Gerechtigkeit ist in der Spätmoderne zum Schlüsselwort der gesellschaftlichen Debatte geworden. Kindertageseinrichtungen sollen die Kinder auf das Leben in der modernen Gesellschaft vorbereiten – und sind zugleich Teil dieser Gesellschaft. Gerechtigkeitsfragen gehören somit untrennbar zum Nachdenken über Erziehung und frühe Bildung dazu. Was bedeutet dies für die Arbeit von Erzieherinnen und Erzieher? Wie können sie selbst den Gerechtigkeitserwartungen entsprechen, welche Kinder, Eltern und Gesellschaft an sie richten?
Der folgende Beitrag wurde als Schulleitungsrede zum Ende des Schuljahres 2014/15 an der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt bei der feierlichen Zeugnisübergabe zum Abschluss des Berufspraktikums gehalten.
Wann sind Erzieher und Erzieherinnen gerecht?
Eine Bildungsstudie im Auftrag eines oberfränkischen Spielwarenherstellers (wir machen keine Schleichwerbung, aber Sie kennen den dicken Katalog bestimmt) beantwortete diese Frage vor fünf Jahren mit der Schlagzeile: „93 Prozent der Eltern finden das deutsche Bildungssystem ungerecht.“ Vier Jahre später – im vergangenen Dezember – befand der „Chancenspiegel 2014“ der Bertelsmann-Stiftung erneut, das deutsche Bildungssystem sei „zäh und ungerecht“. – Ganz anders hingegen Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes: „Manche Bildungspolitiker behaupten […], das deutsche Schulwesen sei ungerecht wie kein zweites. […] Gewiss gibt es kein perfektes Bildungswesen. Es gibt weltweit aber auch kaum eines, das so viele Chancen bietet, wie das deutsche. Belege dafür sind die vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland; die Vielfalt des beruflichen Bildungswesens, die mehr als 60 Wege zur Hochschulreife […].“ Einen dieser sechzig Wege hat ein Teil von Ihnen erfolgreich genutzt.
„Bildungsgerechtigkeit“ dient in der aktuellen Debatte – seit der ersten PISA-Studie – als „Projektionsfläche“ für vielfältige Erwartungen, Forderungen oder Visionen, die an das Bildungssystem herangetragen werden. Vielleicht müsste die Frage anders gestellt werden. Denn mit der Forderung nach „mehr Bildungsgerechtigkeit“ ist noch nicht geklärt, wem das Bildungs- und Erziehungssystem eigentlich gerecht werden soll. Wann sind Erzieher, Pädagogen oder Lehrer gerecht? Und dürfen sie überhaupt allen Erwartungen gerecht werden, wenn sie ihren pädagogischen Auftrag bestmöglich erfüllen wollen?
Für Sie, liebe Berufspraktikantinnen und Berufspraktikanten, geht heute eine vierjährige Ausbildung zu Ende – ja, noch mehr: eine vielleicht vierzehnjährige Schulzeit oder – wenn wir den Kindergarten dazu nehmen – eine Zeit von siebzehn oder noch mehr Jahren, in denen Sie regelmäßig eine Bildungs- und Erziehungsinstitution besucht haben und mit professionellen Pädagogen zu tun hatten. Ich hoffe, es hat Ihnen nicht geschadet … Sind die Erzieher, Anleiter und Lehrer, denen Sie in dieser langen Zeit begegnet sind, Ihnen immer gerecht geworden? Sie stellen sich diese Frage, aber auch wir als Kollegium müssen uns dieser Frage immer wieder stellen: Konnten wir als Lehrer Ihnen hier in der Fachschule gerecht werden? Das Abschlusszeugnis, das Sie heute erhalten werden, mag ein äußeres Zeichen dafür sein, dass die gewählte Ausbildung Ihnen entsprochen hat und dass Sie umgekehrt den Ausbildungsanforderungen gerecht geworden sind. Sicher sind im Rahmen der Ausbildung auch Punkte offen geblieben, denen Sie nicht entsprechen konnten, denen wir als Lehrer nicht entsprechen konnten oder die Ihrer stets individuellen Erzieherpersönlichkeit nicht entsprochen haben. Hier mag sich, wie so oft im Leben, im Rückblick auf die Schule später noch einiges im milden Licht der Erinnerung verklären. Heute darf ich Ihnen persönlich wie im Namen der Schulleitung und des gesamten Kollegiums zu Ihrem Ausbildungserfolg gratulieren: Herzlichen Glückwunsch und Anerkennung für das, was Sie im Laufe Ihrer Ausbildung erreicht haben!
Auch wenn Sie bereits in den vergangenen Jahren schrittweise in den Beruf hineingewachsen sind, vollziehen Sie heute mit dem Erhalt Ihrer staatlichen Anerkennung endgültig den Rollenwechsel vom zu Erziehenden zum Erzieher oder zur Erzieherin. Und auch Sie müssen sich in den Berufsjahren, die vor Ihnen liegen, immer wieder die Frage stellen: Welchen Erwartungen, Wünschen und Forderungen der Kinder und Eltern soll ich pädagogisch gerecht werden? Wie kann ich den mir anvertrauten Kindern gerecht werden? Wann bin ich als Erzieher oder Erzieherin überhaupt gerecht?
Über Gerechtigkeit nachzudenken, ist in der Erziehung aus zwei Gründen notwendig: Wer erziehen will, muss lernen, mit Unterschieden umzugehen – denn jedes Kind ist anders. Und er muss mit begrenzten Ressourcen haushalten, dies gilt auch für die Voraussetzungen erfolgreicher Förderung, Bildung und Erziehung. Woran lässt sich aber bemessen, ob Erzieher nun gerecht handeln?
Zwei Formen von Gerechtigkeit
Jeder Einzelne – jedes Kind, jeder Jugendliche, aber auch jeder Erwachsene – hat grundsätzlich dasselbe Recht, sich zu bilden und seine Fähigkeiten zu entfalten. Dies spiegelte sich beispielsweise in diesem Jahr in den Facharbeitsthemen wider, bei denen es um den pädagogischen Umgang mit Kindern aus Armutsfamilien, um Inklusion, aber auch um die Förderung hochbegabter Kinder in Kindertageseinrichtungen ging. Frei und gerecht zugleich wäre weder ein Bildungssystem, das Schwächere gezielt bevorzugen und talentiertere Kinder gezielt benachteiligen wollte, noch eines, das umgekehrt verfahren wollte. Die Einsicht, dass alle Kinder einen gleichwertigen Anspruch haben, sich zu bilden und bestmöglich gefördert zu werden, entspricht der klassischen Forderung nach arithmetischer bzw. egalisierender Gerechtigkeit: „Allen das Gleiche!“ Dieses Prinzip verlangt, dass Erzieherinnen und Erzieher sich diskriminierungsfrei verhalten.
Doch wird eine optimale individuelle Förderung für alle angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen, Interessen und Bedürfnisse, welche die einzelnen Kinder mitbringen, nicht dadurch zu erreichen sein, dass jedem das gleiche pädagogische Angebot gemacht wird. Das Prinzip „Allen das Gleiche!“ vermag nicht, alle sozialen Beziehungen im Bildungssystem oder in einer pädagogischen Einrichtung zu regulieren. Es bedarf der Ergänzung um das Prinzip unterscheidender oder proportionaler Gerechtigkeit: „Jedem das Seine!“ Der Satz geht auf den römischen Rechtsgelehrten Ulpian zurück und gehört zum alten Erbe abendländischen Rechtsempfindens und ethischen Denkens – auch wenn wir nicht davon absehen können, dass dieser Satz im zwanzigsten Jahrhundert als Lagerinschrift in Buchenwald auf übelste Weise pervertiert worden ist.
Mit Eintritt in die Krippe oder den Kindergarten übernimmt das Kind erstmals eine öffentliche Rolle. Es muss sich in einer verfassten Gruppe bewähren, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Schulreife. Es muss lernen, mit anderen Menschen zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten. Menschliches Erkennen bleibt immer begrenzt. Das haben Sie, liebe Absolventinnen und Absolventen, im Zusammenhang mit den verschiedenen Möglichkeiten, das Verhalten von Kindern zu beobachten und zu dokumentieren, immer wieder im Unterricht besprochen. Daher können wir in der erzieherischen Praxis niemals alle zuteilungsrelevanten Eigenschaften oder Voraussetzungen in einer heterogenen Gruppe erfassen und berücksichtigen. Andernfalls müssten Sie als Erzieher allein Einzelbetreuung (oder wir als Lehrer allein Einzelunterricht) leisten. Das wäre weder finanzierbar noch im Blick auf soziales Lernen wünschenswert.
Beide Prinzipien der Gerechtigkeit – „Allen das Gleiche!“ sowie „Jedem das Seine!“ – müssen miteinander verbunden werden: in der erzieherischen Praxis wie bei der Gestaltung der strukturellen Rahmenbedingungen unseres Bildungs- und Erziehungssystems. Entscheidend bleibt das komplementäre, sich ergänzende Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit. Insofern das Bildungssystem gleiche Chancen zur Bildung garantieren soll, darf es doch nicht ausschließen, dass die Individuen diese unterschiedlich nutzen. Die einzelnen Kinder sollen in der Elementarbildung nicht „gleich gemacht“ werden. Alle sollen aber gleichermaßen in der Lage sein, sich jene Fähigkeiten anzueignen, die für eine selbstbestimmte Lebensführung notwendig sind – und sie sollen die Möglichkeit haben, über den eigenen Lebensweg mit zunehmendem Alter selbst zu bestimmen, soweit sie nicht andere daran hindern, dies gleichfalls zu tun. Jedes Kind soll, soweit dies möglich ist, nach seinen Leistungen und Bedürfnissen behandelt, gefördert, aber auch gefordert werden. Wenn Kindern die Forderung, sich anzustrengen, verweigert wird, fehlt diesen eine wichtige Bedingung dafür, zu entdecken, was in ihnen steckt, und sich durch das Bestehen von Herausforderungen weiterzuentwickeln.
Pädagogische Billigkeit als notwendiges Korrektiv
Allerdings geht es bei erzieherischem Arbeiten um soziale Bedürfnisse, die dem Kind zugeschrieben werden. Die Gerechtigkeit findet an der individuellen Einzigartigkeit des Kindes ihre Grenze. Individuelle Bedürfnisse sind stets einzigartig, damit aber nicht durch Normen, Regeln oder Strukturen fassbar. Gleichwohl wird pädagogisches Handeln auf die individuellen Bedürfnisse zu achten haben: Diese sind in moralischer Hinsicht allerdings keine Frage der Gerechtigkeit, sondern der pädagogischen Billigkeit. Diese ist ein berichtigendes, den Einzelfall berücksichtigendes Prinzip der Gerechtigkeit, das aber die geltenden Maßstäbe selbst nicht in Frage stellt. Denn eine übersteigerte Gerechtigkeit, die dem Einzelnen lieblos gegenüber stünde, würde auf Dauer ihr eigenes Fundament untergraben – auch in der Erziehung. Gerechtigkeit bedarf der Liebe zur Gerechtigkeit. Der Wille zur Gerechtigkeit, den Sie bei den Kindern wecken sollen, erlahmt, wo die Anerkennung individueller Freiheit und Einmaligkeit schwindet. Oder anders gesagt: Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.
Erziehung als modellhafter Ort von Gerechtigkeit
Gerechtigkeitsfragen stellen sich auf allen Ebenen erzieherischen Handelns: beispielsweise bei der Rahmenordnung des Bildungssystems, bei der Entlohnung der Beschäftigten – der Erzieherstreik hat dies einmal mehr gezeigt, gleich ob man die Forderungen der Gewerkschaft teilt oder nicht. Gerechtigkeitsfragen stellen sich beim Umgang mit Konflikten innerhalb der einzelnen Bildungsinstitution, im Team oder innerhalb der Kindergruppe. Untereinander oder im Umgang mit den Erziehern erfahren die Kinder beispielhaft, wie Verteilungsfragen gelöst werden oder nach welchen Kriterien bestimmte Leistungen anerkannt werden. Dabei wirken Sie als Erzieher oder Erzieherin zwangsläufig als Modell für gerechtes (oder auch ungerechtes) Handeln.
Das Besondere pädagogischen Handelns ist, dass Sie als Erzieher die Kinder gleichzeitig dazu befähigen sollen, diese Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Sie sollen die Kinder alters- und entwicklungsangemessen auf das Leben in der modernen Gesellschaft vorbereiten, in der Gerechtigkeitsfragen eine wichtige Rolle spielen. Dabei handelt es sich bei Gerechtigkeitsproblemen im pädagogischen Bereich nicht um etwas, das sich ein für alle Mal lösen ließe – würde man nur das „richtige“ Bildungssystem aufbauen, alle Bildungseinrichtungen bestmöglich ausstatten und jedes Kind optimal fördern (wie immer man sich das dann auch in der Praxis im Detail vorstellen wollte). Gerechtigkeitsprobleme stellen sich in jeder Generation und in jeder Situation immer wieder neu, sie können nicht einfach durch pädagogisches Handeln aus der Welt geschafft werden. Vielmehr muss die Gerechtigkeitsfrage immer wieder auf unser erzieherisches Handeln hin ausgelegt werden.
Bildungsreform als Aufgabe der modernen Gesellschaft ist beständige Selbstreflexion der pädagogisch Tätigen, nicht beständige Strukturreform – dann könnten Erzieher und Pädagogen niemals in Ruhe arbeiten. In einer freiheitlichen Gesellschaft gibt es nicht einfach das eine gerechte Bildungssystem, das wir nur als pädagogisches Wunschbild in den lebendigsten Farben ausmalen und wortreich beschwören müssten. In einer pluralen Gesellschaft wird es verschiedene Modelle erzieherischen Arbeitens geben können, die sich als gerecht erweisen, solange sie sich wechselseitig rechtfertigen lassen. Sie müssen bei Bewerbungen entscheiden, welcher Träger, welches Konzept und welches Modell Ihren pädagogischen Vorstellungen entspricht und wo Sie sich vorstellen können zu arbeiten.
Ein vollkommen „gerechtes“ Bildungssystem – wie immer man sich dieses auch vorzustellen hätte – wäre notgedrungen statisch und nicht mehr verbesserungsfähig, dann aber auch nicht mehr frei. Freiheit verlangt danach, Gerechtigkeit dynamisch zu denken. Es muss möglich sein, die bestehenden Normen, Regeln und Gesetze immer wieder aufs Neue auf ihre Lebensdienlichkeit zu prüfen und unter Umständen weiterzuentwickeln. Die pädagogische Reflexion über Gerechtigkeit kann dabei Anwalt einer Humanität sein, welche die Mündigkeit des Einzelnen in den Vordergrund stellt und sich gegen mögliche funktionale Verengungen des Menschseins zur Wehr setzt.
Was ist dabei Ihre Aufgabe? Sie sollten als professionelle Erzieher und Erzieherinnen aktiv daran mitarbeiten, die Bedingungen Ihrer erzieherischen Arbeit möglichst gerecht zu gestalten – sei es in Verhandlungen mit Ihrem Träger, durch politisches Engagement im Rahmen von Berufsverbänden, bei der Organisationsentwicklung in Ihrer Einrichtung, in der Zusammenarbeit im Team oder mit den Eltern und nicht zuletzt in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern, im Blick auf deren Bedürfnisse und Interessen, deren Fähigkeiten und Möglichkeiten. Und Sie sollten die Kinder und Jugendlichen, die Ihnen anvertraut sind, alters- und entwicklungsangemessen zunehmend stärker dazu befähigen, Gerechtigkeitsprobleme zu erkennen, selbständig zu beurteilen und angemessen damit umzugehen. Gerechtigkeit muss immer wieder neu gesucht und angestrebt werden. Schon früh sollten Kinder in jene Verfahren eingeführt werden, die dazu dienen, immer wieder Gerechtigkeit herzustellen und zu praktizieren. Im Kindergarten kann dies beispielsweise durch die Kinderkonferenz, das Philosophieren mit Kindern oder durch das Erlernen konstruktiver Modelle der Konfliktlösung gelingen.
Sind wir Ihnen als Fachschule im Rahmen Ihrer Ausbildung pädagogisch gerecht geworden? Ich hoffe, dass wir als kirchliche Fachschule zumindest streckenweise selbst ein modellhafter Ort waren, der Ihnen Anregungen und notwendiges Rüstzeug vermittelt hat, darüber nachzudenken, was es heißt, als Erzieher oder Erzieherin gerecht zu handeln – auch im Licht der immer größeren Gerechtigkeit Gottes, auf die wir als sündige, begrenzte Menschen stets angewiesen bleiben. Fertige Antworten können wir Ihnen nicht bieten. Nehmen Sie die Frage mit in Ihren Berufsalltag. Ich wünsche Ihnen für Ihren weiteren beruflichen Weg alles Gute, Freude in der Arbeit mit den Kindern, Gottes Segen und die notwendige Kraft, die Frage nach Gerechtigkeit im pädagogischen Alltag lebendig zu erhalten und mit Leben zu füllen – um der Ihnen anvertrauten Kinder willen.
(Axel Bernd Kunze)