Schlaglicht: Deutschland vor der Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht

Bereits vor einem Jahr, als in Deutschland mit den Coronimpfungen begonnen wurde, forderten erste Stimmen eine Impflicht – also lange vor Omikron und einer vierten Welle, und völlig unabhängig von der tatsächlichen Impfbereitschaft im Land. Die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht hat ab Sommer beständig an Fahrt gewonnen. In Kürze wird der Bundestag darüber entscheiden, ohne Fraktionsdisziplin. In Form von wissenschaftlichen Erklärungen, Offenen Briefen oder „Montagsspaziergängen“ formiert sich zunehmend Widerstand gegen einen staatlichen Zwang zum Impfen. Lässt sich ein solcher noch verhindern?

Ich befürchte: Nein. Die Entscheidung über eine Impfpflicht wird im Parlament nicht mehr aufzuhalten sein. Auch besitzt die kleine Gruppe der Impfpflichtgegner um Wolfgang Kubicki  wenig moralische Glaubwürdigkeit bei ihrer Position, insofern sich diese Abgeordneten bereits früher gegen den indirekten Impfzwang hätten wehren müssen, statt die bisherigen Maßnahmen im Rahmen der Fraktionsdisziplin mitzutragen.

Aber die gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Initiativen wider eine Impfpflicht haben dennoch einen großen Wert – abgesehen von der Funktion, den eigenen Moralhaushalt so zu beeinflussen, dass man noch morgens in den Spiegel sehen kann. Sie dokumentieren, dass die Entscheidung für eine Impfpflicht nicht alternativlos ist. Auch wenn die politischen Mehrheitsverhältnissse gegenwärtig nicht zu ändern sind, speisen widerständige Stellungnahmen und Positionierungen einen „Vorrat“ an Fähigkeit zum Perspektivwechsel in den öffentlichen Moraldiskurs ein – auf Vorrat sozusagen, für die spätere Debatte. Denn die Kontroverse über diese Politik, bei der viel für unser künftiges Zusammenleben sowie das Staats-, Freiheitsverständnis und Menschenbild unserer Wert- und Verfassungsordnung auf dem Spiel steht, muss weitergehen. Und das ist auch gut so.

Manche „Spaziergänge“ gleichen gegenwärtig einem Schweigemarsch, was ein wirksames Mittel des politischen Protests sein kann, wie die Geschichte zeigt. So ist der Widerstand gegen einen staatlichen Impfzwang gegenwärtig vielleicht nicht mehr als eine stumme Mahnung – aber schon das ist wichtig. Warum bin ich so skeptisch, dass sich die politische Stimmung gegenwärtig noch drehen lässt – wohlgemerkt: zugunsten einer freien, selbstbestimmten Entscheidung des Einzelnen für oder gegen eine Impfung, nicht gegen jede Impfung als solche.

Zunächst ist die Stimmung in der Bevölkerung mehrheitlich immer noch eine andere. Das Narrativ von einer vermeintlichen „Pandemie der Ungeimpften“ bleibt wirksam. Die Mehrheit hofft, dass mit einer Impfpflicht alles bald vorbei sei. Dann ist die neue Regierung mit einer solchen Entschlossenheitsrhetorik gestartet, dass ein Zurück jetzt kaum denkbar ist. Schließlich haben sich die führenden Politiker in den Parteien auf eine Impfpflicht eingeschossen, zu nennen sind hier nur allein die beiden Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg – daran werden sich trotz Gewissensentscheidung ohne Fraktionszwang viele Abgeordnete orientieren. Dann hat es die Politik in den vergangenen Jahren der Merkelära immer mehr verlernt, Fehler einzugestehen – und das müssten die Politiker bei einem Kurswechsel in Richtung freier Impfentscheidung. Und ein Letztes: Die Zeit für eine grundlegende Debatte ist mittlerweile zu kurz, um noch substantielle Bewegungen zu erreichen. Hierfür müssten bereits Gruppenanträge auf dem Tisch liegen, über die transparent und kontrovers diskutiert werden könnte.

Ich kann in der Impfpflichtdebatte gegenwärtig keinen Stimmungswechsel ausmachen – aber: Ich würde mich in dieser Frage liebend gern irren.

PS: Und die bildungsethische Moral von der Geschicht‘? Wer nach einer Pflicht ruft, gesteht indirekt ein, dass rationale Argumente nicht mehr zu überzeugen vermögen. Schon länger bestimmt Moralisierung den Coronadiskurs.

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