus der Lesung dokumentiert werden.

Teil I

Was sind Parteien?

Der Begriff „Partei“ entwickelte sich im frühen Mittelalter – vorrangig als Rechtsbegriff – aus dem lateinischen „pars“, vor allem gebraucht im Sinne von Streit- oder Prozesspartei. Erinnert sei an den bereits in der Antike formulierten Rechtsgrundsatz: „audiatur et altera pars“. In dieser Wortherkunft klingen die beiden Bezugspunkte an, die im Parteienbegriff bis heute mitschwingen: Teil und Ganzheit. Parteiengeist wurde schon früh mit Spaltung, Zersplitterung, Uneinigkeit und Eigennutz in Verbindung gebracht. Die deutsche Parteiengeschichte kennt die beständige Kritik am zersplitterten Parteienstaat, aber auch das Gegenstück: eine quasireligiöse Überhöhung der Partei als „Mutter der Massen“. Die Wurzeln der Parteienkritik reichen – so z. B. der Parteienforscher Peter Lösche – weit zurück bis in die „konfessionellen, landsmannschaftlich-territorialen, ständischen, sozialen und wirtschaftlichen Spaltungen […] seit der Reformation des 16. Jahrhunderts“.

In einem weiten Sinne politischer Gruppenbildung hat es bereits in der Vormoderne „Parteien“ gegeben, z. B. rivalisierende Gruppen bei Hofe oder in Stadtrepubliken, Geheimgesellschaften, verwandtschaftliche oder konfessionelle Faktionen in Dörfern und Städten. Diese informellen Zusammenschlüsse spielten allerdings keine anerkannte Rolle bei der Besetzung politischer Ämter. Im konfessionellen Zeitalter entstand der Begriff der Religionspartei, der seit dem Westfälischen Frieden zur Bezeichnung der reichsrechtlich anerkannten Konfessionen verwendet wurde. Politische Parteien im heutigen Sinne sind ein Kind der modernen Demokratiebewegung und des Parlamentarismus. In Deutschland schlug ihre Geburtsstunde im Vorfeld der Märzrevolution von 1848. Bereits in dieser Zeit entwickelten sich die großen weltanschaulichen Strömungen, die bis heute im Parteiensystem erkennbar sind.

Das Grundgesetz räumt den Parteien erstmals in der deutschen Geschichte einen verfassungsmäßigen Rang ein und würdigt positiv ihre Rolle im Prozess der politischen Willensbildung. Parteien sind eine hybride Organisationsform des Dritten Sektors: Sie spielen eine intermediäre Rolle zwischen Gesellschaft und Staat. Es handelt sich um Zusammenschlüsse von Bürgern, die sich zur Erreichung gemeinsamer politischer Ziele zusammengeschlossen haben. Die Mitgliedschaft in ihnen ist freiwillig. Faktisch besitzen die Parteien in Deutschland ein Monopol bei der Aufstellung von Kandidaten für öffentliche Ämter und Mandate.

Stecken die Parteien in der Krise?

Gegenwärtig sind Auszehrungserscheinungen der Parteien nicht mehr zu übersehen. Die traditionellen Milieubindungen werden schwächer, die Zahl der Aktiven sinkt, und das mitunter recht deutliche Vereinsimage der örtlichen Parteigliederungen ist für jüngere politisch Interessierte kaum noch attraktiv. Parteiarbeit ist mühsam, verlangt Durchhaltevermögen, setzt auf lokale Verankerung sowie kommunalpolitisches Interesse und beansprucht ein hohes Maß an disponibler Zeit.

Auch wenn die Veränderungen in den Parteien keineswegs ein in allen Aspekten widerspruchsfreies Bild ergeben, fällt doch auf, dass inzwischen die traditionelle Mitgliederpartei, die sich als vorherrschendes Parteienmodell in der Nachkriegszeit durchsetzen konnte, auf dem Prüfstand steht. Diese basiert auf einer breiten Mitgliederbasis und einer nahezu flächendeckenden Partei­organisation. Noch ist keineswegs entschieden, ob sich die bisherigen Mitgliederparteien auf niedrigem Niveau stabilisieren werden oder ob sich ein ganz neuer Parteityp herausbilden wird: eine professionalisierte Wählerpartei, die sich vorrangig als Zusammenschluss professioneller Politiker und Mandatsträger begreift. Sollte sich der letztgenannte Trend durchsetzen, würden die Verbindungen zwischen Partei und Wählerschaft zunehmend lockerer, die Kommunikation zwischen Regierenden und Wählern parteiunabhängiger. Die Parteien erhielten stärker selbstreferentiellen Charakter.

Schon 1989, aber wenig beachtet, hat der niederländische Soziologe Abram de Swaan auf eine Entwicklung in den westlichen Staaten hingewiesen, die sich der Bildungsexpansion der Nachkriegszeit verdanke und die politischen Beteiligungsmöglichkeiten erheblich verändert habe: Entstanden sei „eine Schicht von wissenschaftlichen Fachleuten und Staatsbeamten […], deren berufliches Fortkommen von kollektiven Einrichtungen abhing. […] Die Akademikergruppen knüpften nicht allein enge Bindungen zum Staatsapparat, sondern unterwarfen weite Teile der Bevölkerung ihrem ‚Regiment‘ – formten sie als Klientel“. Die Debatte verlagere sich zugunsten der Herrschaft von Expertenregimes, die sich politischer Mitsprache entzögen: „Die Klientel der staatsbezogenen Experten ist also überwiegend ein virtueller Kreis geblieben, den Akademiker, Bürokraten und Politiker definieren.“ Die Forderungen der Betroffenen, wenn sie sich überhaupt in Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden artikulieren, gehen in „einem Wust sonstiger Forderungen“ unter.

In radikaler Form wird die Kritik an einer hermetisch abgeschlossenen Parteiendemokratie, die keine echten Beteiligungsmöglichkeiten mehr bietet, derzeit vom postdemokratischen Diskurs aufgegriffen, der mit Beginn des neuen Jahrtausends entstanden ist. Einer seiner Vordenker, Colin Crouch, spricht in seinem Bändchen „Postdemokratie“, von Langeweile, Frustration und Desillusionierung, die sich ausbreiten würden: „Alle Parteien mußten erfahren, daß sie dadurch verwundbar werden. Diese Entwicklung steckt hinter vielen der Korruptionsskandale, die Parteien jeder Couleur in allen Industriestaaten in Mitleidenschaft gezogen haben. Sobald die Vorstellung davon, was den öffentlichen Dienst auszeichnet, der Lächerlichkeit und dem Zynismus preisgegeben und das persönliche Profitstreben zum höchsten Ziel des Menschen stilisiert worden ist, muß man damit rechnen, daß Politiker, Berater und andere es für einen wichtigen und gänzlich legitimen Aspekt ihrer Beteiligung am politischen Leben halten, Einfluß gewinnbringend zu verkaufen.“ Zwar überlebten die formalen Merkmale der Demokratie, doch verlagerten sich die Arenen der politischen Entscheidung: Nicht mehr der Bürger, sondern Interessengruppen hätten das Sagen. Die Wahlbürger würden durch professionelles „change management“ gelenkt; die Politiker imitierten die Regeln des Showbusiness und Marketing.

In der Folge verändere sich die Organisationsstruktur der Partei: Diese bilde nicht mehr ein Modell konzentrischer Kreise, dessen innerer Zirkel durch die Führungsspitze gebildet wird, um den sich dann die weiteren Kreise der professionellen Aktivisten, ehrenamtlichen Funktionäre und Partei­mitglieder ziehen. Ausweiten würden sich die Berater- und Lobbyistenzirkel im Umfeld der führen­den Politiker. Im Zuge der Massenakademisierung dürfte der intermediäre öffentliche Bereich weiter an Einfluss gewinnen. Es entstehe eine Ellipse aus politischen Entscheidungsträgern und Beratern.

Haben sich die Parteien somit überholt?

Dies wäre nicht zu hoffen. Denn der Einzelne wird erst dann handlungs-, artikulations- und mitbestimmungsfähig, wenn er sich mit anderen zusammenschließt. Aus diesem Grund wird es in einer freiheitlichen Gesellschaft mit einem legitimen Pluralismus an Interessen auch immer wieder zur Bildung politischer Interessen- und Gesinnungsgemeinschaften kommen, also zu Parteien – in Deutschland sind dies immerhin knapp um die hundert Groß-, Klein- und Kleinstparteien. Diese sind in erster Linie freie Zusammenschlüsse von Bürgern zur Erreichung gemeinsamer politischer Ziele. Ihre Ausschaltung wäre nur um den Preis der Freiheit möglich.

Dieser Überzeugung gab zu Beginn der Moderne James Madison im zehnten Artikel der „Federalist Papers“ an prominenter Stelle und auf klassische Weise Ausdruck. Die Zeitungsserie gilt als erster Verfassungskommentar der USA.

Madison schrieb damals: „Der Einsatz für religiöse, politische und andere Überzeugungen in Wort und Tat, die Bindung an verschiedene politische Führer, die voller Ehrgeiz um Vorherrschaft und Macht ringen, oder an andere Persönlichkeiten, deren Schicksal die menschlichen Leidenschaften erregt haben – all dies hat die Menschheit immer wieder in Parteien gespalten, sie mit Feindseligkeit gegeneinander erfüllt und sie dazu gebracht, einander eher zu peinigen und zu unterdrücken als um des gemeinsamen Wohls willen zusammenzuarbeiten.“

Die Einschätzung ist deutlich: Parteiungen sind ein Übel. Doch ist Madison davon überzeugt, dass es unter den Menschen immer unterschiedliche Meinungen und Leidenschaften geben werde, solange der Mensch seine Freiheit gebraucht. Keiner Regierung sei es erlaubt, eine Gleichheit an Interessen vorzuschreiben oder gar durchzusetzen: „Freiheit ist für Parteiungen, was die Luft für das Feuer ist; die Nahrung, ohne die es augenblicklich erlischt.“ Im freiheitlichen Gemeinwesen könne es nicht darum gehen, die Ursachen von Partei­ungen zu beseitigen, sondern allein über „Mittel zur Kontrolle ihrer Wirkungen“ nachzudenken.

Der Pluralismus innerhalb des Gemeinwesens erfährt in den „Federalist Papers“ eine positive Würdigung: Parteiungen sind ein notwendiges Übel der freiheitlichen Demokratie. Im Interesse der Freiheit und des Gemeinwohls sind diese nicht auszumerzen, wohl aber zu kontrollieren. Der Auftrag demokratischer Repräsentation spiegelt sich in den Parteien darin wider, dass diese ihrem Charakter nach in erster Linie weltanschauliche Gruppierungen mit einem politischen Gesamtprogramm und nicht bloße Interessenverbände sein sollten. Die Parteien bilden einen wichtigen Transmissionsriemen zwischen gesellschaftlicher und politischer Willensbildung. Ihnen obliegt die Aufgabe, gesellschaftliche Interessen auszuhandeln, zu durchsetzungsfähigen Programmen zu bündeln und getroffene Entscheidungen nachträglich kommunikativ zu vermitteln.

Teil II

Mehr Gemeinsamkeiten als gedacht – Studentische Verbindungen und Parteien

Das deutsche Korporationsstudententum verdankt sich der nach staatlicher Einheit und Freiheit strebenden Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts, die sich als Antwort auf Napoleon unter Studenten formierte. Als Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften von Studenten und Alten Herren mit Studienabschluss fördern diese unter ihren Mitgliedern ein akademisches Bildungsideal und sittliches Verantwortungsgefühl.

Studentische Korporationen haben keinen parteipolitischen Auftrag. Doch vermitteln sie ihren Mitgliedern gehaltvolle soziale Erfahrungen und bieten dem jungen Studenten Hilfestellung, diese geistig zu verarbeiten. Auf diese Weise vermitteln studentische Korporationen wichtige Bildungs- und Sozialisationserfahrungen, die für politisches Engagement fruchtbar gemacht werden können. In ihnen lernen junge Menschen beispielsweise Verantwortungsgefühl, Organisationstalent, Gesprächs- und Diskussionsfähigkeit, Kompromissfähigkeit und Zusammenhalt. Dabei geht es um mehr als funktionales Wissen oder formale Fähigkeiten. Es geht um Vermittlung eines geistigen Orientierungswissens, um Gemeinwohlbindung und um den Aufbau einer sittlichen Haltung, die daran interessiert ist, die Selbstbestimmung des anderen zu fördern und seine Freiheit zu stärken. In studentischen Korporationen geschieht dies in der schöpferischen Auseinandersetzung mit Werten und Traditionen, durch die Einübung von Regeln, das Ringen um gemeinsame Überzeugungen und durch Einbindung in eine konkrete Verantwortungsgemeinschaft, die ein Leben lang trägt. Dies geschieht im Rahmen basisdemokratischer Entscheidungen; in den Conventen studentischer Verbindungen wurde eine demokratische Kultur der Willensbildung und Entscheidungsfindung schon lange vor Einführung der Demokratie als Staatsform praktiziert.

Dies alles mag unmodern klingen, ist aber äußerst aktuell. Denn eine Politik, der die Bindung an ein tragfähiges Orientierungswissen verloren geht, wird insgesamt schnelllebiger, sprunghafter und unberechenbarer, ausgerichtet an medialen Stimmungen und kurzatmigen Umfragetrends. Aktuelle Beispiele gibt es in der Politik zuhauf. Der politische „Pragmatiker des Augenblicks“, der seine Entscheidungen nur noch an momentanen, medial beherrschten Stimmungen ausrichtet und auch noch in immer kürzeren Abständen revidiert – alles frei nach dem Motto: „Hier stehe ich, ich kann auch jederzeit anders“ –, verspielt das Zutrauen in seine Kompetenz und schränkt seine eigenen Entscheidungs- und Handlungsspielräume dadurch selbst ein. Politische Durchsetzungsfähigkeit hängt nicht nur von der richtigen Strategie und Taktik ab, so wichtig beide für das Durchsetzen von Interessen und das Herstellen hierfür notwendiger Mehrheiten auch sind. Der nicht selten beklagte Vertrauensverlust in die Steuerungsfähigkeit und Problemlösekompetenz der politischen Akteure zeigt die Auswirkungen einer Politik, der langfristige Orientierungen verloren zu gehen scheinen und bei der dann nahezu folgerichtig identifizierbare Alternativen, zwischen denen die Wähler sich tatsächlich entscheiden könnten, immer mehr fehlen.

Politische Parteien könnten von den Erfahrungen, dem Engagement und dem Orientierungswissen ihrer korporierten Mitglieder profitieren, dies gilt auch für die SPD. Überdies zeigen sich bei genauerem Hinsehen deutliche Parallelen zwischen Parteien und Verbindungen. Die Mitgliederpartei vermittelt an wichtige politische Sozialisationserfahrungen. Dabei geht es nicht nur um das Erlernen technischer und strategischer Politikfähigkeiten, sondern auch um die Weitergabe gemeinsam geteilter Traditionen und politischer Werte. Diese bestimmen das sozialethische Urteilen und Handeln der Parteimitglieder. So garantieren Parteien dem politischen Prozess über den Weg kollektiver Selbstregulierung ein bestimmtes Maß an Wertebindung und die kontinuierliche Weitergabe „kollektiv gespeicherter“ Erfahrungen. Dem kulturethischen Wissen, das die Parteien vermitteln, kommt eine nicht zu unterschätzende kulturstaatliche Orientierungsfunktion zu: Erst auf Basis einer solchen Wertgrundlage wird die Politik zu nachhaltigen Entscheidungen fähig und ist eine verlässliche Organisation des politischen Prozesses möglich.

In der SPD gründet dieses Bedeutung in der Bindung an eine mehr als hundertfünfzigjährige Geschichte, in welcher sich die Partei – nicht selten gegen harte Widerstände – für den Aufbau einer starken sozialen Demokratie eingesetzt hat. Verpflichtet sieht sich die SPD den Werten des Demokratischen Sozialismus: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Diese Werte müssen sich nach außen sich im Einsatz für den demokratischen Rechts- und Sozialstaat und für eine offene, gerechte und solidarische Gesellschaft bewähren. Verstehen sich studentische Korporationen als ein generationenübergreifender Lebensbund, hat sich die SPD von ihren Anfängen her gleichfalls als eine starke Gemeinschaft Gleichgesinnter verstanden. Sichtbarer Ausdruck hierfür ist, dass sich Sozialdemokraten gegenseitig als Genossen anreden und untereinander duzen.  Die politischen Werte, für welche die Partei steht, sollten sich auch in innerparteilicher Solidarität, im Einstehen für die gemeinsamen Überzeugungen und in einem lebendigen Parteileben zeigen.

Korporierte Genossen

Das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und studentischen Korporationen ist nicht immer einfach gewesen – bis heute. Doch gab es seit Gründung der SPD zu allen Zeiten zahlreiche korporierte Genossen, berühmte und weniger berühmte, die couleurstudentisches und parteipolitisches Engagement miteinander verbanden. An erster Stelle ist hier Ferdinand Lassalle, der Gründer der deutschen Sozialdemokratie, zu nennen. In nicht wenigen Fällen wird man sogar sagen können, dass die gemeinsame Korporations- und Parteizugehörigkeit mehr als Zufall war, sondern vielmehr eine Quelle gegenseitiger Inspiration bedeutete. Auch dies gilt bis heute, wie der 2006 gegründete Lassalle-Kreis als Netzwerk korporierter Sozialdemokraten deutlich macht. Stellvertretend wollen wir mit diesem Band an verstorbene korporierte Sozialdemokraten erinnern: an ihr Leben und Wirken, an ihre politischen Leistungen und ihr gesellschaftliches Engagement.

Die getroffene Auswahl versammelt korporierte Genossen von den Anfängen der Partei bis in die Gegenwart, vom Vormärz und dem Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zur Bundesrepublik und dem wiedervereinigten Deutschland. Die vorgestellten Genossen waren auf Reichs- oder Bundesebene, in der Landes- oder Kommunalpolitik; einige von ihnen waren maßgeblich am Aufbau der ersten deutschen Republik von Weimar oder am Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Einige mussten den Einsatz für ihre politischen Überzeugung und ihren Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrecht – wie Willy Aron und Adolf Reichwein – mit ihrem Leben bezahlen.

Die gesammelten Lebensbilder repräsentieren überdies unterschiedliche Strömungen und Flügel innerhalb der Partei. In ihnen zeigen sich unterschiedliche persönliche Motive oder Lebenserfahrungen, die dazu geführt haben, warum jemand zur Sozialdemokratie gestoßen ist. Die Portraits zeigen zugleich, auf welch unterschiedliche Weise die Einzelnen ihre Partei- und Korporationszugehörigkeit mit dem Eintreten für weitere gesellschaftliche oder kirchliche Anliegen verbunden haben. Unterschiedlich sind auch die Berufe der korporierten Genossen, die der Band vorstellt. Neben Sozialdemokraten, die ihr berufliches Leben vollständig der Politik widmeten, begegnen zum Beispiel Journalisten, Juristen, Manager, Pädagogen oder Wissenschaftler.

Nicht verschweigen können und wollen wir dabei, dass es auch immer wieder zu unüberbrückbaren Konflikten kam, die dazu führten, dass die jeweiligen Betroffenen sich entweder von ihrer Verbindung oder von der SPD trennten. In manchen Fällen lagen der Trennung konkrete Konflikte im Verhältnis zwischen SPD und Verbindungen zugrunde, in anderen Fällen hatte man sich einfach auseinander entwickelt, sei es im persönlichen Verhältnis zur eigenen Korporation oder im gemeinsamen Verständnis sozialdemokratischer Politik. Wir konzentrieren uns in Band auf Genossen, die Zeit ihres Lebens sowohl der SPD als auch ihrer Verbindung die Treue hielten, halten konnten und halten durften. Daher fehlen im Band dann aber auch solche Namen wie Rudolf Breitscheid oder Ernst Reuter.

Nicht zuletzt zeigt sich in den zusammengetragenen Lebensbildern die Vielgestaltigkeit des deutschen Couleurstudentums. Die korporierten Genossen waren Corpsstudenten oder Burschenschafter, Angehöriger paritätischer – jüdisch geprägter – oder christlicher Verbindungen. Am Beispiel Adolf Reichwein zeigt sich, wie der Eintritt in eine Studentenverbindung auch aus der Jugendbewegung erwachsen konnte.

Eines kann das Buch im Letzten aber nicht beantworten (der Rezensent in der F.A.Z. hatte dies als Manko des Bandes angemerkt – eine Leerstelle, die sich allerdings auch im Band „Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler“ zeigt) – hier wären tiefergehende Forschungen, beispielsweise im Rahmen einer Qualifiktionsarbeit notwendig: Wie hat sich die Korporationszugehörigkeit letztlich auf das parteipolitische Engagement ausgewirkt? Welchen Ausschlag hat die korporative Prägung bei politischen Schlüsselentscheidungen gespielt?  Aber selbst bei aufwendiger Recherche wäre es vermutlich nicht möglich, diese Frage aufgrund der Quellenlage befriedigend zu beantworten.

Die Lebensbilder sind auf Anregung des früheren Vorsitzenden des Lassalle-Kreises, Alexander Stintzing, über mehrere Jahre hinweg zunächst für die Rubrik „Korporierte Genossen“ auf den Internetseiten des Lassalle-Kreises entstanden. Eine erste, noch deutlich kleinere Zusammenstellung wurde 2010 anlässlich der Lassalle-Tagung in Tübingen in Manuskriptform an die eigenen Mitglieder herausgegeben. Mit dem vorliegenden Sammelband sollen die Lebensbilder nun in erweiterter Form einer breiteren historisch und politisch interessierten Leserschaft zugänglich gemacht werden – zum Gedenken an jene korporierten Genossen, denen sich der Lassalle-Kreis in besonderer Weise verbunden fühlt, sowie in dankbarer Erinnerung an ihre Treue und Solidarität. Ihr Andenken ist uns, die wir heute politisch aktiv sind, Vermächtnis und Auftrag gleichermaßen. Für die Aufnahme in den vorliegenden Band wurden die Texte noch einmal gründlich gesichtet, angepasst und teilweise erweitert. Eine Erweiterung ist bereits geplant, zumindest in der Onlinefassung auf den Internetseiten des Lassallekreises, möglicherweise auch im Rahmen einer zweiten Auflage.

Drei Buchhinweise

1. … zum Reformationsjubiläum

Eugen Drewermann: „Luther wollte mehr“. Der Reformator und sein Glaube. Im Gespräch mit Jürgen Hoeren, Freiburg i. Brsg.: Herder 2016, 320 Seiten.

Was hat uns Luther heute noch zu sagen? Dieser Frage geht der bekannte katholische Theologe Eugen Drewermann im Gespräch mit Jürgen Hoeren, u. a. Kirchenredakteur beim Südwestrundfunk, nach. Im ersten Teil des Interviewbuches rekonstruiert Drewermann die Entwicklungsgeschichte der Reformation. Interessant aber ist vor allem der zweite Teil des Bandes, in dem es um die bekannten „sola“-Formulierungen Luthers (Allein die Schrift! Allein aus Gnade! Allein aus Glauben! Allein Christus!) sowie die Folgewirkungen der Reformation auf Religion und Gesellschaft geht. Der Band macht deutlich, dass die Reformation und ihre Folgen nur im gesamteuropäischen und konfessionsübergreifenden Zusammenhang angemessen erfasst werden können. Drewermann spitzt zu, pointiert, provoziert … Man spürt, dass es Drewermann darum geht, die religiöse Ernsthaftigkeit Luthers herauszustellen. Das ist ein sympathischer Zug des Buches. Drewermann will ein Gespräch über Luthers religiöse Anliegen in Gang setzen – jenseits des üblichen PR- und Eventrummels, den ein Jubiläumsjahr immer auch hervorbringt.

 2. … zur Debatte um die alternde Gesellschaft

Gunter Geiger, Elmar Gurk, Markus Juch, Burkhard Kohn, Achim Eng, Kristin Klinzing (Hgg.): Menschenrechte und Alter. Ein sozialpolitischer und gesellschaftlicher Diskurs, Opladen u. a.: Barbar Budrich 2015, 320 Seiten.

Die alternde Gesellschaft stellt Deutschland vor neue Herausforderungen, die vermutlich in ihrer gesamten Tragweite heute noch unterschätzt werden. Der Fachkräftemangel in der Altenpflege ist ein früher Vorbote dieser Entwicklung. Wie sollen Pflegeheime und soziale Dienste auf veränderte Familienformen oder die gestiegene gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Vielfalt regieren? … sind weitere Fragen, die sich stellen.

Ein neuer Sammelband geht der Frage nach, wie die Menschenrechte in einer älter werdenden Gesellschaft auf die besondere Lebenssituation alter Menschen hin ausgelegt werden können, damit ein menschenwürdiges Leben für alle unabhängig vom Alter gesichert ist. Braucht es nach der Frauen-, Kinder- und Behindertenrechtskonvention eine eigene Altenrechtskonvention? Der Band stellt diese Frage nicht ausdrücklich, aber diese legt sich nach der Lektüre nahe. Die Beiträge zeigen auf, dass alte Menschen in ihren Rechten – wie die vorgenannten Gruppen – in spezifischer Weise verletzbar sind. Dies würde für ein solches Dokument sprechen.

Der Band liefert einen wichtigen Überblick über zentrale Diskussionspunkte über den Zusammenhang von Alter, Menschenrechten und Sozialpolitik. Die Beiträge sind leicht zugänglich und können auch separat für sich gelesen werden.

3. … zur Elementar- und Grundschulpädagogik

Barbara Brüning: Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Berlin: Lit 2015, 197 Seiten.

Barbara Brüning, Philosophiedidaktikerin an der Universität Hamburg, war eine der ersten, die Philosophieren mit Kindern in Deutschland bekannt machte. Kinder stellen viele Fragen … – nach Gott und der Welt, Gut und Böse, Glück und Gerechtigkeit. Sie wollen weiterdenken, denn es könnte alles ja auch ganz anders sein. In diesem Sinne – mit ihrer Wissbegierde – sind Kinder kleine Philosophen: Sie suchen nach Weltdeutungen, als Alltagsphilosophen, nicht als Fachphilosophen. Barbara Brüning nimmt diese Wissbegierde der Kinder ernst. Gerade das macht ihr Buch so lesenswert. Hier schreibt jemand mit pädagogischem Herzblut, der seine didaktischen Überzeugungen nicht unter Wert verkauft. Die philosophischen Fragen, um die es geht, werden nicht weichgekocht, sondern so dem Alters- und Entwicklungsstand der Kinder entsprechend zubereitet, dass sie noch Biss haben. Philosophieren ist keine „Spielerei“, sondern die Auseinandersetzung mit ernsten Fragen – mit Fragen, die dem Menschen etwas bedeuten sollten; mit Fragen, bei denen es um etwas geht.

Zu jeder philosophischen Grundfrage wird jeweils ein Beispiel aus dem Kindergarten und aus der Grundschule ausführlich vorgestellt: (1) Was kann ich wissen? – Grundschule: Wie kommen die Wörter in meinen Kopf? Kindergarten: Staunen und fragen; (2) Was soll ich tun? – Grundschule: Sollen wir anderen helfen?, Kindergarten: Können Kuscheltiere Freunde sein?; (3) Was darf ich hoffen? – Grundschule: Woher kommt die Welt?, Kindergarten: Was ist ein Traum?; (4) Was ist der Mensch? – Grundschule: Menschen sind ein kleines Wunder, Kindergarten: Meine fünf Sinne. Die Praxisbeispiele sind überzeugend aufbereitet und liebevoll dargestellt.

Der Autorin ist eine überzeugende Einführung in das Philosophieren mit Kindern gelungen, die sicher auch für angrenzende Fächer wie den Religions- oder Deutschunterricht interessante Anregungen zu geben vermag.

Neuerscheinung: Chancen und Grenzen schulischer Integration

In Heft 5/6-2017 der Zeitschrift „Katholische Bildung“ (118. Jahrgang, Mai/Juni 2017, S. 116 – 125) beschäftigt sich Axel Bernd Kunze mit Chancen und Grenzen schulischer Integration:

„Eine gelingende, robuste Integrationspolitik wird für die Zukunft unseres Landes angesichts der politischen Entscheidungen, die getroffen wurden, von entscheidender Bedeutung sein. Bildungspolitik gehört dazu […]“

Zum Aufbau des Beitrags:

1. Grundlegende Voraussetzungen für gelingende Integration

1.1 Verpflichtung auf eine Konzeption formaler Sittlichkeit

1.2 Pflege gesellschaftlicher Orientierungswerte

1.3 Positive Vorstellung des Gemeinwesens von sich selbst

2. Umgang mit Religion in der Schule

2.1 Die pädagogische Bedeutung des Gottesbezugs in der Verfassung

2.2 Befähigung zum Reden über Religion

2.3 Anforderungen an den Ethik- und Religionsunterricht

3. Schlusswort

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag vom letztjährigen Forum Sozialethik „Flucht – Zuwanderung – Integration. Multidisziplinäre und normative Vergewisserungen zu Herausforderungen, das Anfang September 2016 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfand.

Gehören Kinderrechte in die Verfassung?

Gehören Kinderrechte in die Verfassung?

„Es geht nicht darum, die Elternrechte zu schwächen, sondern es geht darum, die Kinderrechte zu stärken.“ – so Uwe Kamp am 7. April 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Hinter dieser Formel scheint eine Form höherer Mathematik zu stecken, die wohl nur in den Sozialwissenschaften aufgehen mag – oder auch nicht. Der Pressesprecher des Deutschen Kinderhilfswerks e. V. reagierte damit auf eine Philippika Christian Geyers im Feuilleton derselben Zeitung zwei Tage zuvor: „Eine Frechheit – Kinder haben im Grundgesetz nichts zu suchen.“

Entsprechende Forderungen der Bundesfamilienministerin, Manuela Schwesig, haben einer schon länger bekannten Forderung der Kinderrechtsbewegung in diesem Wahljahr neuen Aufschwung  verliehen. Fast dreißig Jahre nach Verabschiedung einer eigenen Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sollen eigenständige Kinderrechte nun auch im Grundgesetz festgeschrieben werden. Eine ähnliche Debatte läuft auch in einzelnen Bundesländern, so beispielsweise im Blick auf die baden-württembergische Landesverfassung. Kinder sind besonders verletzbar, das zeigen Fälle von sozialer Verwahrlosung, Missbrauch oder Gewalt bis zur Tötung von Kindern leider immer wieder auf tragische Weise. Wer könnte also einer solchen Forderung widersprechen!?

Die Forderung reiht sich ein in die in der öffentlichen Debatte, in Sozialethik und Sozialwissenschaften allgemein zu beobachtende Tendenz, die Menschenrechte im Zuge einer überschießenden Interpretation immer stärker auszudehnen. Die Menschenrechte sind etwas Gutes. Und vom Guten kann es niemals zu viel geben … Wirklich?

Schon der Alltag lehrt, dass auch die beste Medizin in zu großer Dosis genossen zum Gift werden kann. Es lohnt sich daher, ein wenig genauer hinzuschauen. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht – dies gilt auch und gerade in Verfassungsfragen. Die Nebenwirkungen, vor denen bei jeder Medizin gewarnt wird, könnten beträchtlich sein. Leider sind solche Warnungen bei politischen Schnapsideen nicht üblich.

Abgestufte Menschenwürde durch eine Ausweitung von Kinderrechten

Kinder sind aufgrund ihres Alters- und Entwicklungsstandes in ihren Rechten besonders verletzbar. Die Kinderrechte legen die Menschenrechte daher auf die besondere Lebenssituation von Kindern hin aus, auf deren Schutz- und Förderinteressen. Sie formulieren aber keine eigenen „Menschenrechte“, die nur für Kinder gelten würden – dies wäre ein Widerspruch in sich und würde der Universalität sowie Unteilbarkeit der Menschenrechte zuwider laufen. Angemessen zu schützen, sind die Kinderrechte nur im Zusammenspiel von Beteiligungs-, Förder- und Schutzansprüchen der Kinder. Diese werden nur im angemessenen Zusammenspiel von Eltern- und Kinderrechten angemessen gesichert werden können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich Kindheit als Schutzraum auflöst. Wer nur von Beteiligungsrechten der Kinder spricht, provoziert, Kinder durch eine unangemessene Verantwortungszumutung zu instrumentalisieren und auf neuerliche Art schutzlos zu machen.

Die Kinderrechtsbewegung hat schon seit ihren Anfängen versucht, den  Geltungsanspruch der Kinderrechte weiter auszudehnen. So wurden bei der Abfassung der Kinderrechtskonvention und ihres Rechts auf Bildung antipädagogische Forderungen aus dem radikalen Flügel der Kinderrechsbewegung eindeutig abgewehrt, wie sich an den menschenrechtlichen Formulierung ablesen lässt. Bereits seit längerem ist zu beobachten, wie das Elternrecht gegen das Kindeswohl ausgespielt wird. Das Elternrecht soll zurückgedrängt werden zugunsten einer staatlichen Schutzpflicht. Unterschlagen wird an dieser Stelle, dass bei einer Schwächung des Elternrechts bestimmte Entscheidungen gleichfalls stellvertretend für Heranwachsende getroffen werden müssen, nur dann eben vom Staat. Bei Forderungen von Kinderrechtslobbyisten geht es dann auch nicht selten weniger um direkte Ansprüche von Kindern, sondern  um Macht-, Ressourcen- oder Einflussgewinne für die eigene Organisation, die sich wiederum in neue Referentenstellen, zusätzliche Haushaltsmittel oder vermehrte politische Mitwirkungsmöglichkeiten ummünzen lassen. Ein Beispiel aus eigener Lehrerfahrung mag die Folgen illustrieren: In bildungsethischen Diskussionen mit Studenten oder Schülern fällt auf, dass diese dem Staat häufig mehr Kompetenz zutrauen, über das Kindeswohl zu entscheiden, als der Familie oder den Eltern; entsprechend schnell sind Lernende bereit, eine staatliche Impfpflicht für Kleinkinder oder eine Kindergartenpflicht zu bejahen.

In der aktuellen Diskussion gehen die Kinderrechtslobbyisten noch einen Schritt weiter: Das Kindeswohlprinzip soll mehr sein als eine rechtlich begründete Auslegungsregel für staatliches und rechtliches Handeln. Der Einbezug der Kinderrechte in die Verfassung soll nicht allein dazu dienen, bestimmte Ansprüche von Kindern stärker abzusichern. Daher wird der Kompromiss, das Kindeswohl als Staatszielbestimmung zu verankern, als unzureichend abgelehnt. Angestrebt wird vielmehr eine umfassende Positivierung der Kinderrechte unter dem Vorzeichen eines material gefüllten Kindeswohlprinzips (offen bleibt dann in der Regel die Frage, wer eigentlich weiß, was für das Kindeswohl das Beste ist). Vielmehr zielt die Forderung „Kinderrechte in die Verfassung“ darauf, auf allen Ebenen staatlichen Handelns – wie Kamp schreibt – „die Konsequenzen für Kinder bei allen Entscheidungen vorrangig zu beachten“, vom Jugendhilferecht über das Straßenverkehrsrecht und die Bauordnung bis zum Bildungsrecht und der Haushaltsgesetzgebung. Kamp geht in der Frankfurter Allgemeinen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht in der Folge entsprechende Forderungen auch einklagbar machen würde.

Wer genau hinschaut beim Lesen, dem fällt das Wörtchen „vorrangig“ auf. Wenn gemeint ist, was hier geschrieben steht, dann sollen die Rechte von Kindern per se höher gewichtet werden als die Rechte von Erwachsenen, auch der Eltern der Kinder. An dieser Stelle geht es nicht allein um die Sicherung der Rechtsansprüche von Kindern. Hier wird eine Gewichtung vorgenommen, mit der Kindern a priori ein höheres Maß an Menschenwürde zugebilligt wird als volljährigen Personen. So können die Menschenrechte doch wohl nicht gemeint sein; die Menschenwürde und der grundsätzliche Freiheitsanspruch der Person wären damit abwägbar geworden.

Rechtssystematische Folgen bedenken  

Die Menschenrechte zielen auf die Freisetzung des Einzelnen zur Selbsttätigkeit und sichern die aktive Teilhabe am sozialen Leben. Beides ist gleichermaßen schutzwürdig. Würde das Menschenrecht in die eine oder in die andere Richtung verkürzt, würde dieses zu einem paraethischen Instrumentarium, dessen Sinnhaftigkeit sich nicht mehr vom Subjekt, dem Träger des Rechts, her erschließen würde, sondern beispielsweise von den Interessen des Staates, der Wirtschaft oder der Gesellschaft.

Vielmehr kann in der Menschenrechtsdiskussion eine Vermittlungsproblematik nicht übergangen werden. Über diese ist im rechtlichen und politischen Diskurs unter stets sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder von neuem zu reflektieren. Der Einzelne kann seine Identität nur aus der Mitwirkung an der menschlichen Gesamtpraxis gewinnen, nicht im Hinblick auf eine bestimmte biographische oder gesellschaftliche Bewährungssituation. Gleichwohl kann die Realisierung der Menschenrechte von diesen Bewährungssituationen nicht absehen, sondern muss dazu beitragen, die Einzelnen zu befähigen, mit diesen Situationen umgehen zu können. Gerade deshalb gehört auch ein Recht auf Bildung zu den Menschen- und Kinderrechten.

Die Menschenrechte realisieren sich weder in der Identität zwischen Mensch und Bürger noch in einem Dualismus zwischen beiden. Vielmehr wird zwischen beiden Seiten – der allgemein menschlichen und der bürgerlichen – zu vermitteln sein. Entsprechend wird das Menschenrecht auch nur dann umfassend realisiert werden können, wenn die Spannung zwischen gerechtigkeitstheoretischen, rechtlichen oder politischen Überlegungen aufrecht erhalten bleibt. Die rechtliche Logik der Menschenrechte, nicht zuletzt deren Justiziabilität oder die Kohärenz der Gesamtrechtsordnung, darf nicht um gesellschaftsreformerischer Anliegen willen übersprungen werden.

Rechtssystematische Fragen kommen sozialethisch keineswegs neutral daher, auch wenn sie fachwissenschaftlich zu klären sind. Zu vermeiden ist, dass sich durch eine mangelhafte rechtssystematische Prüfung ungewollt an anderer Stelle grundrechtseinschränkende Wirkungen ergeben, die einer wirksamen und umfassenden Realisierung menschenrechtlicher Ansprüche zuwiderlaufen.

Gegenüber der Forderung, die Kinderrechte in der Verfassung zu positivieren, ist erhebliche Vorsicht geboten. Diese Forderung ist mit politischen Interessen aufgeladen und weckt nicht geringe Erwartungen im Hinblick auf konkrete Ansprüche. In der Verfassungspraxis könnte sich entweder herausstellen, dass sich diese Ansprüche entgegen den Erwartungen der Befürworter doch nur schwerlich aus dem veränderten Verfassungstext ableiten lassen, oder es könnten ungewollt verfassungsrechtliche Selbstbindungen provoziert werden, die mit anderen Grundrechtsansprüchen kollidieren, seien es beispielsweise Elternrechte (wobei nicht übersehen werden sollte, dass das Elternrecht letztlich ein Kindesrecht ist, vorrangig von den eigenen Eltern und nicht vom staatlichen Kollektiv erzogen zu werden) oder auch eigene Schutzansprüche der Kinder.

Im ersten Fall verblieben die angezielten Änderungen auf Ebene der Verfassungssymbolik, ohne dass politisch tatsächlich ein wirksamer und verbesserter Kinderschutz erreicht würde. Der Verfassungsjurist Christoph Möllers verwirft Staatsziele im Grundgesetz überhaupt, da sie sich entweder im besseren Fall als folgenlos oder im schlechteren als verfassungspolitisch gefährlich erweisen: „Staatsziele im Grundgesetz sind undemokratisch. Eine Verfassung, die den Tierschutz oder die Förderung von Sport und Kultur als Ziele definiert, wie geschehen ist oder diskutiert wird, viele andere Ziele aber nicht, schafft damit entweder einen folgenlosen Text oder eine Selbstbindung demokratischer Entscheidungen, für die es keine Rechtfertigung gibt.“ (Möllers: Demokratie – Zumutungen und Versprechen, München 2008, Abs. 162). Staatsziele konstruieren Aufgaben des Staates, die der verantwortungsethischen Abwägung mit konkurrierenden Staatsaufgaben sowie der demokratischen Aushandlung im Voraus entzogen sind.

Im zweiten Fall könnten langwierige politische und verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen die Folge sein, der Rechtsfrieden könnte erheblich Schaden nehmen. In beiden Fällen ist zu fragen, ob nicht andere menschenrechtlich motivierte politische Anstrengungen unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts zielführender wären, Schutzansprüche von Kindern umfassender zu sichern und die Lebenssituation benachteiligter Kinder zu verbessern. Bei menschenrechtlichen Fragen handelt es sich um einen sehr sensiblen Bereich. Um ungewollte Folgekosten bei politischen Veränderungen, die in der Regel keinen Abbau an Ungerechtigkeiten, sondern nur deren Verlagerung mit sich bringen, insgesamt zu vermeiden, sollte bei gravierenden Systemveränderungen entsprechend vorsichtig abgewogen und wohlinformiert entschieden werden. Das Neue hat sich vor dem Bewährten zu rechtfertigen, nicht umgekehrt das Bewährte vor dem Neuen.

 

Kinderrechte ins Grundgesetz – die Forderung rührt das Herz und hat daher sehr gute Chancen,  in diesem Wahljahr emotional gehört zu werden. Dabei sollten der rechtssystematische und sozialethische Sachverstand nicht auf der Strecke bleiben. Die Folgen könnten beträchtlich sein, wenn sich Forderungen der radikalen Kinderrechtsbewegung im Zuge einer maßlos gewordenen Verfassung vor Gericht durchsetzen sollten.

Eine Kostprobe davon, was dies heißen könnte, durfte ich vor einigen Jahren auf einer Tagung in der Sozialen Arbeit beobachten. Dabei forderte eine vehemente Befürworterin von radikalen Kinderrechten aus Skandinavien, dass Kinder aufgrund eigenständiger Beteiligungsrechte nicht gegen ihren Willen aus ihrer vertrauten Umgang gerissen und zum Umzug gezwungen werden dürften, etwa wenn Eltern aus beruflichen Gründen den Wohnort wechselten. Das Elternrecht müsste in diesem Fall zurücktreten, die Kinder hätten Anspruch auf außerfamiliäre Betreuung durch den Staat. Denkbar wäre auch, das Beispiel weitergedacht, dass ein Verfassungsgericht den Eltern den Umzug und damit die berufliche Veränderung verbieten würde – denn immerhin sollen die Interessen der Kinder ja „vorrangig“ behandelt werden. Die Tagungsteilnehmer waren entsetzt. „Nein, so habe  man das natürlich nicht gemeint.“ Das mag ehrlich gewesen sein, aber gerade deshalb sollte man bei Schnapsideen mit dem „Trinken“ aufhören, bevor die Sinne gänzlich vernebelt sind – auch in einem Wahljahr, in dem mit Kindeswohlforderungen gut auf Stimmenfang zu gehen ist. Der Kater könnte am Ende gewaltiger sein als nach einem Vollrausch.

Neuerscheinung: Achte Auflage des Staatslexikons

Als Mitautor (Art. „Christliche Bildungs- und Eriehungsverbände“) weise ich gern auf die Neuauflage des STAATSLEXIKONS, des „Flaggschiffs“ der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, hin. Das Staatslexikon erschien erstmals 1889, in diesem Jahr erscheint es in achter, völlig neu bearbeiteter Auflage im Verlag Herder. Der erste von fünf Bänden soll im April 2017 auf den Markt kommen; bis zum 31. Juli 2017 ist der Erwerb zum Einführungpspreis (390 statt 440 Euro für fünf Bände) möglich. Am 26. April wird das Werk in Berlin an den Bundestagspräsidenten, Professor Dr. Norbert Lammert, übergeben.

Weitere Informationen: http://www.staatslexikon.uni-passau.de/

Vortrag: Lehren an Fachschulen

Auf Einladung von Herrn Professor Dr. Axel Jansa, der im Studiengang „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ lehrt, hielt der Gesamtschulleiter der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik, Herr Privatdozent Dr. Kunze, in diesem Sommersemester 2017 erneut einen Gastvortrag zum Thema „Didaktik und Methodik an Fachschulen“ an der Hochschule Esslingen. Der Vortrag ist eingebettet in das Seminar „Qualifikation und Professionalisierung“. Ziel ist es, den Studierenden der Kindheitspädagogik, die Lehrtätigkeit an einer Fachschule für Sozialpädagogik als mögliches Arbeitsfeld für ihre spätere Berufstätigkeit vorzustellen. Die Evangelische Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt steht in einem engen Austausch mit der benachbarten Hochschule in Esslingen. Beide Seiten tauschen sich regelmäßig über aktuelle Entwicklungen innerhalb der Kindheitspädagogik aus. Wer sich nach seiner staatlichen Anerkennung als Erzieherin oder Erzieher in Esslingen akademisch weiterqualifizieren möchte, kann sich bis zu zwei Semester aufgrund der im Rahmen der Fachschulausbildung erworbenen Kompetenzen anrechnen.

Ostergruß

An den Kar- und Ostertagen feiern wir das Leiden, Sterben und die Auferstehung Jesu: für Christen Höhe- und Mittelpunkt des ganzen Jahres. Wer die christliche Osterfeier begeht, feiert zugleich seine eigene Auferstehung. Das ist die österliche Hoffnung wider alle Hoffnungslosigkeit, die Botschaft vom Sieg des Lebens über den Tod.

Die kommenden Feiertage geben uns die nötige Zeit und Muße, Ostern zu feiern. Hoffen wir, dass unsere christliche Feiertagskultur noch lange lebendig bleibt. Weihnachten, Karfreitag oder Allerheiligen stehen auch innerhalb der säkularisierten Gesellschaft für bestimmte Erzählungen und Werte. Unser Gemeinwesen wird sein Gesicht verändern, wenn wir uns auf andere Erzählungen festlegen, die unser Zusammenleben prägen sollen. Wenn wir den Karfreitag durch einen muslimischen oder säkularen Feiertag ersetzen würden, ginge mehr verloren als ein vielleicht sonniger Frühjahrstag, den man gut für eine erste Radtour nutzen kann. Der Karfreitag hält die Erinnerung wach, dass menschliches Leben auch im Leid seine unvergleichliche Würde behält und dass das Schwache unsere Solidarität verlangt – weil Gott seine Solidarität am Kreuz gezeigt hat.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen gute, erholsame sowie gesegnete Kar- und Ostertage. Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie mein Weblog interessiert verfolgen.

Die Migrationskrise – Zerreißprobe für die Christliche Sozialethik?

„Zerreißprobe Flüchtlingsintegration“ (Freiburg i. Brsg. 2017) lautet ein sozialethischer Titel, der zu Jahresbeginn erschienen ist. Diese „Zerreißprobe“ zeigt sich auch in der Disziplin selbst. Exemplarisch für diese Einschätzung steht die 34. gemeinsame Medientagung des Cartellverbands Katholischer Deutscher Studentenverbindungen (CV) und der Hanns-Seidel-Stiftung im fränkischen Kloster Banz. Der Staatsrechtslehrer Josef Isensee, Verfasser des Staatsartikels im Handbuch der Katholischen Soziallehre (Berlin 2008), nannte im Rahmen dieser Tagung die weitreichende, einseitige Grenzöffnung Deutschlands im Sommer 2015 einen „humanistischen Staatsstreich“. In einem „Rausch der Moral“ habe man auf jede rechtliche und gesetzliche Grundlage verzichtet. Gänzlich anders hingegen argumentierte im selben Rahmen der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick: Die weitreichende Flüchtlingsaufnahme sei ein „Gebot christlicher Nächstenliebe“ gewesen. Die Bundeskanzlerin habe im Sommer und Herbst 2015 gar nicht anders handeln können. Deutlicher könnten die unterschiedlichen Einschätzungen innerhalb der sozialethischen Debatte nicht zu Tage treten.

Differenzierung oder Vereindeutigung?

Ein neues Diskussionspapier mit dem Titel „Europa und Migration“ aus der Reihe „Kirche und Gesellschaft“ (Nr. 438, Köln 2017), der sog. „Grünen Reihe“ der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach, identifiziert die Fronten innerhalb der sozialethischen Integrationsdebatte als „partikularistische“ und „universalistische Vereindeutigungen“: Der Anspruch gemeinwohlverpflichteter Politik werde auf die nationale Ebene begrenzt, politische Ethik auf Staatsethik reduziert, menschenrechtliche (Schutz-)Ansprüche würden auf Bürgerrechte zurückgefahren – so wird die Debatte zusammengefasst. Ferner kritisiert das Papier ein Spiel „populistischer Kräfte mit der Angst der Menschen“ sowie europäische Solidaritätsappelle ohne hinreichende gesellschaftliche Fundierung.

Eingefordert wird eine gesellschaftliche Debatte über die gegenseitigen Erwartungen und wechselseitigen Verpflichtungen, die sich aus der Migrations- und Flüchtlingskrise ergeben. Doch fällt auf, dass die Sozialethik, die sonst gern den hohen Wert von Partizipation, Beteiligungsgerechtigkeit und demokratischer Mitsprache beschwört, in diesem Fall scheinbar mehrheitlich kein Problem mit einer Selbstermächtigung des Kanzleramtes hat. Bis heute ist über die weitgehende Grenzöffnung nicht parlamentarisch entschieden worden.

Staat und Nation sind zum blinden Fleck der Sozialethik geworden. Der Jubiläumskatholikentag von Leipzig hat nationalkonservative und -liberale Positionen von vornherein aus dem gemeinsamen Gespräch wortwörtlich ausgeladen und das kirchlich geduldete Gesprächsspektrum so erheblich eingeschränkt. Der Vorsitzende des gastgebenden Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, erklärte im selben Jahr im Rahmen der Görres-Gesellschaft die Ausbildung von Nationalstaaten zum historischen Problemfall und forderte eine Rückbesinnung auf nationalstaatskritische Positionen des neunzehnten Jahrhunderts, beispielhaft nannte er dabei Novalis oder Joseph Goerres.

Die gegenwärtige Staatsvergessenheit der Christlichen Sozialethik zeigte sich auch auf der Pressekonferenz des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz nach der diesjährigen Frühjahrsvollversammlung der katholischen Bischöfe. Kardinal Marx erweckte dabei eher den Eindruck eines Regierungssprechers als eines Oberhirten. Positionen, die vom linksliberalen Mainstream abweichen, wurden in seinem Pressestatement recht holzschnittartig abqualifiziert. Wer auf die notwendigen nationalen Grundlagen unseres Verfassungs-, Rechts- und Kulturstaates verweist, muss sich vorwerfen lassen, nationale Interessen „einseitig“ zu betonen oder einem „nationalistischen Kulturverständnis“ das Wort zu reden. Abweichende politische Meinungen geraten zur Karikatur, wenn im Statement des Kardinals von politisch einseitigen Antworten die Rede ist, die „auf Abschottung und Rückkehr in längst vergangene Zeiten“ vemeintlicher Sicherheit hinauslaufen. Eine notwendige Abwägung zwischen berechtigten Sicherheitsinteressen und humanitären Verpflichtungen, zwischen den Anforderungen staatlicher Leistungsfähigkeit und globaler Solidarität findet hier nicht statt. Etikettierung ersetzt das Argument, das Tabu dominiert über eine vorurteilsfreie Diskussion.

In der sozialethischen Debattte wird gern ein Mehr an Differenzierung eingefordert. Nicht zuletzt wird diese Erwartung gegenüber jenen geäußert, die ein stärkeres Gewicht staatsrechtlicher und staatsethischer Argumente in der Migrations- und Integrationsdebatte anmahnen. Pikanterweise verfallen solche Appelle leicht selbst in binäre Zuschreibungen, etwa wenn im einleitend genannten Diskussionspapier „Verantwortungsethik“ einfach mit „Realpolitik“ gleichgesetzt wird. Positionen, die davor warnen, die staatsrechtlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, werden fast in die Nähe zur Pathologie gerückt.

Allerdings sind Differenzierungen kein Selbstzweck. Umgekehrt können gerade notwendige Vereindeutigungen eine wichtige kognitive und intellektuelle Leistung darstellen. Angesichts einer schleichenden Umdefinition des Staatsvolkes (Merkel am 25. Februar 2017 in Stralsund: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“) wäre gerade mehr Eindeutigkeit gegenüber unserer Verfassung wünschenswert. Denn geraten die Grundlagen des Staates erst einmal ins Rutschen und brechen kulturelle Konflikte gewaltsam auf, steht viel auf dem Spiel. Rhetorische Beschwichtigungen gegenüber jenen, die einen realen Kontrollverlust des Staates und dessen rechtliche, ökonomische oder kulturelle Überforderung befürchten, werden dann nicht mehr ausreichen. Heute können solche Stimmen an den Rand der öffentlichen Debatte gedrängt werden, obschon die Migrationskrise noch keineswegs beendet ist. Durch verstärkten Familiennachzug, sich vergrößernde Flüchtlingsströme aus Afrika oder weitere Krisenherde im Nahen und Mittleren Osten könnten sich schnell neue Konflikte größeren Ausmaßes ergeben.

Sozialethik in der Sackgasse?

Daniel Deckers hat in einem Leitartikel der F.A.Z. vom 21. März 2017 darauf hingewiesen, dass die Kirchen in der gegenwärtigen Migrationskrise notwendige Debatten eher verhindert als zur Entwicklung politischer Lösungen beigetragen hätten: Die Bischöfe wüssten nur, „was nicht gehe: Grenzkontrollen, Abschiebungen, sichere Herkunftsländer, humanitäre Korridore. Ebenso zuverlässig werden das Gefühl des Heimatverlustes und die politisch-sozialen wie kulturell-religiösen Konfliktpotentiale einer Einwanderungsgesellschaft kleingeredet, wenn sie nicht gar geleugnet werden.“ Wenn bestimmte Fragen jedoch nicht zugelassen werden, besteht die Gefahr, dass sich diese einmal eruptiv entladen.

Nicht zuletzt sollten wir wieder zu einem realistischen Umgang mit Grenzen zurückfinden. Grenzen zu ziehen und mit diesen verantwortlich umzugehen, ist eine wichtige Kulturleistung, die der Mensch entwickelt hat. Grenzen schützen, stiften Identität und bewahren gerade kulturelle und sprachliche Vielfalt. Niemand würde auf die Idee kommen, sein Haus oder seine Wohnung nicht abzugrenzen. Ein Staat, der seine äußeren Grenzen nicht mehr zu schützen gewillt ist, verschiebt das Problem nach innen: Private Sicherheitsmaßnahmen, vermehrte Kontrollen und damit verbundene Eingriffe in die Privatsphäre im innerstaatlichen Zusammenleben sind die Folge. Schon der Volksmund weiß: Allein die Dummheit ist grenzenlos.

Kirchen und Sozialethik sollten sich als verantwortliche Gesprächspartner in die aktuellen Debatten um unser Staats- und Gesellschaftsverständnis einbringen – keine Frage. Doch steckt die Debatte momentan in der Sackgasse, hier ist dem neuen Diskussionspapier aus der Grünen Reihe zuzustimmen. Aus dieser Sackgasse herauszukommen, setzt voraus, das Selbstverständnis gegnerischer Positionen sachlich, fair und unvoreingenommen wahrzunehmen.

Wer den Nationalstaat nicht als „Problemfall der Geschichte“ verabschieden will, sondern diesen auch weiterhin als verlässliche Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens sowie als Garant innerer wie äußerer Sicherheit ansieht, leugnet damit nicht zwangsläufig die besonderen Herausforderungen einer globalisierten Welt. Wer ein stärkeres Gewicht staatsethischer und staatsphilosophischer Argumente in der Migrationsdebatte einfordert sowie Respekt vor der bestehenden Verfassungslage anmahnt, reduziert politische Ethik nicht zwangsläufig auf Staatsethik. Vielmehr würde eine poltische Ethik ohne Bezug auf Staat und Nation der herrschenden Verfassungswirklichkeit nicht gerecht. Denn ohne den Souverän, das Staatsvolk, gebe es auch kein Grundgesetz. Wer die Kreierung eines neuartigen „Rechts auf ein besseres Leben“, das letztlich gar nicht justiziabel wäre, kritisiert, reduziert damit noch lange nicht die Menschen- auf Bürgerrechte. Es gibt berechtigte, unabweisbare humanitäre Schutzansprüche. Diese zu gewährleisten, setzt aber gerade einen handlungsfähigen Staat, den Schutz der inneren wie äußeren Sicherheit, die Bindung an Recht und Verfassung sowie eine geordnete Asyl- und Einwanderungspolitik voraus. Wer vor einem überzogenen Moralismus in der gegenwärtigen Migrationsdebatte warnt, reduziert Ethik nicht einfach auf „Realpolitik“.

Auswege aus der Sackgasse

Will die Sozialethik aus ihrer Sackgasse herauskommen, muss die Disziplin zwei grundsätzliche Fragen beantworten – jenseits einer mitunter äußerst emotional aufgeheizten Tagespolitik.

Zum einen: Welcher Stellenwert soll Staat und Nation sozialethisch weiterhin zukommen? Die Nation ist mehr als eine Wärmestube für verunsicherte Ewiggestrige. Auch wer mehr suprastaatliche Kooperationen einfordert, geht dabei weiterhin von souveränen Staaten aus, die zusammenarbeiten und gemeinsam nach Lösungen suchen. Verantwortung muss konkret werden. Sie muss ausgehandelt, organisiert und abgesichert werden. Wirksame Verantwortung wurzelt in den konkreten Beziehungen einer Schicksals- und Solidargemeinschaft, die sich in die Pflicht nehmen lässt. Und dies wird, wie die Migrationskrise deutlich gezeigt hat, weiterhin die Nation bleiben.

Die Europäische Union ist ein Bund von Staaten mit eigenen Interessen auf gemeinsamer Wertgrundlage – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein solcher Zusammenschluss kann helfen, den Herausforderungen einer globaler gewordenen Welt, stärker gerecht zu werden und internationale Aufgaben besser zu bewältigen. Für die demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung eignen sich suprastaatliche Zusammenschlüsse aber nur begrenzt, schon allein wegen sprachlicher Barrieren und fehlender identitätsstiftender Elemente. Wer immer mehr Entscheidungen in suprastaatliche Institutionen auslagert, stärkt technokratische Strukturen und schwächt die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger. Solidarität und Verantwortung entstehen nicht allein durch rationale Zustimmung, wie es beispielsweise mit dem Konzept eines Verfassungspatriotismus versucht wird. Solidarität und Verantwortung bleiben nur dann lebendig, wenn deren emotionale Seite nicht unterschlagen wird.

Allein rechtlich und politisch handlungsfähige Staaten, die nicht chronisch überfordert sind, die nicht erpressbar sind, nicht von inneren kulturellen Konflikten zerrieben werden und die das Vertrauen der eigenen Bevölkerung genießen, bleiben berechenbar. Nur solche Staaten werden auf Dauer mit anderen friedlich zusammenleben können. Die Debatte um globale Abhängigkeiten und internationale Solidaritätspflichten darf nicht dazu führen, einen fairen Diskurs über die künftige Rolle des Staates in Europa zu unterdrücken.

Zum abendländischen Erbe gehört nicht zuletzt die Trennung von Politik und Religion bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten. Dies verbietet sowohl politische Heilslehren als auch voreilige politische Gewissheiten von Seiten der Kirche. Wenn Christen sich politisch zu Wort melden, muss dies sachkundig geschehen. Innerhalb des demokratischen Spektrums links wie rechts der Mitte werden Christen in politischen Sachfragen aber auch zu unterschiedlichen Antworten finden können. Dies bleibt innerkirchlich auszuhalten. Wer den politischen Streit über die künftige Rolle des Staates, den Umgang mit Zuwanderung oder das angemessene Verständnis von Integration gerade mit sozialethischen Argumenten unterbindet, funktionalisiert entweder die Religion für (partei-)politische Zwecke oder dogmatisiert ohne Not staatspolitische Kontroversen – am Ende könnten sowohl die Interessen der eigenen Bevölkerung wie auch derjenigen, die dringend auf Schutz und Asyl angewiesen sind, auf der Strecke bleiben.

Zum anderen: Welcher Stellenwert kommt den Menschenrechten sozialethisch zu und wie lassen sich diese begründen? Die Menschenrechte sind kein beständig auszuweitendes Instrument permanenter Gesellschaftsreform – dies würde sie unnötig politisieren. Sie schützen fundamentale Freiheitsansprüche des Einzelnen, die um der Menschenwürde willen nicht angetastet werden dürfen. Sie sind vorstaatliches Recht, bleiben aber auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen, der sie garantiert und wirksam durchsetzt.

Viele Stimmen der zeitgenössischen Sozialethik verhalten sich an dieser Stelle indifferent: Auf der einen Seite wird darauf verwiesen, dass die Handlungsmacht des Staates in einer globalisierten Welt nicht überschätzt werden dürfe. Auf der anderen Seite erwartet man aber gerade vom Staat ungeheure Integrations-, Sozial- und Transferleistungen. Diese Widersprüche kennzeichnen letztlich auch die Vorschläge am Ende des genannten Diskussionspapieres „Europa und Migration“. Formuliert werden diese in Form von drei Vorrangregeln: (1.) Gleiche Würde aller Menschen und menschenrechtliche Anerkennung genießen Vorrang vor allen Differenzen. (2.) Die Person hat Vorrang vor jeder gesellschaftlichen Institution. (3.) Das Gemeinwohl hat Vorrang vor partikularen Interessen.

Die Menschenrechte schützen die gleiche Würde aller, ermöglichen aber als Freiheitsrechte gerade Differenzierung – auch in kultureller Hinsicht. Verfehlt wäre es, einen Gegensatz zwischen Menschenrechten sowie freiheitlichem Rechts- und Verfassungsstaat aufbauen zu wollen. Gerade die Mannigfaltigkeit der Staatenwelt, wenngleich sie auch Auslöser zwischenstaatlicher Konflikte sein kann, ermöglicht die Entfaltung kollektiver Zugehörigkeit und kultureller Eigenart und garantiert damit Individualität und Freiheit.

Und noch etwas fällt auf: Auf der einen Seite wird ein Vorrang der Person vor jeder gesellschaftlichen Institution behauptet, auf der anderen Seite aber auch ein Vorrang des Gemeinwohls – ein Widerspruch? Freiheit im gemeinsamen Zusammleben lebt nicht vom Entweder-oder, sondern von polaren Grundspannungen, die im freiheitlichen Gemeinwesen nicht in die eine oder andere Richtung aufgelöst werden dürfen. Vielmehr bedarf es eines vermittelnden Bindegliedes: Die staatliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit bleibt als jener Ort wichtig, an dem die notwendige Vermittlung zwischen individual- und gemeinwohlbezogenen Interessen geschieht. Suprastaatliche Verbünde können dies nicht leisten. Die Sozialethik täte gut daran, die Rolle des Staates nicht unbedacht kleinzureden oder gar zu beschädigen.

Verwendete Literatur

Daniel Deckers: Rote Blitze, rote Linien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21. März 2017, S. 1.

Jürgen Fuchs, Wolfgang Braun, Christoph Dicke: Humanistischer Staatsstreich oder Gebot christlicher Nächstenliebe?, in: Academia 110 (2017), H. 1, S. 34 – 36.

Marianne Heimbach-Steins: Europa und Migration. Sozialethische Denkanstöße (Kirche und Gesellschaft; 438), Köln 2017.

Dies. (Hg.): Zerreißprobe Flüchtlingsintegration (Theologie kontrovers), Freiburg i. Brsg. 2017.

Josef Isensee: Staat, in: Anton Rauscher (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, S. 741 – 774.

Walter Lesch: Kein Recht auf ein besseres Leben? Christlich-ethische Orientierung in der Flüchtlingspolitik, Freiburg i. Brsg. 2016.

Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, anlässlich der Pressekonferenz zum Abschluss der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 9. März 2017 in Bensberg (Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz v. 9. März 2017).

Thomas Sternberg: Europa – eine christliche Vision?, in: http://www.goerres-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/Ordner_mit_Dateien_von_alter_Seite/files/STE-000_0.mp3 [Audiodatei].

Grundprinzipien einer eigenständigen Berufsethik für Pädagogen

Lehrer tragen wesentlich Verantwortung dafür, dass die Heranwachsenden ihr Recht auf Bildung und Selbstbestimmung verwirklichen können. Bildung ist ein zentraler Schlüssel für die aktive Teilnahme am sozialen und wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen, kulturellen und geistigen Leben. Der Lehrberuf kann daher als zentrale Menschenrechtsprofession begriffen werden. Diese auszugestalten, bedarf es einer eigenständigen pädagogischen Berufsethik.

Was sollte eine pädagogische Berufsethik leisten?

Für eine eigenständige pädagogische Berufsethik ist es nicht allein wichtig, eine „Ethik des Handelns“ auszubilden, also die Ziele und Methoden des professionellen Handelns verantwortlich auszuweisen. Vielmehr bedarf es auch einer „Ethik des Denkens und der wissenschaftlichen Theoriebildung“. Ohne diesen Aspekt besteht die Gefahr der Moralisierung: Die Ansprüche und Instrumente einer „moralischen Profession“ müssen immer wieder der ethischen Kritik ausgesetzt und auf ihre Lebensdienlichkeit hin befragt werden, beispielsweise unter dem Anspruch, die unhintergehbare Würde eines jeden einzelnen Schülers zu achten, dessen Freiheit und Integrität zu wahren sowie ihn vor Diskreditierung und Stigmatisierung zu schützen. Dabei wird es notwendig sein, selbstkritisch auch die Grenzen des eigenen professionellen Handelns im Blick zu behalten. Denn Lehrer, Schulleitungen oder Schulverwaltungen können durch ihr Tun erheblich in den Kernbereich der Persönlichkeit, die Privatsphäre und die Lebensplanung der ihnen anvertrauten Schüler eingreifen.

Die Anwendung vorgegebener Prinzipien reicht für die geforderte ethische Kritik nicht aus. Die Prinzipien müssen hergeleitet und begründet werden, wobei zwischen unbedingten, universal geltenden Normen (z. B. Diskriminierungsfreiheit beim Zugang zu Bildung, Schutz körperlicher und psychischer Unversehrtheit oder Achtung der Gewissensfreiheit im Raum der Schule) und interpretierenden Prinzipien (z. B. schulische Allokation, Inklusion oder Bildung für nachhaltige Entwicklung) zu unterscheiden bleibt. Eine eigenständige Berufsethik wird auch über das Menschen- und Gesellschaftsbild, das im professionellen Tun vorausgesetzt wird, und über die zugrunde liegende Handlungstheorie Rechenschaft ablegen müssen.

Schule trägt nicht allein Verantwortung auf der einen Seite für die Schüler und Schülerinnen sowie auf der anderen Seite für die Gesellschaft, die nicht unerhebliche Ressourcen für das Bildungssystem zur Verfügung stellt. Schulpädagogisch kommt noch ein drittes Mandat hinzu: Dabei geht es darum, Alltagsmeinungen, theoretische Hypothesen, bildungspolitische Leitbilder oder nichtpädagogische Einflussnahmen, welche die öffentliche Bildungsdebatte bestimmen, aus Perspektive der eigenen Disziplin kritisch zu prüfen, gegebenenfalls zu korrigieren und darauf aufbauend Handlungsleitlinien für wünschbare Veränderungen zu formulieren. Ein eigener schulpädagogischer Ethikkodex ermöglicht die kritische Reflexion vorgegebener Erwartungen, hilft aber auch, möglicherweise Distanz zu wahren gegenüber Zeitströmungen, modischen Trends oder Verengungen innerhalb des eigenen Fachdiskurses.

Eine Frage des Vertrauens

Bildung ist im Wesentlichen Beziehungsarbeit, die Lehrer-Schüler-Beziehung muss als Vertrauensverhältnis gesehen werden. Im Unterricht muss der Schüler darauf vertrauen können, dass die Inhalte des Lernens wert sind, weil der Lehrer sich nicht einfach hinter dem Lehrplan versteckt, sondern diese selbst auf Sinn hin befragt hat. Ferner sollte der Unterricht so gestaltet sein, dass der Schüler zunehmend lernt, sich selbst zu vertrauen.

Wer erzieht, soll gerecht handeln, nicht aus Gerechtigkeit, also um einer bestimmten Idee willen. Denn pädagogische Führung zeichnet sich gerade durch ein „interessenloses Interesse“ am anderen aus. Das meint: Wer pädagogisch handelt, will die Selbstbestimmung des anderen fördern, „ohne vorab bestimmen zu wollen, wie sich der  […] Zögling darin selbst bestimmt“ [Thomas Mikhail: Bilden und Binden. Zur religiösen Grundstruktur pädagogischen Handelns, Frankfurt a. M. 2009, S. 230]. Wer erzieht, muss daher Zutrauen in die Werturteilsfähigkeit des Schülers mitbringen und dessen unbestimmte Bildsamkeit stets achten. Zugleich benötigen Lehrkräfte, wenn sie die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen zur Freiheit befähigen sollen, selbst ein gesichertes Maß an pädagogischer Freiheit.

Die Menschenwürdegarantie, nach der jeder Mensch stets auch als Selbstzweck zu achten ist und niemals für Zwecke Dritter instrumentalisiert werden darf, kann pädagogisch gewendet so verstanden werden, dass der Einzelne jederzeit als Quell freier Selbsttätigkeit zu achten ist. Umgekehrt kann die in der Menschenwürdeidee sich ausdrückende Fähigkeit des Menschen zum Vernunft-, Sprach- und Freiheitsgebrauch ohne Bildung nicht zur Entfaltung kommen. Eine pädagogische Berufsethik hat zu benennen, unter welchen Bedingungen beide Forderungen konkret werden können. Zwei Prinzipien spielen dabei eine besondere Rolle: Recht auf Bildung und Gerechtigkeit.

Bildung als Menschenrecht

Ohne Bildung und Erziehung wird der Anspruch auf Beteiligung am politischen und sozialen Leben nicht eingelöst werden können. Dieser Anspruch bestimmt sich durch zwei, sich wechselseitig bedingende Aspekte, und zwar Beitragen und Teilhaben. Einerseits kann der Einzelne sich als Subjekt nur im sozialen Miteinander verwirklichen und damit in der gemeinsamen Sorge um das Gemeinwohl. Die Möglichkeit, sein Leben aktiv gestalten und etwas zum gemeinsamen Zusammenleben beitragen zu können, ist eine zentrale (wenn auch nicht die einzige) Quelle sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Sein Leben aktiv gestalten zu können, ist zentrales Kennzeichen einer durch Bildung substantiell bestimmten Lebensform.

Andererseits sind die sozialen Institutionen so zu gestalten, dass sie dem Einzelnen die aktive Teilhabe am politischen und sozialen Leben auch real ermöglichen – und damit die Beteiligung an jenen sozialen Aushandlungsprozessen, in denen das Gemeinwohl immer wieder von neuem gefunden und angestrebt werden muss. Die Fähigkeit, aktiv etwas beitragen zu können, bleibt abhängig von realen Teilhabemöglichkeiten; diese wiederum können auf Dauer nicht ohne ein sie stützendes Ethos gesichert werden, also ohne den gelebten Willen, auch etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Die Möglichkeiten sozialer Teilhabe müssen bildungspolitisch abgesichert werden. Dem Einzelnen zu helfen, die dadurch eröffneten Chancen zur Bildung für sich gewinnbringend zu nutzen, stellt eine entscheidende Erziehungsaufgabe dar.

Die Geschichte lehrt, dass der Anspruch auf Beteiligung am politischen Leben sowie die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe zahlreichen Gefährdungen ausgesetzt sind. Eine Antwort auf diese Gefährdungen stellt das Recht auf Bildung dar. Es sichert dem Einzelnen jenen pädagogischen Freiraum, der es ihm erlaubt, selbstbestimmt zu handeln, zu urteilen und zu entscheiden. Als soziales Freiheitsrecht garantiert es zugleich jene rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen, die für die reale Beteiligung am sozialen Leben unverzichtbar sind. Das Recht auf Bildung zu sichern, ist wichtiges Element einer funktionierenden Demokratie. Dabei geht es nicht allein um die Bewältigung funktionaler Herausforderungen, sondern um die Fähigkeit zur eigenständigen Urteilsbildung. Die pluralistische Willensbildung ist nicht nur ein Ziel der verschiedenen schulischen wie außerschulischen Bildungsangebote, sondern notwendiges Grundprinzip des Bildungssystems einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft.

Im Einzelnen lassen sich beim Recht auf Bildung drei Kernbereiche unterscheiden, sie sich bereits in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 finden lassen, mit dem ein solches Recht erstmals explizit international festgeschrieben wurde: Recht auf Bildung im engeren Sinne, Recht durch Bildung und Recht in der Bildung.

Das Recht auf Bildung nimmt den Staat in die Pflicht, für eine hinreichende Beteiligung an Bildung zu sorgen und dem Einzelnen ein hinreichendes Maß an Beteiligung durch Bildung zu sichern. Es geht also zunächst einmal darum, dass funktionsfähige, angemessen ausgestattete Bildungseinrichtungen in ausreichender Zahl verfügbar sind. Diese müssen sowohl in körperlicher (z. B. durch Barrierrefreiheit, zumutbare Entfernung oder organisierten Schülertransport) als auch wirtschaftlicher (z. B. durch Gebührenfreiheit, soziale Gebührenstaffelung oder Stipendiensysteme) Hinsicht zugänglich sein. Inhaltlich sind diese qualitativ angemessen, für die Lernenden und ihre Eltern kulturell annehmbar und im Blick auf gesellschaftliche Veränderungen anpassungsfähig auszugestalten – mit dem Ziel, die Ausbildung politischer, wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher und kultureller Beitragsfähigkeit durch Bildung zu ermöglichen.

Denn das Recht auf Bildung ist ein entscheidendes Ermächtigungs- oder Empowermentrecht, das der Verwirklichung aller anderen Einzelrechte zugutekommt. In den verschiedenen Menschenrechtsverträgen konkretisiert sich dieser Anspruch in der Forderung nach umfassender Persönlichkeitsbildung und in einem eigenständigen Recht auf Menschenrechtsbildung. Nur ohne frühzeitige Spezialisierung können alle Facetten der Persönlichkeit angesprochen werden und können Schüler mit zunehmender Reife später selbst entscheiden, welche Fähigkeiten oder Interessen sie stärker entfalten und ausbauen wollen. Und nur wer über seine Rechte aufgeklärt ist, kann diese auch wirksam einfordern.

Im Falle des Rechts auf Bildung kommt dann noch ein dritter Kernbereich ins Spiel, der dem interaktiven Charakter dieses Rechts geschuldet ist und sich so nicht bei allen einzelnen Menschenrechten finden lässt. Die Interessen, Bedürfnisse und Zuständigkeiten der verschiedenen am pädagogischen Prozess beteiligten Akteure müssen gleichfalls unter dem Maßstab der Freiheit zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei geht es um einen sozialen Aushandlungsprozess, der aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht nach Mitbestimmung verlangt, also nach Beteiligung in der Bildung. Hierbei geht es um die Freiheit des Lernens (z. B. Achtung der Gewissensfreiheit, des Elternrechts und Ermöglichung pädagogischer Wahlfreiheit, Sicherung der Schuldisziplin mit menschenwürdigen Mitteln, Datenschutz oder die Garantie von Privatschulfreiheit) wie um die Freiheit des Lehrens (z. B. Koalitionsfreiheit und Mitbestimmung oder wirtschaftliche und rechtliche Absicherung der Lehrkräfte).

Nur im angemessenen Zusammenspiel aller drei Kernbereiche wird das eine umfassende Recht auf Bildung umfassend gesichert werden können. Die Reichweite des Rechts auf Bildung muss daran gemessen werden, ob die für eine menschenwürdige Existenz notwendige Freiheit des Einzelnen, sich selbst Gestalt zu geben, nach dem Sinn seiner Existenz zu fragen sowie eine Vorstellung vom guten Leben zu entwickeln und dieser nachzustreben, gesichert ist. Vorrang haben solche fundamentalen Bildungsvollzüge, die dem Einzelnen überhaupt erst einmal die Möglichkeit erschließen, sich weitergehende Bildungs- oder anderweitige soziale Teilhabemöglichkeiten selbständig und eigenverantwortlich anzueignen.

Viel und heftig ist in der Reformdebatte der vergangenen Jahre darüber gestritten worden, wie gerecht oder ungerecht das deutsche Bildungssystem ist. Zwei Herausforderungen machen es grundsätzlich notwendig, im Blick auf Schule von Gerechtigkeit zu sprechen: Pädagogisches Handeln muss zum einen mit der Tatsache faktischer Ungleichheit umgehen und zum anderen mit begrenzten Ressourcen der Bildungsförderung haushalten. Doch woran lässt sich überhaupt bemessen, wann Schule gerecht ist oder nicht?

Gerechtigkeit in der Schule

Das Problem der Gerechtigkeit wird im Fall der Schule nicht einfach auf die äußere soziale Seite der Bildung reduziert werden dürfen. Denn die für Bildung bestimmende Idee der Selbstbestimmung ist nicht etwas, das erst am Ende des pädagogischen Weges, beispielsweise mit einem bestimmten Abschluss, erreicht wird. Die Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit des sich bildenden Subjekts muss auf dem gesamten pädagogischen Weg mitgedacht werden. Dieser Anspruch auf Selbstbestimmung ist grundsätzlich nicht abstufbar, auch wenn die Frage, was dem Menschen als Selbstbestimmung hier und jetzt möglich ist, nur im Blick auf den Einzelfall und im Verstehen der jeweiligen individuellen Lage des Einzelne entschieden werden kann.

Jeder Einzelne hat grundsätzlich dasselbe Recht, sich zu bilden und seine Fähigkeiten zu entfalten. Die Chance, sich jenen Bildungsstand zu erarbeiten, der ihm möglich ist, darf niemandem abgesprochen werden. Frei und gerecht wäre weder ein Bildungssystem, das Schwächere gezielt bevorzugen und talentiertere Schüler gezielt benachteiligen wollte, noch eines, das umgekehrt verfahren wollte. Die Einsicht, dass alle einen gleichwertigen Anspruch haben, sich zu bilden und bestmöglich gefördert zu werden, entspricht der klassischen Forderung nach arithmetischer Gerechtigkeit: Allen das Gleiche! Dieses Prinzip verlangt nach Diskriminierungsfreiheit für jeden Schüler und gleicher Qualität für alle Bereiche des Schulwesens.

Pädagogisches Handeln muss immer mit faktischer Ungleichheit umgehen. Eine optimale individuelle Förderung für alle wird angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen, Interessen und Bedürfnisse, welche die Einzelnen mitbringen, nicht dadurch zu erreichen sein, dass jedem dasselbe pädagogische Angebot gemacht wird. Das Prinzip egalisierender Gerechtigkeit vermag nicht, alle sozialen Beziehungen im Bildungssystem zu regulieren; es bedarf der Ergänzung um das Prinzip unterscheidender oder proportionaler Gerechtigkeit: Jedem das Seine! [Der Satz geht auf den römischen Rechtsgelehrten Ulpian zurück, wurde allerdings im zwanzigsten Jahrhundert auf übelste Weise als Lagerinschrift in Buchenwald pervertiert.] Der Lernende muss sich in einer verfassten Gruppe, der Klasse, bewähren. „Jedem das Seine!“ meint, jeden Lernenden nach seinen Leistungen und Bedürfnissen zu behandeln, zu fördern, aber auch zu fordern. Wenn Heranwachsenden die Forderung und Herausforderung, sich anzustrengen, verweigert wird, fehlt ihnen eine wesentliche Bedingung dafür, zu entdecken, was in ihnen steckt, und ihre Persönlichkeit zunehmend eigenständiger in der Bewältigung der Herausforderung zu entwickeln.

Pädagogische Billigkeit

Allerdings geht es hier um soziale Bedürfnisse, die dem Kind – beispielsweise vom Lehrer – zugeschrieben werden. Die Gerechtigkeit findet an der individuellen Einzigartigkeit des Schülers ihre Grenze. Individuelle Bedürfnisse sind stets einzigartig, damit aber auch nicht durch Normen, Regeln oder Strukturen fassbar. Gleichwohl wird pädagogisches Handeln auf die individuellen Bedürfnisse zu achten haben: Diese sind in moralischer Hinsicht allerdings keine Frage der Gerechtigkeit, sondern der pädagogischen Billigkeit. Diese ist ein berichtigendes, den Einzelfall berücksichtigendes Prinzip der Gerechtigkeit, das aber die geltenden Maßstäbe selbst nicht in Frage stellt. Denn eine übersteigerte Gerechtigkeit, die dem Einzelnen lieblos gegenüber stünde, würde auf Dauer ihr eigenes Fundament untergraben: Der Wille zur Gerechtigkeit erlahmt, wo die Anerkennung individueller Freiheit und Einmaligkeit schwindet.

Beide Prinzipien der Gerechtigkeit – „Allen das Gleiche“ sowie „Jedem das Seine“ – müssen miteinander verbunden werden: in der pädagogischen Praxis wie bei der Gestaltung der strukturellen Rahmenbedingungen von Schule. Entscheidend hierbei bleibt das komplementäre Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit. Insofern das Bildungssystem gleiche Chancen zur Bildung garantieren soll, darf es doch nicht ausschließen, dass die Individuen diese unterschiedlich nutzen. Die Einzelnen sollen in der Schule nicht „gleich gemacht“ werden. Alle sollen aber gleichermaßen in der Lage sein, sich jene Fähigkeiten anzueignen, die für eine selbstbestimmte Lebensführung notwendig sind – und sie sollen die Möglichkeit haben, über den eigenen Lebensweg selbst zu bestimmen, soweit sie andere nicht darin hindern, dies gleichfalls zu tun.

Gleiche Chancen zur Bildung

Gegenwärtig ist ein Anwachsen öffentlicher Verantwortung für die Wahrnehmung von Bildung und Erziehung zu beobachten. So wird unter dem Eindruck gesellschaftlicher Veränderungen die Grenze zwischen privaten und öffentlichen Erziehungsleistungen aufgeweicht. Die Schule wird stärker zum Freizeitort, übernimmt Funktionen der Gleichaltrigengesellschaft und gewinnt für die Heranwachsenden eine stärkere Bedeutung als öffentlicher, elternferner Ort der Sozialisation und Identitätsbildung. Für die künftige Entwicklung von Schule wird zu fragen sein, wie diese angesichts des sozialen Wandels ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag weiterhin gerecht werden kann.

Die gerechte oder ungerechte Verteilung an Bildungschancen kann nicht abstrakt, sondern nur im Blick auf spezifische Lebensweisen bestimmt werden. Pädagogische Unterstützung ist keine Dienstleistung, die immer denselben Effekt zeitigt; vielmehr braucht der eine mehr, der andere weniger Unterstützung, um ein bestimmtes Bildungsbedürfnis zu befriedigen – je nach Ausgangslage und Persönlichkeitsmerkmalen. Eine zentrale bildungsethische Frage ist, wie die individuellen Chancen zur Bildung verteilt sind. Und diese werden auch die Lebenschancen des Einzelnen beeinflussen.

Doch wird kein Bildungssystem jemals gleiche Lebenschancen durch Bildung realisieren können, wenn die Freiheit des Einzelnen, einen bestimmten Lebensentwurf zu wählen, nicht aufgehoben werden soll. Es bleibt stets mit der Widerständigkeit des Subjekts zu rechnen. Andernfalls wäre der Einzelne nicht mehr als ein Funktionär der bestehenden Verhältnisse oder der Interessen der Gemeinschaft. Am Ende würde gerade das verfehlt, was erstrebt wird: jene Freiheit im Denken und Handeln, die ohne Bildung nicht erreicht werden kann und ohne die weder ein gemeinwohlförderliches Zusammenleben noch gesellschaftliche Weiterentwicklung auf Dauer denkbar sind.

Pädagogische Schulreform

Gerechtigkeitsfragen stellen sich auf allen Ebenen schulischen Handelns: beispielsweise bei der Rahmenordnung des Schulsystems, bei den Zugangsregelungen zu einzelnen Bildungsangeboten, beim Umgang mit Konflikten innerhalb der einzelnen Bildungsinstitution, bei der Leistungsbeurteilung und der Vergabe von Abschlüssen oder im Umgang zwischen Lehrer und Schülern. Innerhalb der Klassengemeinschaft erfahren die Schüler beispielhaft, wie Verteilungsfragen gelöst werden oder nach welchen Kriterien bestimmte Leistungen anerkannt werden.

Die Schule soll ihre Schüler dazu befähigen, diese Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Sie soll die Schüler auf das Leben in der modernen Gesellschaft vorbereiten – und ist zugleich ein Teil dieser Gesellschaft. Gerechtigkeitsfragen gehören somit untrennbar zum Nachdenken über Schule dazu. Dabei handelt es sich bei den schulischen Gerechtigkeitsproblemen nicht um etwas, das sich ein für alle Mal lösen ließe – würde man nur das „richtige“ Schulsystem aufbauen, alle Schulen bestmöglich ausstatten und jedes Kind optimal fördern (wie immer man sich das dann auch konkret vorstellen wollte). Gerechtigkeitsprobleme können nicht durch pädagogisches Handeln beseitigt werden, aber die Gerechtigkeitsfrage ist gleichfalls auf das pädagogische Handeln hin auszulegen. Und dies bleibt eine beständige Aufgabe der Schule, die ihren Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben immer wieder neu reflektieren muss.

Schulreform als Aufgabe der modernen Schule ist dann aber auch etwas anderes als Schulstrukturreform. Die bestehende Schule wird dabei nicht von einer in der Zukunft imaginierten „Idealschule“ her in Frage gestellt, sondern einer beständigen, nicht abschließbaren Selbstrevision unterzogen [vgl. Stephanie Hellekamps, Hans-Ulrich Musolff: Die gerechte Schule. Eine historisch-systematische Studie, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 1 – 3].

Die Schulpädagogik hat dabei eine zweifache Aufgabe: Sie muss über Gerechtigkeit als Problem der Schule bildungstheoretisch reflektieren. Und sie muss danach fragen, wie ein bestimmter Umgang mit diesem Problem praktisch umsetzbar ist, welche Verbesserungen oder Erfolge, aber auch welche Gefahren oder Fehlschläge damit verbunden sein können – im Blick auf die Lernbedingungen und die Zukunftschancen der Lernenden genauso wie im Blick auf die professionelle Beanspruchbarkeit und Belastbarkeit der Lehrenden. Die bestimmende Perspektive im Umgang mit der Gerechtigkeitsfrage wird dabei eine pädagogische bleiben müssen: ausgerichtet an einer durch Bildung substantiell bestimmten Lebensform. Dabei sollte die pädagogische Reflexion über Gerechtigkeit Anwalt einer Humanität sein, die sich im Prozess notwendiger Differenzierung und entlastender Arbeitsteilung gegen mögliche funktionale Verengungen zur Wehr setzt.

Freiheit und Pluralismus

Eine vollständig „gerechte“ Schule – wie immer man sich diese auch vorzustellen hätte – wäre notgedrungen statisch und nicht mehr verbesserungsfähig, dann aber auch nicht frei. Freiheit verlangt vielmehr danach, Gerechtigkeit dynamisch zu denken. Es muss möglich sein, dass die bestehenden Normen, Regeln und Gesetze immer wieder geprüft, in Frage gestellt und unter Umständen modifiziert werden – genau dies entspricht der aufklärerischen Forderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen: Die Schule soll die Schüler nicht lehren, einfach etwas für gerecht zu halten, was andere zuvor als gerecht erklärt haben, sondern die bestehenden Verhältnisse zu prüfen. Am Ende stünden sonst nicht Schüler, die „richtig“ denken, sondern solche, die es verlernt haben, selber zu denken. Aufgabe der Schule ist es, die Heranwachsenden dazu zu befähigen, Gerechtigkeitsprobleme zu identifizieren, selbständig zu beurteilen und nach der Bedeutsamkeit dieses Urteils für das eigene Handeln zu fragen.

Nicht jedes beliebige Infragestellen des Bestehenden ist dabei schon rationale Kritik. Wenn Gerechtigkeit nicht einfach aus ein für alle Mal gültigen Normen und Regeln abgeleitet werden kann, sondern immer wieder neu gesucht und angestrebt werden muss, setzt dies zum Beispiel Beratung, Abwägung, Entscheidung und die Revision von Entscheidungen voraus. Die Schule hat die Aufgabe, die Schüler in jene Verfahren einzuführen, die der immer wieder neu notwendigen „Herstellung von Gerechtigkeit“ zugrundeliegen.

Wenn es keine feststehende Vorstellung von Gerechtigkeit gibt, wird es auch nicht einfach die gerechte Schule geben können. Vielmehr sind mehrere gerechte Schultypen vorstellbar, von denen jeder ganz verschieden sein kann, sofern sich diese reziprok rechtfertigen lassen. In einer freiheitlichen Gesellschaft wird es immer einen legitimen Pluralismus konkreter Lebensweisen geben. Wenn Schule dieser Pluralität entsprechen soll, wird es auch pädagogisch verschieden akzentuierte Formen von Schule geben müssen – nicht „das eine Schulmodell für alle“, das als pädagogisches Wunschbild in den lebendigsten Farben ausgemalt und wortreich beschworen wird.