Neuerscheinung: engagement 2/2019

Die neue Ausgabe der Zeitschrift engagement beschäftigt sich mit folgenden Themen:

Thementeil:

Das Themenheft widmet sich der Prävention sexualisierter Gewalt in Schulen und Internaten (verantwortlich für den Thementeil: Christopher Haep, Hamburg)

Umschau:

Im thematisch offenen Teil des Heftes fragt Axel Bernd Kunze (Weinstadt/Rems und Bonn): Welche Rolle spielen Internate an Fachschulen für Sozialpädagogik? Überlegungen aus bildungsethischer Sicht.

Besprechungen:

In der Rezensionsabteilung des Heftes werden dieses Mal folgende Titel besprochen:

  • Eva Steinherr (2017): Werte im Unterricht. Empathie, Gerechtigkeit und Toleranz leben (Rez.: Thomas Kesselring, Bern/Schweiz)
  • Michael Pauen, Harald Welzer (2015): Autonomie. Eine Verteidigung (Rez.: Axel Bohmeyer, Berlin)
  • Magdalene Simpfendörfer-Autenrieth (Hg.) (2018): Kindheit. Veränderung und Unveränderliches (Rez.: Axel Bernd Kunze, Weinstadt/Bonn)
  • Manfred Liebel (2015): Kinderinteressen. Zwischen Paternalismus und Partizipation (Rez.: Axel Bohmeyer, Berlin)
  • Volker Ladenthin (2018): Was wir wissen könnnen und was wir glauben müssen. Eine kleine Erkenntnistheorie für den Alltag (Rez.: Johannes Gutbrod, Karlsruhe)
  • Thomas Hald (2018): die abendsonne im glas. Gedichte (Rez.: Volker Ladenthin, Bonn)
  • Ying ChangCompestine (2018): Revolution ist keine Dinnerparty (Rez.: Karin Blank, Bonn)
  • Amalia Rosenblum (2018): Was ist, kann nicht verschwinden (Rez.: Anna Winkler-Benders, Bonn)
  • Britta Teckentrup (2018): Die Schule (Rez.: Dominique Moldehn, Bonn)

Die Zeitschrift erscheint im Münsteraner Aschendorff-Verlag und wird herausgegeben von der Konferenz der Träger Katholischer Schulen in freier Trägerschaft in Deutschland.

Bildung und Beteiligung

Jetzt wird es ernst: Mit der Verleihung der staatlichen Anerkennung geht Ihre drei- oder vierjährige Ausbildung endgültig zu Ende. Das Berufspraktikum, das nun endet, war ein begleiteter Übergang in den Beruf: Sie waren zwar nur noch zu einzelnen Studientagen hier in der Schule, hatten in Ihrer Praxiseinrichtung aber noch einen Ausbildungsstatus. Sie hatten noch eine Praxisanleitung, durften noch ein wenig unsicher sein, nachfragen und sich erproben. Nun werden Sie aber vollends in die berufliche Selbständigkeit entlassen – mit allen Rechten und Pflichten. Das ist auch gut so. Denn nun dürfen Sie zeigen, was Sie gelernt haben. Sie dürfen beruflich Verantwortung übernehmen und als Pädagogische Fachkraft arbeiten – mit und für die Kinder, die Ihnen erzieherisch anvertraut sind.

Und vielleicht sehen wir Sie dann, wenn Sie die ersten Berufserfahrungen gesammelt haben, hier in der Schule wieder – dann allerdings in einer anderen Rolle: als Mentorin oder Mentor, – und damit als jemand, der selbst junge Menschen in das Berufsfeld der frühen Bildung und Erziehung einführt. Im Rahmen der heutigen Festrede soll ein Blick darauf geworfen werden, welche Rolle Beteiligung und Partizipation dabei für Ihr pädagogisches Arbeitsfeld spielen.

Der folgende Beitrag wurde am 22. Juli 2019 als Schulleitungsrede zur feierlichen Zeugnisübergabe am Ende des Berufspraktikums gehalten.

Bildung und Bindung gehören eng zusammen – dies ist Ihnen ganz sicher noch aus Ihrer Ausbildung bekannt. In der aktuellen Bildungsreformdebatte, die mit der ersten PISA-Studie vor nicht ganz zwanzig Jahren begann, ist aber noch ein weiterer Zusammenhang immer stärker ins Blickfeld der pädagogischen Debatte getreten: der Zusammenhang von Bildung und Beteiligung. Hierzu beigetragen hat nicht zuletzt der Besuch des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, 2006 in Deutschland. Der UN-Vertreter aus Costa Rica machte Beteiligung zum Leitprinzip seines Berichts, den er ein Jahr später dem Menschenrechtsrat in Genf vorlegte. Im evangelischen Bereich war es nicht zuletzt der Systematische Theologe und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, der diesen Zusammenhang in seiner Gerechtigkeitstheorie herausgestellt hat.

Menschen haben einen Anspruch darauf, sich am sozialen Leben beteiligen zu können. Dieser Anspruch auf Beteiligung bestimmt sich durch zwei, sich wechselseitig bedingende Aspekte, und zwar Beitragen und Teilhaben. Was meint dies?

Betrachten wir zunächst einmal den Aspekt der beitragenden Gerechtigkeit. Niemand kann für sich allein leben. Der Einzelne kann sich nur im sozialen Miteinander verwirklichen. Sich nicht einfach treiben oder von äußeren Zwängen beherrschen zu lassen, sondern sein Leben aktiv gestalten und etwas zum Gemeinwohl beitragen zu können, ist eine (wenn auch nicht die einzige) Form sozialer Anerkennung und Wertschätzung. Bildung ist dabei eine unabdingbare Voraussetzung, zum Autor des eigenen Lebens werden zu können. In der modernen Gesellschaft gibt es wohl keinen Bereich des Zusammenlebens, der nicht durch Bildung bestimmt wird. Wer keinen ausreichenden Zugang zu Bildung hat, wird sich in nahezu allen anderen Lebensbereichen schwer tun: auf dem Arbeitsmarkt oder im bürgerschaftlichen Engagement, bei politischer Beteiligung oder beim Konsum, in der eigenen Erziehungspraxis oder beim eigenen Gesundheitsverhalten, bei der Bewältigung des Alltags oder bei der privaten Selbstverwirklichung. Die Beteiligung an Bildung wird zudem immer wichtiger in einer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert und spezialisiert, beschleunigt und pluralisiert. Der Einzelne sieht sich heute einer Vielzahl konkurrierender Lebensentwürfe und Handlungsmuster gegenüber, aus denen er auswählen muss. Die Freiheit, die dem Einzelnen aufgegeben ist, fordert ihm ständig Entscheidungen ab. Dies verlangt Orientierungswissen und die Kompetenz, begründet und selbstverantwortlich entscheiden zu können. Wer nicht gelernt hat, mit der Vielfalt an Angeboten und Meinungen umzugehen, über den wird sehr leicht entschieden – aber eben von anderen.

Dann gibt es aber auch die andere Seite, gleichsam die Kehrseite derselben Medaille: die teilhabende Gerechtigkeit. Der Gemeinschaft kann es nicht gleichgültig sein, ob der Einzelne sich beteiligen kann oder nicht. Die sozialen Institutionen, etwa unser Bildungs- und Erziehungssystem, sind daher so zu gestalten, dass sie dem Einzelnen auch die aktive Teilhabe am sozialen Leben real ermöglichen. Der Einzelne soll seine Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen können. Und er soll in der Lage sein, sich an jenen sozialen und politischen Aushandlungsprozessen zu beteiligen, in denen immer wieder von neuem um das Gemeinwohl und seine angemessene Verwirklichung gerungen wird.

Der schon erwähnte Wolfgang Huber hat darauf hingewiesen, dass diese Fähigkeiten nicht von vornherein vorausgesetzt werden können. Sie müssen gefördert und eingeübt werden. Er spricht daher auch von der notwendigen Befähigung zur Gerechtigkeit, zur Beteiligung und Mitbestimmung.

Und die Fähigkeiten hierzu sollten von klein auf eingeübt werden. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die in diesem Jahr vor genau dreißig Jahren verabschiedet wurde, macht deutlich, dass Kinder eigenständige Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte besitzen. Der UN-Kinderrechtsausschuss, der die Einhaltung der Konvention überwachen soll, verlangt im Sinne des Schutzauftrags eine auf das Kind konzentrierte Form der Bildung, welche die notwendigen Fähigkeiten zur Selbstbehauptung vermittelt. Eng verbunden ist damit ein Recht auf Erziehung, also auf pädagogische Unterstützung, Begleitung und Förderung, damit das Kind schrittweise, dem Alter und der Entwicklung angemessen, dazu befähigt wird, immer stärker Selbstverantwortung für das eigene Leben übernehmen und Beteiligungsmöglichkeiten eigenständig nutzen zu können. Die Sozialethikerin Anna-Maria Riedl hat in ihrer 2017 veröffentlichten Doktorarbeit zum Kindeswohl angemahnt, dass noch einige Anstrengung notwendig ist, den eigenständigen Anspruch von Kindern auf Beteiligung zu qualifizieren – sie schreibt: „[E]s geht nicht nur um das ‚Dass‘ der Beteiligung, sondern auch um das ‚Wie‘.“ Die Theologin lässt keinen Zweifel daran, dass aus einem erweiterten Beteiligungsbegriff auch erweiterte Rechtsansprüche der Kinder gegenüber Staat und Gesellschaft erwachsen. Diese dürften nicht allein der individuellen Verantwortung von Eltern und Pädagogischen Fachkräften überlassen bleiben, sie müssten auch strukturell verankert werden.

Dies geschieht bereits, wenn Beteiligungsansprüche der Kinder in den staatlichen Bildungsplänen oder den Konzeptionen der einzelnen Träger verankert werden. Die Kinderkonferenz oder das Kinderparlament beispielsweise sind didaktisch-methodische Möglichkeiten, diese Vorgaben dann auch in der pädagogischen Praxis umzusetzen. Bei alldem bleibt es aber wichtig, eines nicht zu vergessen: Verwirklichen lassen sich die eigenständigen Ansprüche der Kinder, wie sie etwa in der Kinderrechtskonvention formuliert sind, nur im angemessen Zusammenspiel von Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechten. Denn Kinder bereits als vollgültige Akteure im Kampf um Anerkennung und Beteiligung anzusehen, nimmt ihnen jenen pädagogischen Bildungsraum des „Als-ob“, in dem sich die notwendigen Fähigkeiten für wirksame Beteiligung erst entwickeln können.

Der „Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“ von 2004, auf dem auch der baden-württembergische „Orientierungsplan“ fußt, hebt die „guten Beteiligungsmöglichkeiten“ in den Kindertagesstätten hervor. In der Elementarbildung soll sich der „Prozess der Weltaneignung“ – wie Bildung im Gemeinsamen Rahmen der Länder umschrieben wird – vorrangig aus sozialen Situationen ergeben, also alltagsbasiert erfolgen. Wörtlich heißt es: „Eine Fächerorientierung oder Orientierung an Wissenschaftsdisziplinen ist dem Elementarbereich fremd. Eine Beschreibung von Themenfeldern, in denen sich kindliche Neugier artikuliert, aber ist sinnvoll, weil sie die Angebote der Kindertageseinrichtung konkretisiert.“

Der Alltag fordert die Neugier der Kinder heraus. Dieser soll bilden – aber eines darf nicht übersehen werden: Es geht in weiten Teilen um einen gestalteten Alltag. Oder wie es der Kölner Pädagoge Matthias Burchardt unter Bezugnahme auf sogenannte „Wolfskinder“, mit denen auch Sie sich zu Beginn Ihrer Ausbildung einmal auseinandersetzen mussten, zuspitzt: Eben „nicht diese fiese Umwelt mit Spinnen und Dreck, sondern die arrangierte Vollwert-Umwelt: die Lernumgebung. Sie stellt die Herausforderungen, die einzeln oder kooperativ bewältigt werden müssen. Sie schafft Lerngelegenheiten und Entwicklungschancen.“

Jörg Maywald beschreibt zu Beginn seines Buches „Kinderrechte in der Kita“, wie er sich eine Kindertageseinrichtung vorstellt, die „vom Kind denkt“ und dessen Wohl in den Mittelpunkt stellt: „Schnell erkennen [die Kinder], dass sie willkommen sind und eingeladen, die Welt um sie herum zu erkunden, und dabei von feinfühligen und engagierten Erwachsenen begleitet und unterstützt werden. Nicht zuletzt fühlen sich die Kinder davon angezogen, Schritt für Schritt die Begrenztheit ihrer Familie zu verlassen. Dies gilt umso mehr, weil sie die Erfahrung machen, am Ende des Kita-Tages in den familiären Raum zurückzukehren, wo sie Vertrauen begegnen und neue Kraft für den nächsten Tag schöpfen. Kinder sind wissbegierig und nutzen jede Gelegenheit, Neues auszuprobieren. Gerade weil sich die Familien-Welt von der Kita-Welt unterscheidet und an beiden Orten nicht die gleichen Regeln gelten, profitieren Kinder von dem geteilten Betreuungssetting.“ Erziehung findet nicht allein im direkten Kontakt zwischen Kind und Fachkraft statt, sondern auch auf indirekte Weise – über die Gestaltung von Beziehungen, Spielmaterial, Zeiten und Räumen. Das ist richtig, soweit bewusst bleibt, dass es zunächst einmal um Beteiligung im Rahmen einer gestalteten Umgebung geht.

Noch wichtiger aber sind wirksame Beteiligungsmöglichkeiten, die sich tatsächlich aus dem Alltagsgeschehen einer Kindertageseinrichtung heraus ergeben, aber nicht aus den „Angeboten“ – und solche realen Erfahrungen können ungemein fruchtbar sein für die Werterziehung, wie Volker Elsenbast beispielhaft verdeutlicht: Es können beispielsweise „Situationen entstehen, in denen Kinder, Erzieherinnen oder beide gerechte Entscheidungen herbeiführen wollen, zum Beispiel beim Teilen: Ob es um die Aufteilung von Spielmaterial geht oder um das Austeilen bei Mahlzeiten: Soll jede/jeder das Gleiche bekommen? Oder das, was er/sie will? Oder das, was Kinder so im Durchschnitt brauchen […]?“

Denn Vorsicht: Partizipation ist kein bloßes Mittel zum Zweck. Wo Beteiligungsmöglichkeiten pädagogisch allein arrangiert und zugeteilt werden, kann paradoxerweise gerade die Erfahrung von Beteiligung verloren gehen. Wer immer schon den Eindruck gewinnt, wirksamen Einfluss bereits zu besitzen, braucht sich um eigene Gestaltungsmacht keine Gedanken mehr zu machen. Wo die Umwelt den Einzelnen steuert, gerät Bildung zur Anpassungsleistung: Entweder passt sich das Kind an seine gesellschaftliche Umwelt und die von ihr ausgehenden Erwartungen an, oder die Lernumwelt wird optimal an die Bedürfnisse des Kinder angepasst. Doch damit sich Selbständigkeit und Mündigkeit – die großen Themen der Bildung! – entwickeln können, braucht es gerade auch die Erfahrung, sich an den Widerständigkeiten der Umwelt abarbeiten zu müssen.

Der schon zitierte Jörg Maywald nennt drei Ebenen, auf denen Pädagogische Fachkräfte die Beteiligung der Kinder fördern sollen: Erstens sind sie selbst ein Vorbild im Umgang mit den Beteiligungsrechten der Kinder. Zweitens sollen sie Kindern erschließen, welche Rechte sie haben. Und drittens sollen sich Erzieherinnen und Erzieher dafür einsetzen, die Rechte der Kinder auch in den Leitbildern, Konzepten und im Curriculum der jeweiligen Kindertageseinrichtung zu verankern.

Liebe Absolventinnen und Absolventen,

ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen in Ihrer Berufslaufbahn gelingt, den Ihnen anvertrauten Kindern dabei zu helfen, Beteiligungsmöglichkeiten zu erkennen und zu nutzen – und sie so auf dem Weg zu immer mehr Selbständigkeit, Eigenständigkeit und Verantwortung zu begleiten. Vergessen Sie aber auch nicht, welche Beteiligungsmöglichkeiten Sie selbst haben: Sie sind jetzt „Experten“ für frühe Bildung und Erziehung. Mischen Sie sich ein und gestalten Sie Ihr eigenes Arbeitsfeld mit – in beruflichen Gremien, in Berufsverbänden oder in der bildungspolitischen Öffentlichkeit. Im Namen unseres Schulträgers, der Schulleitung sowie des gesamten Kollegiums, aber auch ganz persönlich wünsche ich Ihnen für Ihren weiteren Berufsweg alles Gute, Freude an der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die notwendige Kraft, Erfolg, vor allem aber Gottes Segen. Unser aller Glück- und Segenswünsche begleiten Sie in die berufliche Selbständigkeit.

Welche Bedeutung besitzen Rituale für die pädagogische Arbeit?

Gestern hat mein Schulleiterkollege an dieser Stelle gesagt, zu einer evangelischen Schule gehöre die öffentliche Rede. In ihrer Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ schreibt die EKD: Es gibt „auch den Anspruch der Öffentlichkeit auf kirchliche Äußerungen – sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, was eine Kirche zu entscheidenden, gesellschaftlichen […] Fragen aktuell und auf Dauer geistlich beizutragen hat. Denn Gott hat sich dieser Welt zugewandt – im Geist des Dienens, der liebevollen Zuwendung.“ Nun sind wir gewiss nicht die ganze Kirche, aber eben doch eine kirchliche, evangelische Schule. Daher wollen wir Ihnen, der Schulöffentlichkeit, in der heutigen Ansprache zumindest ausschnitthaft Rechenschaft darüber geben, wie wir unsere pädagogische Arbeit verstehen und was uns als Evangelischer Fachschule für Sozialpädagogik wichtig ist.  

Der folgende Beitrag wurde am 19. Juli 2019 als Schulleitungsrede zur feierlichen Zeugnisübergabe am Ende der schulischen Ausbildung gehalten.

Wer sich bildet, ist mit dem Kernbereich seiner Person daran beteiligt. Daher ist das Verhältnis zwischen Bildung und Religion ein besonders sensibler Bereich. Pädagogische und religiöse Fragen hängen eng zusammen. Aus christlicher Sicht ist der Mensch von Gott dazu geschaffen worden, seinen Freiheits-, Vernunft- und Sprachgebrauch zu kultivieren. Reifung der menschlichen Person und Wachstum im Glauben gehören nach christlicher Auffassung eng zusammen. Eltern, Lehrer, aber auch Erzieherinnen und Erzieher haben hierbei eine gewichtige Aufgabe. Sie können nicht entscheiden, wie die Kinder und Jugendlichen, die ihnen anvertraut sind, später leben, denken und handeln werden. Aber sie beeinflussen den späteren Weg der Heranwachsenden durch das, was sie ihnen durch ihr eigenes Vorbild und durch ihre erzieherische Praxis mit auf den Lebensweg geben – oder eben auch nicht. Dies gilt auch in religiöser Hinsicht. Zunächst einmal lernt jeder Mensch die ersten ethischen Regeln von klein auf durch Nachahmung; in der Werterziehung wird es aber darauf ankommen, den Einzelnen herauszufordern, über die eigenen Entscheidungen nachzudenken, diese zu reflektieren und so die Fähigkeit zur eigenständigen sittlich-religiösen Urteilsbildung zunehmend weiter zu entwickeln. Religiöse Sprachfähigkeit sollte demnach pädagogisch gefördert werden, von klein auf. Sich der Frage nach Gott und nach dem Sinn unserer Existenz zu stellen, wird nur demjenigen gelingen, welcher der Aufgabe und der Anstrengung der Bildung nicht ausweicht – gleich, ob am Ende eine konfessionell bestimmte Antwort steht oder nicht.

Je mehr Religion aus dem gelebten Alltag schwindet, desto weniger wird es oftmals möglich sein, an den religiösen Gehalt der Kultur anzuknüpfen, den die Heranwachsenden in ihrem Lebensumfeld vorfinden. Dann müssen solche Grundlagen erzieherisch erst angebahnt werden. Dabei geht es erst einmal darum, pädagogisch jene grundlegenden Vorstellungen und Kenntnisse zu legen, an welche die religionspädagogische Arbeit dann anknüpfen kann. Dabei sollte pädagogisch der Eindruck von Künstlichkeit, Banalisierung oder Verzerrung vermieden werden. Eine besondere Herausforderung stellt sich noch einmal in pädagogischen Ganztageseinrichtungen: Je mehr diese vom Lern- zum Lebensort werden, umso wichtiger wird es sein, dass Kinder und Jugendliche auch dort religiös bedeutsame Lebensformen finden können, die ihrem Streben nach religiöser Selbstbestimmung gerecht werden.

Im Folgenden soll gefragt werden, welche Rolle hierbei Rituale spielen können. Rituale finden sich nicht allein in religiösen Kontexten, sondern bestimmen zugleich unsere alltäglichen Abläufe. Nur einige Beispiele: Sie alle kennen Beispiele aus der Alltags- und Populärkultur, bei denen ein bestimmtes Event, ein Film oder eine Party gleichsam „Kultstatus“ erlangen können. Ein typisches Alltagsritual ist die gepflegte Form der Begrüßung. Das Begrüßungsritual fördert die Kommunikation, schafft Verbundenheit und bringt Wertschätzung für den anderen zum Ausdruck. Im diplomatischen Verkehr bereiten Begrüßungsrituale den Boden für gemeinsame Verhandlungen, auch über kontroverse Punkte, und schaffen die Möglichkeit zur gewaltfreien Verständigung. Im Kindergarten ist der Morgenkreis ein bekanntes Ritual. Das Essen wird in vielen Tageseinrichtungen für Kinder mit einem gemeinsamen Tischspruch, oft unter Anfassen der Hände, begonnen.

Bei Ritualen handelt sich um symbolische Handlungen, die von einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft nach einer bestimmten Ordnung, einem festen Ablauf, wiederholt und durchgeführt werden. Ein Ritual wiederum besteht aus mehreren kleineren Sinneinheiten, etwa festgelegten Worten, Gesten oder Zeichen. Rituale sind kulturelle Handlungen, die für den Einzelnen und seine Identitätsbildung unverzichtbare Bedeutung erlangen können. Der Theologe Hans-Martin Gutmann drückt dies im „Lexikon der Religionspädagogik“ folgendermaßen aus: „Auch in seiner Alltäglichkeit zeigt sich die Macht des R[ituals]: R[ituale] verbürgen Heil gegenüber drohendem Chaos. Beispielsweise kann ein nicht erwiderter Gruß einen ‚guten Tag‘ umstandslos in einen schlechten verwandeln.“

Im Ritual zeigt sich, woran der Einzelne sein Leben festmacht und woran er sich bindet. Rituale haben eine entlastende Funktion, sie vermitteln Sicherheit, bringen Rhythmus und Struktur in unser Leben, machen Gemeinschaft sichtbar und stärken soziale Kompetenzen. Bei der Ritualisierung von Abläufen geht es zum Beispiel um Möglichkeiten für gemeinsame Prozesse der Sinnsuche, der Verständigung, der Konfliktlösung oder der gemeinschaftlichen Selbstvergewisserung. Eine besondere Bedeutung besitzen Rituale bei der Begleitung von Übergangen – so auch heute: Mit dieser Feier, mit der feierlichen Zeugnisübergabe, der Überreichung einer Rose und dem gemeinsamen Anstoßen beim Sektempfang findet eine bestimmte Gemeinschaft ihr Ende. Schulische Regeln und Erwartungen, die für die Zeit der Ausbildung ihre Bedeutung und Gültigkeit besaßen, sind an ein Ende gekommen. Das Ritual – so auch die heutige Feier – besitzt eine „Schwellenfunktion“: Es markiert den „Zwischenraum“ zwischen zwei Phasen relativer Stabilität. Das andere, das jetzt kommt und das die bisher eingespielte Ordnung ablöst, erscheint durch das Ritual nicht als Verunsicherung oder gar Bedrohung, sondern als eine neue Realität mit neuen Chancen und erweiterten Möglichkeiten. Für sie bedeutet es einen weiteren Schritt in die berufliche Selbständigkeit.

Welche Rolle spielen Rituale für die pädagogische Arbeit mit Kindern? Klaus Fröhlich Gildhoff und Maike Rönnau-Böse vom Zentrum für Kinder- und Jugendforschung der Evangelischen Hochschule Freiburg zählen für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen sechs Schutzfaktoren auf, die bereits in der frühen Bildung gefördert werden sollten: Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbststeuerung, Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenz, Stress­management und Problemlösefähigkeit. Die Themen sind Ihnen aus dem zurückliegenden Fachschulunterricht hoffentlich alle gut vertraut. Regelmäßigkeiten im Tagesablauf, klare Strukturen und Rituale sind wichtige Elemente, die Selbststeuerung zu fördern. Kindern gelingt es anders als Erwachsenen noch nicht so gut, innere Abläufe im Kopf durchzuspielen, gedanklich kurz „durchzuatmen“, bevor es weitergeht. Sie benötigen deutliche Rückmeldungen über ihr Handeln und äußere Erinnerungen, die zur Selbstberuhigung und Impulskontrolle anhalten. Für Bildungserfahrungen ist es aber wichtig, nicht allein bei bloßen Ritualisierungen stehen zu bleiben. Dies können etwa gemeinsam vereinbarte Zeichen, z. B. der sogenannte „Schweigefuchs“ oder das bekannte Lied „Eins, zwei, drei, das Spielen ist vorbei“, sein. Noch einmal: Ritualisierungen bieten Orientierung und Sicherheit, sie entlasten und schaffen Freiräume, ermöglichen gemeinsame Erfahrungen und helfen, Krisensituationen zu bewältigen. Dies ist eine Menge und unterstützt das gemeinsame Lernen wie Arbeiten.

Doch Rituale gehen noch einen wichtigen Schritt weiter. In ihnen vermittelt sich eine für den Einzelnen oder die Gemeinschaft bedeutsame Erfahrung. Rituale können etwa ein Gefühl der Zugehörigkeit, des Angenommenseins und der Gemeinschaft zum Ausdruck bringen, durch sie werden Alltag und Fest unterscheidbar, sie können Ausdruck von Freude und Trauer sein, und sie helfen, kritische Ereignisse oder Verlusterfahrungen zu bewältigen. Erst die Frage nach ihrer Bedeutung macht aus einer bloßen Ritualisierung ein Ritual. Daher bleibt es wichtig, diese Frage zu stellen. Und wo dies pädagogisch gelingt, können Rituale auch elementare Grunderfahrungen wecken, die für ein Verständnis religiöser Vollzüge fruchtbar gemacht werden können. Die Erziehungsarbeit, die in Kindertageseinrichtungen oder Schulen geleistet wird, kann viel dazu beitragen, ein solches Verständnis zu pflegen, gerade wenn Heranwachsende nicht mehr aktiv und selbstverständlich in religiösen Zusammenhängen verwurzelt sind.

Wer erzieht, wird nicht vermeiden können, selbst zum Modell zu werden. Kinder lernen nicht allein Sachverhalte, sondern zugleich die Bedeutung, welche die Erzieherin oder der Pädagoge den Dingen gibt. Den Umgang mit Ritualen einzuüben, spielt daher nicht zuletzt für die Erzieherausbildung eine wichtige Rolle. Ich möchte nur zwei Beispiele aus unserer Fachschule nennen: Nach den Weihnachtsferien kommt die Schulgemeinde zu einem Neujahrsritual zusammen. Einmal in der Woche lädt der Impuls mitten im Schulalltag dazu ein, zur Ruhe zu kommen – unter dem Motto: „7 Minuten Stille, gute Gedanken, Singen, in Kontakt sein mit Gott für Dich“. Im Mittelpunkt steht dabei ein Bild, Lied, eine Geschichte, eine Erzählung, eine selbst erlebte Begebenheit, die mit den anderen geteilt und gedeutet wird, gerahmt durch eine elementare Struktur kurzer Gebets- und Segensformeln.

Liebe Absolventinnen und Absolventen,

Sie werden als neue Erzieherinnen und Erzieher die Kinder dabei unterstützen, die Welt zu erkunden und der Bedeutung der Dinge auf die Spur zu kommen, zugleich werden sie damit – und darüber hinausgehend! – die Kinder anregen, nach der Bedeutung und dem Sinn der eigenen Existenz zu fragen, und dies von klein auf. Für diese herausfordernde, spannende und bedeutungsvolle Aufgabe wünsche ich Ihnen alles Gute, Freude, Erfolg und nicht zuletzt Gottes Segen, an dem alles gelegen ist. Unser aller Glück- und Segenswünsche am heutigen Tag, an dem Sie Ihren Ausbildungserfolg feiern dürfen, begleiten Sie dabei.

Rezension: Wie einflussreich ist der Transhumanismus?

Vor einigen Jahren noch als völlig utopischer Größenwahn verspottet, ist der Transhumanismus heute zu einer ernsthaften Größe im wissenschaftlichen Gespräch geworden. Dieser arbeitet mit den sogenannten GRIN-Wissenschaften; das Akronym steht für Genetik, Robotik, Informations- und Nanotechnologie. Als kurzfristige Ziele gelten die Verlängerung der Lebenserwartung, eine Steigerung der Intelligenz sowie die Überwindung physischer und psychischer Grenzen. Die Erfolgsaussichten transhumanistischer Forschung werden weiterhin skeptisch beurteilt, dennoch besitzt dieser neue Wissenschaftszweig einen erheblichen Einfluss auf die anthropologische und technikphilosophische Debatte. Einzelne Kritiker gehen bis zum Vorwurf, beim Transhumanismus handele es sich um eine „Neoreligion“, die sich der Sprache der Wissenschaft bediene. Die anthropologischen Grenzen sollten verschoben und „posthumane“ Wesen, beispielsweise Cyborgs, Mensch-Tier-Mischwesen oder Designbabys, erschaffen werden. Am Ende transhumanistischer Ziele stehe eine Welt, in welcher der Mensch keinen Platz mehr habe.

Sammelrezension für das Themenheft „Neue Technologien – Fluch oder Segen?“ der Zeitschrift „Concilium“ zu folgenden Titeln:

Benedikt Paul Göcke, Frank Meier-Hamidi (Hg.): Designobjekt Mensch. Die Agenda des Transhumanismus auf dem Prüfstand, Freiburg i. Brsg.: Herder 2018, 532 Seiten.

Bernd Weidmann, Thomas von Woedtke (Hg.): Das menschliche Maß. Orientierungsversuche im biotechnologischen Zeitalter, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018, 213 Seiten.

Axel Bernd Kunze (Rez.): Selbstformung statt Selbstoptimierung, in: Concilium 55 (2019), H. 3, S. 362 – 366.

Rezension: Religion – Nation – Emotion

Im vergangenen Jahr sorgte ein sogenannter „Kreuzerlass“ des bayerischen Ministerpräsidenten für Aufmerksamkeit: In allen Landesbehörden muss seitdem sichtbar ein Kreuz hängen. Über das Ansinnen der bayerischen Landesregierung wurde kontrovers gestritten. Namhafte Vertreter der wissenschaftlichen Theologie in Bayern haben mit einer ökumenischen Erklärung ihre Zustimmung ausgedrückt. Die Unterzeichner berufen sich darauf, dass der liberale Rechts- und Verfassungsstaat grundsätzlich das Recht hat, sich zu den ethischen Wurzeln seiner Grundwerte zu bekennen und einen entsprechenden, politisch belastbaren Gedächtnisraum zu fördern. Nicht jeder muss die politische Stoßrichtung einer solchen öffentlichen Erklärung teilen. Aber im wissenschaftlichen Diskurs sollte zumindest das Für und Wider der Debatte wahrgenommen werden, zumal wenn diese so strittig geführt wird wie im vorliegenden Fall. In der Einleitung zum Band „Gender -Nation – Religion“ geschieht dies allerdings nicht. Hier wird das Vorgehen des Freistaates Bayern allein als Beleg dafür genommen, wie weit eine „Form des Populismus inzwischen in die sprichwörtliche ‚politische Mitte‘ eingedrungen ist“ (S. 19). Eine Öffentliche, gesellschaftlich relevante Theologie, die zur politischen Urteilsbildung anregen will, wird alternative Beurteilungen, die der eigenen Position widersprechen, nicht einfach ausblenden dürfen. Andernfalls werden möglicherweise Stimmungen erzeugt, überwiegt am Ende der Affekt. Für eine Theologie, die ihrer Diskursverantwortung gerecht werden will, gehört es, das Selbstverständnis und die Bandbreite der unterschiedlichen, durchaus gegensätzlichen Positionen zunächst einmal unvoreingenommen wahrzunehmen. Erst dann werden Akteursstrategien und Diskursverflechtungen in ihrer gesamten Breite und Tiefe verstehbar und vergleichbar.

Sammelrezension für das Themenheft „Populismus und Religion“ der Zeitschrift „Concilium“ zu folgenden Titeln:

Marianne Heimbach-Steins, Maren Behrensen, Linda E. Hennig (Hgg.): Gender – Nation – Religion. Ein internationaler Vergleich von Akteursstrategien und Diskursverflechtungen (Religion und Moderne; Bd. 14), Frankfurt a. M.: Campus 2019, 210 Seiten.

Stefan Orth, Volker Resing (Hgg.): AfD, Pegida und Co. Angriff auf die Religion? (Edition Herder Korrespondenz), Freiburg i. Brsg.: Herder 2017, 203 Seiten.

Thomas Wabel, Torben Stamber, Jonathan Wieder (Hgg.): Zwischen Diskurs und Affekt. Politische Urteilsbildung in theologischer Perspektive (Öffentliche Theologie; Bd. 35), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018, 212 Seiten.

Axel Bernd Kunze (Rez.): Affektiv-emotionaler Überschuss, in: Concilium55 (2019), H. 2, S. 237 – 241.

AG Christliche Sozialethik nimmt Stellung: „Für substanziellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs“

Im vergangenen Monat antworteten in der Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ mehr als sechzig Wissenschaftler und Publizisten auf den Boykottaufruf der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik gegen die Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ und ihren Chredakteur, P. Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels OP:

https://www.die-tagespost.de/feuilleton/online/Substanzieller-Dialog-statt-Stigmatisierung-und-Ausgrenzung;art4690,198850

Unter dem Titel „Für substanziellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs“ veröffentlichte die „Tagespost“ am 4. Juli 2019 nun eine Erwiderung, verfasst vom Vorstand (Prof. Dr. M. Heimbach-Steins, Münster/Westf.; Prof. Dr. C. Mandry, Frankfurt/M.) und zwei weiteren Mitgliedern (Prof. Dr. B. Emunds, Frankfurt/Main; Prof. Dr. G. Kruip, Mainz) der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik:

http://www.christliche-sozialethik.de/?p=392

Damit liegen Rede und Gegenrede auf dem Tisch. Die wissenschaftliche und publizistische Öffentlichkeit kann die Argumente beider Seiten beurteilen …

Wie nicht anders zu erwarten, weisen die Urheber der ursprünglichen „Erklärung“ die Vorwürfe, die Publikationsfreiheit einschränken zu wollen, zurück. Stattdessen heißt es in der Stellungnahme vom 4. Juli an die Adresse der Kritiker: „Unter dem Vorzeichen der Verteidigung formaler Freiheiten wird verschleiert, über welche gravierenden inhaltlichen Punkte eine Auseinandersetzung geführt werden muss – die soll aber offensichtlich gerade vermieden werden. Die Gegenerklärung bleibt hier merkwürdig stumm.“ Ob diese Diagnose wirklich so stimmt, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Plausibler erscheint beim Vergleich beider Stellungnahmen aus der „Tagespost“ eher eine andere Beobachtung: Einmal mehr zeigt die mit harten Bandagen innerhalb der Christlichen Sozialethik ausgetragene Kontroverse, wie schwer ein „substantieller Dialog“, den beide Seiten mit unterschiedlichen Argumenten einfordern, heute fällt. Dies gilt nicht allein für die Wissenschaft im Allgemeinen und die wissenschaftliche Sozialethik im Besonderen. Zu Recht sprechen die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft zu Beginn ihrer Stellungnahme „eine zunehmende politische Polarisierung unserer Gesellschaft“ an. Ein gemeinsames Freiheitsbewusstsein ist zwischen beiden Stellungnahmen so gut wie nicht mehr auszumachen, dies gilt in diesem Zusammenhang auch für andere normativ besetzte Begriffe wie „Dialog“, „Vielfalt“ und „Pluralität“. Die Verständigung wird sicher nicht einfacher, wenn jetzt auch noch eine Verbindung zum Mord an Walter Lübcke hergestellt wird, der ohne Zweifel durch nichts zu rechtfertigen ist.

Soll ein „substantieller Dialog“ wirklich wieder gelingen, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Streit – hart in der Sache, aber fair im Umgang. Eine solche Streitkultur setzt voraus, dass sich alle Beteiligten ihrer formalen Freiheitsrechte sicher sein dürfen. Über Inhalte mag man dann trefflich streiten – und wenn es sein muss, auch mal polemisch. Davon geht die Welt nicht unter. Was gesellschaftlich gilt (erst vor kurzem hat Altbundespräsident Gauck eine „robuste Zivilität“ für die Debatte in Deutschland angemahnt), sollte auch innerkirchlich gelten. Warum der Vorwurf der „Doppelzüngigkeit“ an einen Bischof, mithin eine Person der Zeitgeschichte, in einem streitbaren Editorial seinen Verfasser schon aus der „diskursiven wissenschaftlichen Community“ hinausdrängt, bleibt unklar. Auch unsere Kirche verträgt mehr Streitkultur. An dieser Stelle kann an das Theologenmemorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“ erinnert werden, an dem auch deutschsprachige Sozialethiker führend beteiligt waren – darin heißt es: „Die Unruhe eines offenen Dialogs ohne Tabus ist nicht allen geheuer, schon gar nicht wenn ein Papstbesuch bevorsteht.“ Offenbar gilt dies nicht allein für Kirchenleitungen und nicht allein vor Papstbesuchen. Substantieller Dialog ohne die Unruhe eines offenen Dialogs wird nicht gelingen – das zeigt die aktuelle Kontroverse einmal mehr.

 

 

Neuerscheinung zur Professionalität von Erziehern: Das Recht auf Bildung als Querschnittsthema innerhalb der Erzieherausbildung

Aus der Einleitung des Herausgebers:

Priv.-Doz. Dr. Axel Bernd Kunze […] wählt einen bildungsethischen Zugang in seinem Beitrag. Ausgehend  vom Recht auf Bildung klärt er die Frage, welche Konsequenzen sich aus diesem Recht für die Ausbildung von [Erzieherinnen] ergeben. Dazu erörtert Kunze zunächst, was unter „Bildung“ zu fassen ist, um daraus Anschlussmüglichkeiten für eine Auseinandersetzung mit dem Recht auf Bildung im Rahmen der Fachschule für Sozialpädagogik zu formulieren. Dabei geht er vom Verständis aus, dass Bildungs- und berufsethische Aspekte einen integralen Bestandteil einer umfassend verstandenen Professionalität von Erziehern und Erzieherinnen darstellen.

Axel Bernd Kunze: Jedermann hat das Recht auf Bildung (Art. 26 Abs. 1 AEMR 1948). Das Recht auf Bildung als Querschnittsthema innerhalb der Erzieherausbildung, in: Carsten Püttmann (Hg.:) Bildung. Konzepte und Unterrichtsbeispiele zur Einführung in einen pädagogischen Grundbegriff (Didactica Nova; 29), Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 2019, S. 291 – 316.

Vortrag: Ist mit der politischen Ethik noch ein Staat zu machen?

Ist mit der politischen Ethik noch ein Staat zu machen? [1]

Wie weit bei der Beurteilung der Flüchtlingsfrage innerhalb der Sozialethik die Positionen auseinander gehen, zeigte sich exemplarisch im Herbst 2016 bei der 34. gemeinsamen Medientagung des Cartellverbandes und der Hanns-Seidel-Stiftung im Kloster Banz (vgl. Fuchs u. a. 2017): Der Staatsrechtslehrer Josef Isensee, Verfasser des Grundsatzartikels zum Stichwort Staat im „Handbuch der Katholischen Soziallehre“ (Berlin 2008), nannte dort die weitreichende, einseitige Grenzöffnung Deutschlands im Sommer 2015 einen „humanistischen Staatsstreich“; in einem „Rausch der Moral“ habe man auf jede rechtliche und gesetzliche Grundlage verzichtet. Die deutsche Entscheidung, auf ein wirksames Grenzregime zu verzichten, basiert bis heute lediglich auf einer Anordnung des Bundesinnenministeriums. Gänzlich anders argumentierte hingegen auf derselben Tagung der Bamberger Erzbischof, Ludwig Schick: Die weitreichende Flüchtlingsaufnahme sei ein „Gebot christlicher Nächstenliebe“ gewesen. Die deutsche Bundeskanzlerin habe seiner Ansicht nach im Sommer und Herbst 2015 gar nicht anders handeln können. [2]

Die Kontroverse lässt eine Konfliktlinie innerhalb der gegenwärtigen politischen Ethik deutlich werden: Inwiefern besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Nächstenliebe und Staatsethik?

Staatsethik – so formulierte Joseph Höffner in seiner noch umfassend angelegten christlichen Gesellschaftslehre – stellt „die Fragen nach dem Ursprung und den Aufgaben des Staates, nach der Staatsgewalt und den Staatsformen sowie nach dem besonderen Verhältnis des Christen und der Kirche zum Staat“ (Höffner 1997, 255; ursprünglich: 11962 bis 81983). Gegenüber den Forderungen der Bergpredigt betont der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz die grundlegende Rechts- und Ordnungsfunktion, welche die sittliche Idee des Staates ausmacht: „Die Aufforderung Jesu zur Versöhnung und zum Verzicht auf Rache bedeutet jedoch nicht, daß Recht und Ordnung aufgehoben wären. Der einzelne Mensch und auch der Staat können auf dieses oder jenes Recht verzichten, dürfen aber niemals das Recht selbst, die Wahrheit selbst dem Unrecht und der Lüge ausliefern. […] Die staatliche Gewalt, die das Zusammenleben der Menschen durch die Rechtsordnung sicherstellt, ist ‚von Gott eingesetzt … Nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut‘ (Röm 13, 1. 4)“ (ebd., 283 f. [Hervorhebung im Original]).

In der zeitgenössischen Sozialethik gehört der evangelische Theologe Richard Schröder zu jenen, die ähnlich argumentieren: „Einzelne können barmherzig sein, auch Institutionen, die sich der Barmherzigkeit verschrieben haben. Der Staat aber darf nicht barmherzig sein, weil er gerecht sein muss. Er muss nach Regeln verfahren und die Folgen bedenken“ (Schröder 2016). Dies schließt harte Entscheidungen unweigerlich ein. Selbst Härtefallkommissionen im Bleiberecht sind an Regeln mit definierten Ermessensspielräumen gebunden.

Werden hingegen tugendethische Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder auch Gastfreundschaft als normethische Kategorien verwendet, führe dies leicht zu einer Moralisierung, gesinnungsethischen Einseitigkeit oder Entrüstungsrhetorik im politischen Diskurs, wie vor allem Ulrich H. J. Körtner immer wieder, etwa in seinem Band „Für die Vernunft“ (Leipzig 2017), kritisiert hat. Ohne politische Vernunft und Differenzierungsfähigkeit leide, so der Wiener Sozialethiker, die politische Kompromissfähigkeit. Dass staatsethischen Fragen innerhalb der zeitgenössischen Sozialethik oftmals eine so geringe Rolle zugebilligt wird, verwundert vor dem Hintergrund einer traditionsreichen und profilierten christlichen Staatslehre, gleich ob diese mit der protestantischen Zweireichelehre oder dem katholischen Naturrecht begründet wird (vgl. auch Kunze 2017). Im Folgenden soll zunächst gefragt werden:

 

1. Was kennzeichnet ein stabiles Gemeinwesen?

Das Christentum rechtfertigt den Staat als notwendigen organisierenden Faktor des sozialen Lebens und relativiert diesen zugleich. Der Christ gibt dem Staat, was des Staates ist, und Gott, was Gottes ist (vgl. Mt 22, 21). Die Verpflichtung des Christen zum staatsbürgerlichen Gehorsam ist eine Gewissenspflicht, insofern der Staat letztlich in Gott, dem Schöpfer, gründet. Der Mensch ist auf das politische Leben hin angelegt. Die staatliche Gewalt rechtfertigt sich funktional, indem sie die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens erhält und gestaltet. Dies bleibt eine beständige Aufgabe.

Vom Staat zu sprechen, setzt nach herrschender Auffassung ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt voraus. Im freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat gelten für die so beschriebene Gebietsherrschaft Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Bindung an das Recht. Was der Demokratie- und Rechtsstaatsgedanke verspricht, erhält – so der Jurist Christoph Möllers – in der Verfassung seine „praktisch-juristische Form“ (Möllers 2008, Rn. 96).

1.1 Staatsgewalt

Der Staat besitzt einen Gemeinwohlauftrag (aber kein Gemeinwohlmonopol) und ein weitreichendes Gewaltmonopol. Die Staatsorganisation besteht nicht um ihrer selbst, „sondern um des Volkes willen, und alles staatliche Handeln [hat] sich aus dessen Wohl zu rechtfertigen“ (Isensee 2015, Rn. 16) – so der eingangs schon zitierte Josef Isensee. Das Gemeinwohl als Verwirklichung der Freiheit bleibt angewiesen auf das Recht, der Rechtsstaat wiederum auf Souveränität, um sein Recht auch durchsetzen zu können. Die menschenrechtlich gewährleistete Freiheit „ist nicht die eines wilden Naturzustandes, sondern die der staatlich befriedeten und gehegten Ordnung des Rechts“ (ebd., Rn. 19). Ein Staat, der durch sein Gewaltmonopol die äußere und innere Sicherheit  seiner Bürger nicht zuverlässig garantieren kann, verliert auf Dauer deren Vertrauen. Positive Leistungsansprüche an den Staat müssen dessen Leistungsfähigkeit berücksichtigen; ein chronisch überfordertes Staatswesen wird weder seinen kultur- und sozialstaatlichen Funktionen nachkommen noch humanitäre Schutzansprüche erfüllen können.

1.2 Staatsvolk

Subjekt wie Objekt der Staatsgewalt ist das Staatsvolk. Dieses, bestimmt durch das Staatsangehörigkeitsrecht, trägt den Staat und ist zugleich der Staatsgewalt unterworfen. Das Staatsvolk ist mehr als ein zufälliger Verbund von Individuen, der allein persönlichen Beziehungen oder material definierten Sonderinteressen verpflichtet ist. Vielmehr geht es um eine Schicksals- und Solidargemeinschaft, die durch gemeinsame Identität zusammengehalten wird. Diese Gruppenidentität vermittelt sich durch miteinander geteilte Herkunft, Erinnerung und Geschichte, durch Kultur, Bräuche und Mythen, durch Symbole, Sprache und emotionale Verbundenheit.

Die Macht des Staates gründet auf seiner Anerkennung durch die Staatsbürger, ihrem Rechtsgehorsam und der Einsicht, sich der Eigenmacht zu enthalten. Diese Gehorsamspflicht der Bürger ist kein fester Besitzstand. Auf Dauer wird der Staat seine Macht und notwendigen Rechtsgehorsam nur gegen den Willen einer kleinen Zahl Abweichler behaupten können, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Bei Mehrheits- und Kompromissentscheidungen wird es stets Unterlegene geben, die ihre Position nicht durchsetzen konnten. Dies akzeptieren zu können, setzt einen gesellschaftlichen Konsens voraus, der ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten sichert, auf das die Glieder der politischen und rechtlichen Gemeinschaft vertrauen können – gleichgültig davon, ob sie bei einer konkreten Streitfrage zu den Unterlegenen oder Durchsetzungsstarken zählen.

Daher ist es für die Stabilität einer Demokratie keinesfalls belanglos, wie sich das Staatsvolk zusammensetzt: „Denn der Verfassungsstaat hegt die Erwartung einer gelebten Demokratie, die ohne die Fähigkeit des Staatsvolkes zur einheitlichen Willensbildung enttäuscht werden dürfte, daher ein gewisses Maß an Zusammengehörigkeit voraussetzt und nach einer beständigen Integration seiner Bürger in die staatlich verfasste Gemeinschaft verlangt, ohne dabei die Anforderungen einer freiheitlichen Gesellschaft zu übergehen“ (Seiler 2015, Rn. 2). Antrag auf Einbürgerung und Annahme derselben stehen und fallen im rechtlichen Sinne miteinander; daraus folgt eine Anpassungsverpflichtung des Einwanderers. Ferner sollte der Rechtsstaat durch robustes Auftreten verhindern, dass fremde kulturelle Konflikte ins Land geholt werden. So ist es zum Beispiel legitim, Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker oder die Verwendung fremder Hoheits- und Nationalsymbole zu beschränken.

1.3 Staatsterritorium

Humanitäre Schutzansprüche zu gewährleisten, setzt einen handlungsfähigen Staat voraus, der sich an Recht und Verfassung gebunden weiß. Die Handlungsfähigkeit eines Staates setzt voraus, dass dieser die Kontrolle über sein Territorium behält. Umgekehrt sind illegale Einwanderung, Schleuserkriminalität, das Vernichten von Pässen oder Versuche, sich rechtsstaatlichen Verfahren zu entziehen, alles andere als Bagatellen und müssen konsequent verfolgt werden. Mit dem Schengener Übereinkommen von 1985 und seinen Folgevereinbarungen wurde der Grenzschutz in Europa zunehmend an die Außengrenzen verlagert, allein deren Schutz ermöglichte eine weitreichende Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union. Dieses System ist durch das Anwachsen der Migration deutlich unter Druck geraten; zahlreiche Länder sind in der Folge wieder dazu übergegangen, die eigenen Grenzen zu kontrollieren.

 

2. Wie steht die zeitgenössische Sozialethik dem Staat gegenüber? – oder: Chronik einer schleichenden Abkehr vom Staat

Die Migrations- und Integrationskrise hat eine Leerstelle der zeitgenössischen Sozialethik offengelegt: Die Gesellschaft hat dem Staat in der sozialethischen Reflexion den Rang abgelaufen. Der Bezug auf die Nation, das Volk und dessen Identität oder den Nationalstaat erscheint nicht selten wie ein letztlich austauschbares, häufig kolonial vorbelastetes, mehrheitlich bereits überwunden geglaubtes Narrativ. Schon der Blick in andere Länder der Europäischen Union – nicht allein Osteuropas – zeigt, dass nationale Kategorien allerdings weiterhin die politische Realität und das politische Denken bestimmen. Viele deutschsprachige Sozialethiker stehen diesem Phänomen in der gegenwärtigen Integrationsdebatte eher hilflos gegenüber. Es wirkt so, als könnten der Bezug auf die Menschenrechte oder ein globales Gemeinwohl den Staatsbezug ersetzen. Zur Begründung wird nicht selten auf komplexe soziale Zugehörigkeiten in einer globalisierten Welt verwiesen, die in nationalstaatlichen Kategorien nicht mehr angemessen zu fassen seien.

Verkannt wird dabei die Doppelrolle des Staates, der sowohl Adressat als auch Garant der Menschenrechte ist (vgl. Kirchhof 2004). Auch die Forderung nach mehr suprastaatlicher Kooperation geht letztlich von der Fortexistenz souveräner Staaten aus, die zusammenarbeiten, gemeinsam nach Lösungen suchen und bereit sind, diese schließlich durchzusetzen. Die katholische Sozialverkündigung hat zu Recht daran festgehalten, so etwa Johannes Paul II. in seiner Ansprache vor den Vereinten Nationen zum fünfzigjährigen Bestehen der Weltorganisation am 5. Oktober 1995 oder in seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (Nr. 15), dass die staatliche Souveränität weiterhin ein wichtiger Garant für die Sicherung internationalen Rechts und die Freiheit zwischen den Nationen darstellt (vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden ³2006, Nr. 434 f.). Vielmehr bliebe das abstrakte Modell einer Weltinnenpolitik dem Recht gegenüber entweder durchsetzungsschwach und brüchig oder liefe Gefahr, totalitär zu werden. Denn eine Art „kosmopolitischer Leviathan“ würde sowohl jeden Wettbewerb zwischen den Staaten – auch um die beste politische Konfliktlösung – ersticken als auch jede Möglichkeit zum Asyl rauben.

Benedikt XVI. hat hingegen mit seiner Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ das bereits früher bei den Päpsten zu findende Modell einer politischen Weltautorität zur Steuerung der Globalisierung ins Spiel gebracht (vgl. Papst Benedikt XVI. 2009, Abs. 67; erneut aufgegriffen in seiner Umweltenzyklika durch Papst Franzskus 2018, Abs. 175), ohne allerdings angeben zu können, wie diese ihre Entscheidungen auch durchsetzen soll (möglicherweise wagt man nicht auszusprechen, dass man das Papsttum weiterhin in einer solchen Rolle sieht, auch wenn dessen Vermittlerrolle bereits vor hundert Jahren bei den Pariser Vorortverträgen ausgeschlagen wurde). Am Ende bliebe die Gefahr, dass doch nur ein Recht des Stärkeren gilt, ohne dass ein wirklicher Gewinn an rechtlicher und demokratischer Teilhabe erzielt würde.

Denn wer immer mehr Entscheidungen in suprastaatliche Institutionen auslagert, läuft Gefahr, technokratische Strukturen zu stärken und die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger zu schwächen. Politische Entscheidungen würden sich in eine Grauzone verlagern, in der zunehmend Regierungen und Expertenzirkel miteinander verhandelten – schon allein aufgrund einer fehlenden funktionsfähigen, nicht durch Sprachbarrieren beeinträchtigten weltgesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Das Sozialkompendium der katholischen Kirche formuliert es folgendermaßen: „Die politische Gemeinschaft findet in der Bezogenheit auf das Volk ihre eigentliche Dimension: […] Das Volk ist keine amorphe Menge, eine träge Masse, die manipuliert und instrumentalisiert werden kann, sondern eine Gesamtheit von Personen, von denen jede einzelne […] die Möglichkeit hat, sich über die öffentliche Sache eine eigene Meinung zu bilden, und die Freiheit, ihr eigenes politisches Empfinden zum Ausdruck zu bringen und es so zur Geltung zu bringen, wie es dem Gemeinwohl entspricht“ (Nr. 385). Bemerkenswert ist, dass in der antitotalitären Tradition kirchlicher Soziallehre der Bezug auf das Volk an dieser Stelle gerade nicht als Quelle eines problematischen Nationalismus erscheint, sondern als kritischer Topos gegen Versuche, die politische Debatte der Öffentlichkeit zu entziehen.

Wer ein stärkeres Gewicht staatsethischer und staatsphilosophischer Argumente in der Migrationsdebatte einfordert sowie Respekt vor der bestehenden Verfassungslage anmahnt, reduziert politische Ethik nicht zwangsläufig auf Staatsethik. Wer kritisiert, dass in der gegenwärtigen Migrationskrise versucht werde, ein neuartiges „Recht auf ein besseres Leben“ mit faktisch unbeschränkter Niederlassungsfreiheit zu kreieren, reduziert damit noch lange nicht die Menschen- auf Bürgerrechte – zumal ein solches Recht kaum justiziabel wäre. Wer vor einem Moralismus in der gegenwärtigen Migrationsdebatte warnt, reduziert Ethik nicht einfach auf „Realpolitik“. Ressourcenfragen sind ethisch keinesfalls neutral. Und so kann auch die Sorge um den Erhalt staatlicher Handlungs- und Leistungsfähigkeit als Ausdruck der Humanität betrachtet werden.

Innerhalb der Politikethik vollzieht sich schon länger ein Wandel im Verständnis des Staates, der an dieser Stelle nur an drei Schlaglichtern verdeutlicht werden kann.

  • Albrecht Langner ging es in seiner Abhandlung mit dem Titel „Menschenrechte – Staat – Gesellschaft“ vorrangig darum, im Rahmen der Ost-West-Konfrontation seiner Zeit den Personalismus christlicher Staats- und Gesellschaftsauffassung von einer marxistischen Gesellschaftstheorie abzugrenzen. In klassischer Tradition arbeitet Langner die Rechts-, Wohlfahrts- und Kulturfunktion des Staates heraus. Gleichwohl geht er davon aus, dass der moderne Staat sich vor allem als „Dienstleistungs- und Daseinsvorsorgestaat“ (Langner 1975, 16) zeige, bei dem weniger die staatliche Rechtsfunktion als die Aufgabe aktiver Gesellschaftspolitik im Vordergrund stehe.
  • Einen Schritt weiter geht Bernhard Sutor in seiner „Politischen Ethik“, deren Erscheinen mittlerweile auch schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Der Eichstätter Politikdidaktiker und Sozialethiker spricht von einer „zunehmenden Relativierung der nationalstaatlichen Ebene“: Der „Nationalstaat herkömmlicher Form“ habe sich „funktional überholt“, und es sei zu begrüßen, dass „emotionale Bindungen der Menschen an Nation und Vaterland unpolitischer werden“. Heimat, Muttersprache und Vaterland schreibt Sutor nur noch den Wert „unpolitische[r] Selbstverständlichkeiten“ zu, wobei offen bleibt, wie deren Bestand weiter gepflegt und erhalten werden soll. Politische Entscheidungen sollten sich hingegen zunehmend an „allgemeingültigen Prinzipien“ (alle Zitate im Absatz: Sutor 1991, 140 [„Nationalstaat“ und „funktional überholt“ im Original kursiv hervorgehoben]) und an den Menschenrechten orientieren.
  • Walter Lesch setzt in seinem aktuellen Entwurf einer Migrationsethik dann die Gesellschaft konsequent vor den Staat: „Die politisch-ethische Sondierung beginnt mit der Verständigung über das Gesellschaftsmodell, das […] vor allem die Frage in den Raum stellt, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten […]: in einer homogenen Gesellschaft von Gleichgesinnten oder in einer sich dynamisch entwickelnden Umgebung, die kulturell offen ist“ (Lesch 2016, 137 f.). Zivilgesellschaftliches Engagement ersetzt Politik und Verwaltung, die zunehmend an ihre Grenzen stoßen. Der Nationalstaat ist für Lesch nur noch als Funktion einer Weltinnenpolitik zu denken, die sich durch weiche Steuerungsinstrumente transnationaler Strukturen realisiert. Am Ende stehen die Bilder einer „Weltrepublik“, welche das vorhandene Völkerrecht fortführt, und einer demokratischen Weltgesellschaft, in der sich die Bürger „als Freie und Gleiche begegnen können“. Zu den Regeln der skizzierten Weltinnenpolitik gehört, dass das „an nationale Herkunft gebundene Staatsbürgerrecht weltbürgerlich transformiert wird“ und der Einzelne nicht mehr „Gefangener eines Territoriums, eines Staates, einer Ethnie oder einer Religion“ (ebd., 160 f.) sein soll. Etwas prosaischer hat die deutsche Bundeskanzlerin diesen Gedanken am 25. Februar 2017 in einer Rede in Stralsund auf folgende Formel verkürzt: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“

Offen bleibt bei Lesch, wie ein in beständiger Auflösung begriffener Nationalstaat überhaupt noch integrations- und handlungsfähig sein kann. Denn die Wahrnehmung globaler Verantwortung und die Integration von Fremden „auf allen Ebenen des Politischen“ werden bei aller kosmopolitischen Rhetorik dann doch weiterhin vom Staat erwartet.

 

3. Noch einmal: Wie steht die zeitgenössische Sozialethik dem Staat gegenüber? – hier: die Gegenprobe

Eine ausgewogene sozialethische Urteilsbildung sollte auch die Gegenprobe vornehmen und fragen, welche Nebenkosten eine schleichende Abwendung vom Nationalstaat nach sich ziehen könnte. Die Münsteraner Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins fordert für die Politik einen „Kompass“ ein, „der mit einem ‚Überschuss‘ ethischer Orientierung über das aktuell Machbare und Konsensfähige hinausweist und eine Zielsetzung für die Politik annimmt, die im Namen der Humanität ein Moment des Utopischen einklagt“ (Heimbach-Steins 2018, 234).

Äußerst kritisch gegenüber einer solchen Form politischer Utopie zeigt sich hingegen der Wiener Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger und weist daraufhin dass der gesinnungsethisch ausgerichtete Mainstream kirchlicher Sozialethik letztlich auf eine Politik hinauslaufe, in der Grenzen grundsätzlich delegitimiert würden, damit aber auch die Ordnungsfunktion des Staates: „Im normativen Individualismus sind die Rechte und das Wohlergehen einzelner Personen der letzte Referenzpunkt ethischer Urteile. Belange von Völkern oder Staaten sind demgegenüber nachrangig oder nicht beachtenswert“ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 330 f.).  In der Folge werde durch eine solche Argumentation auch das Handeln solcher staatlichen Institutionen infrage gestellt, die gerade dem Schutz der Person und ihrer Rechte dienen sollten – und dann auch humanitäres Handeln ermöglichten.

2015 wandte sich eine Reihe höherer Ordensoberer und Ordensoberinnen an den bayerischen Ministerpräsidenten, Horst Seehofer, und sprach sich „für ein menschenfreundliches Engagement für Geflüchtete“ aus. Der Brief dokumentiert eine deutliche Polarisierung der migrationsethischen Debatte. Mit der Formulierung „mit brennender Sorge“ – in Anspielung auf die Enzyklika Pius XI. von 1937 – scheuten seine Verfasser keineswegs davor zurück, demokratische Politiker in eine Nähe zum Nationalsozialismus zu rücken. Am Ende des Offenen Briefes heißt es: „Abschottungen, Grenzen und Begrenzungen sind für uns keine Lösung. Kreativität, guter Wille und eine Mentalität, die dem Teilen mehr zutraut als der Sorge um das eigene Wohlergehen, sind für uns zukunftsweisende Wege, für die wir uns einsetzen“ (Deutsche Ordensobernkonferenz 2015).

Der Brief kann als sprechendes Beispiel für vorstehend benannten normativen Individualismus gelesen werden: Individuelle Haltungen sollen zum Maßstab für politisches Handeln werden. Interessen des eigenen Volkes werden negiert. Moralpredigt ersetzt die sozialethische Reflexion. Eine Sozialethik, die so argumentiert, könnte im grundlegenden Sinne als „unpolitisch“ charakterisiert werden: als eine Sozialethik, die nichts mehr zu sagen weiß über Staat und Staatsräson, Nation und Identität oder Grenzsicherung und staatliche Souveränität. Nebenbei gesagt: Diese Entwicklung gefährdet nicht allein ein kooperatives Staat-Kirche-Verhältnis, sondern wird auf Dauer auch zu einem deutlichen Relevanzverlust christlicher Sozialethik und Sozialverkündigung führen, weil zentrale Themen der staatsethischen Debatte ausgeblendet bleiben.

Die  staatspolitischen Grundlagen eines Gemeinwesens sind kein fester Besitzstand; sie müssen immer wieder politisch gesichert und verteidigt werden. Wo dies nicht mehr gesehen wird, kann aus der kirchlichen Sozialverkündigung ein unernst wirkender Gestus prophetischer Kritik werden, der ohne vernunftgeleitete Übersetzung am Ende seine politische Wirksamkeit einbüßen muss – noch einmal Schwienhorst-Schönberger: „[I]n einer Reihe kirchlicher und theologischer Stellungnahmen […] wurden klassische Prinzipien wie die Anwendung der Vorzugsregeln, die Unterscheidung von sittlich gutem Willen und sittlich richtiger Tat, die Abwägung nicht-sittlicher Güter im Rahmen teleologischer Normenbegründungen sowie die differenzierte Wahrnehmung und Erörterung eines vielstimmigen biblischen Zeugnisses nicht oder nur kaum thematisiert“ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 336; vgl. ausführlich 336 – 339).

Das Evangelium stemmt sich mit der bekannten, schon zitierten matthäischen Formel politischen Heilslehren entgegen, die sich selbst absolut setzen. Aber es „liefert“ umgekehrt auch kein umfassendes göttliches Gesetz. Niemand sollte in der Kirche vorschnell behaupten, er wüsste schon im Voraus ganz genau, was politisch praktizierte Christlichkeit zu sein habe. Vielmehr eröffnet das Evangelium den Raum für eine Politik aus christlicher Verantwortung, die im politischen Diskurs Kontur gewinnt und eine Verschiedenartigkeit säkularer Gesetze zulässt.

 

4. Welche Kosten sind mit der gegenwärtigen Politik verbunden?

Der Verlust staatlichen Denkens in der sozialethischen Debatte bleibt nicht folgenlos. Daniel Deckers hat den Verlust an Identität in einem Leitartikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2017 so auf den Punkt gebracht: In kirchlichen Stellungnahmen „werden das Gefühl des Heimatverlustes und die politisch-sozialen wie kulturell-religiösen Konfliktpotentiale einer Einwanderungsgesellschaft kleingeredet, wenn sie nicht gar geleugnet werden“ (Deckers 2017, 1).

Gesellschaft, Kultur oder Identität seien nichts Statisches – dieser Allgemeinplatz wird sozialethisch schnell als Einwand ins Feld geführt. Doch wer als Angeklagter vor Gericht steht, was niemandem zu wünschen ist, wird darauf vertrauen wollen, dass das „Volk“, in dessen Namen Recht gesprochen wird, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern er sich auf tragfähige kulturelle Werte verlassen kann. Sollte jemand als Beamter darauf vertrauen, dass er auch im Ruhestand auskömmlich leben kann, wird er sich sicher wünschen, dass dieses „Volk“, das seinen Beamten gegenüber Loyalität zugesichert hat, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern eine berechenbare Größe bleibt, die sich später auch an einmal gegebene Pensionszusagen erinnert. Weitere Beispiele ließen sich finden.

Identität unter Generalverdacht zu stellen, ist sozialpsychologisch unrealistisch und unfreiheitlich. Feste Identitäten gefährden das Zusammenleben weniger als ein Zustand erzwungener Gleichheit oder Vereindeutigung. Eine Gesellschaft, die Toleranz nur mehr über die Kontrolle von Gesinnungen, denen bestehende Ungleichheit oder kulturelle Differenzierungen zu Bewusstsein kommen könnten, aufrecht zu erhalten versucht, wäre repressiv und alles andere als lebenswert.

Die „Spielregeln“ im gesellschaftlichen Zusammenleben, auf die wir uns verlassen dürfen, müssen klar sein. Jedes Gemeinwesen, das stabil bleiben will, braucht einen gesellschaftlichen Mindestkonsens. Wichtig sind zunächst einmal zentrale Grundregeln einer formalen Sittlichkeit. Zu diesen müssen wir uns als Gemeinwesen verbindlich bekennen, diese müssen wir deutlich einfordern und diese muss der Staat auch bereit sein durchzusetzen – sonst verliert er als Rechtsstaat an Vertrauen: beispielsweise eine gewaltfreie Streit- und Debattenkultur, ein robustes Maß an Ambiguitätstoleranz, den Willen zu Verständigung und Toleranz, Fairness und gegenseitigen Respekt, Achtung vor der Verfassung und den unveräußerlichen Rechten anderer.

Doch genügt ein Gerüst formaler Verfahrensregeln keineswegs. Die Regeln unseres Verfassungsstaates müssen unterfüttert werden durch ein Fundament konkret gelebter Orientierungswerte. Diese bestimmen das sozialethische Verhalten der Bürger im Alltag und sind Ausdruck gemeinsamer Identität. Man kann von einem Vorrat an kulturellen Selbstverständlichkeiten sprechen, der uns im Alltag den Rücken freihält. An dieser Stelle ist es durchaus berechtigt, von „Leitkultur“ zu sprechen, womit noch nichts darüber ausgesagt ist, wie diese abgesteckt werden kann. Dass eine solche „Leitkultur“ nicht statisch sein kann, ist eine triviale Erkenntnis. Und selbstverständlich sollte eine Leitkultur so offen formuliert werden, dass sie dem heutigen Freiheitsempfinden gerecht wird: weder ausgrenzend oder abschließend noch beliebig oder austauschbar. Es geht um eine gesprächsfähige Positionalität, die gleichzeitig bereit ist, für die eigenen Werte deutlich einzustehen.

Ein Gemeinwesen  hingegen, in dem man sich nicht mehr aufeinander verlassen kann, muss kontrollieren, regulieren und steuern. Staatlicherseits geschieht dies beispielsweise durch zunehmende Kontrolle im Inland, eine verstärkte Überwachung der Privatsphäre oder Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit. Was wir brauchen, ist ein intelligent geführter Kampf gegen Ausgrenzung. Dieser wird verhindert, wenn Begrenzungen grundsätzlich unter Generalverdacht gestellt werden. Notwendig sind Kategorien und normative Kriterien, mit denen Unterscheidungen möglich bleiben: Was sind ungerechte Ausschließungen? Was sind erhaltenswerte Formen der Differenzierung? Was sind repressive Praktiken? Was sind lebensdienliche Ausdrucksformen persönlicher oder sozialer Identitätsbildung? Die Ausbildung einer Identität, die ihn von anderen unterscheidet, ist für den Menschen lebensnotwendig. Andernfalls könnte es auch keine Individualität geben. Ordnungen, die darauf zielten, alle Menschen gleich zu machen, waren in der Geschichte immer Ordnungen der Unfreiheit.

Sozialethisch bleibt es wichtig, dass wir uns über die Spielregeln für den (mitunter harten) politischen Streit verständigen, diesen zivil halten und fragen, welche formalen Regeln dabei unabdingbar gelten sollten – dies verbietet populistische Vereinfachungen, gleich ob vom rechten oder linken Rand oder auch aus der Mitte der Gesellschaft. Zu diesen Strategien, die auf Dauer den öffentlichen Diskurs beschädigen, zählt auch, im politischen und wissenschaftlichen Streit abweichenden Positionen nicht mit Argumenten zu begegnen, sondern den politischen Gegner zu etikettieren und so seine Position als argumentationsunwürdig zu brandmarken.

Dem Verfassungsrecht eignet grundsätzlich ein konservatives Moment. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat kann eine bestimmte „Leitkultur“ seiner Bürger nicht hoheitlich herstellen, aber er darf einen entsprechenden, politisch belastbaren Gedächtnisraum fördern. Der Kreuzerlass im Freistaat Bayern, der vor einem Jahr für Konfliktstoff sorgte, ist durchaus legitim (vgl. Kunze 2018). Recht und staatliche Ordnung leben von affektiven Bindungen an ihre kulturellen Prägungen. Und eine stabile Rechts- und Staatsordnung lebt davon, dass die Herkunft der ihnen zugrundeliegenden Werte und Prinzipien aus der spezifischen, einheimischen Tradition nicht geleugnet wird. Wer eine andere Staatsangehörigkeit anstrebt, von dem muss mehr als ein formales Bekenntnis zur Verfassung verlangt werden. Andernfalls steht zu befürchten, dass man den zweiten Pass gern mitnimmt, sich im Letzten aber nicht mit dem neuen Heimatland identifiziert. Loyalitätskonflikte und kulturelle Auseinandersetzungen sind damit vorprogrammiert.

Und wie sieht es mit dem Zusammenhalt in Europa aus? Mangelnde Solidarität innerhalb der Europäischen Union ist nicht erst seit 2015 mit dem Anschwellen der Flüchtlingsbewegungen zu verzeichnen; das Phänomen zeigte sich schon einige Jahre zuvor, als die ersten Anzeichen einer kommenden Migrationskrise weitgehend ignoriert wurden. Die Europäische Union ist ein Bund von Staaten mit eigenen Interessen, wie sich in der Migrationskrise deutlich gezeigt hat – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein solcher Zusammenschluss kann hilfreich sein, den Herausforderungen einer globaler gewordenen Welt zu begegnen und internationale Aufgaben besser zu bewältigen. Für die demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung eignen sich suprastaatliche Zusammenschlüsse aber nur begrenzt, schon allein wegen sprachlicher Barrieren und fehlender identitätsstiftender Elemente.

Es gibt einen kulturellen Zusammenhang in Europa, bei allen Unterschieden zwischen Süd- und Nordeuropäern, Ost- und Westeuropa. Der kulturelle Zusammenhang wird aber nicht den identitätsstiftenden Gehalt der einzelnen Nationalstaaten ersetzen können. Europas Stärke war stets seine kulturelle Vielfalt. Diese hat Papst Franziskus in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament noch einmal betont, auch wenn auffällt, dass er hier allein von der Verschiedenheit der Völker, nicht aber der Staaten innerhalb der Europäischen Union spricht: „Das Motto der Europäischen Union ist Einheit in der Verschiedenheit, doch Einheit bedeutet nicht politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gedankliche Uniformität. In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann“ (vgl. Papst Franziskus 2014 [Hervorhebung im Original]). Es steht zu befürchten, dass Europa gerade diese Stärke verspielt, wenn die Vielfalt durch einen suprastaatlichen Zentralismus ersetzt wird.

Das sozialethische Prinzip der Subsidiarität ist in Europa zwar vertragsrechtlich verankert, etwa in Art. 5 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), bleibt in der politischen Realität aber deutlich unterbelichtet. Anstatt eine substantielle materielle Subsidiaritätskontrolle vorzunehmen, wird die der Europäischen Kommission obliegende Begründungspflicht vielfach als lästige Formsache abgehandelt. Als tiefere Ursache lassen sich – neben einer Überforderung durch die Dynamik europäischer Entscheidungsprozesse – grundlegende Konstruktionsfehler im Zusammenspiel der verschiedenen Organe der Europäischen Union ausmachen (vgl. Calliess 2012): Die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips ist vorrangig Unionsorganen anvertraut, die sich der Unionsseite verpflichtet fühlen und einem Dilemma doppelter Erwartungen gegenübersehen: Einerseits sollen sie die Unionsziele verwirklichen, andererseits sich selbst zurücknehmen. Und auch der Europäische Gerichtshof hat sich demgegenüber häufig eher als treibende Kraft im Prozess der Integration und weniger als Kontrollinstanz verstanden.

 

5. Warum bleibt die Rechtsfunktion des Staates wichtig?

Das Volk als Souverän gibt sich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt eine Verfassung. Wer diesen nationalen Bezug verkennt, läuft Gefahr, die rechtliche Ordnung aufzulösen. Die Freiheitsbewegung des neunzehnten Jahrhunderts wusste, wie das „Lied der Deutschen“ zeigt, um den Zusammenhang von Einigkeit und Recht und Freiheit. Die von der Verfassung verbürgten Rechte und Grundfreiheiten können nur in einer auf gemeinsame Orientierungswerte gegründeten Rechtsgemeinschaft konkret werden. Zum einen ermöglicht die Verschiedenheit der Staatenwelt – trotz zwischenstaatlicher Konflikte – die Entfaltung von Zugehörigkeit und kultureller Eigenart und garantiert dadurch Individualität und Freiheit. Zum anderen bleiben die Menschenrechte auch als vorstaatliches Recht auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen, der sie wirksam schützt.

Im freiheitlichen Rechtsstaat werden die Maximen von Recht und Ordnung nicht starr angewandt, sondern im Licht der Menschenwürde als dem Fundament der gesamten Rechtsordnung. In der Praxis zeigt sich dies beispielsweise darin, dass sich das angewandte Recht an Angemessenheitsnormen orientiert und die zu seiner Durchsetzung eingesetzten Mittel sich am Maßstab der Verhältnismäßigkeit messen lassen müssen. Allerdings dürfen sich auch humanitäre Maximen im Rechtsstaat nicht einfach über Recht und Gesetz hinwegsetzen – so der Soziologe Dieter Prokop in der Frankfurter Allgemeinen vom 24. Juli 2017: „Das Problem hierbei ist, dass das menschliche Gefühl seine eigene Dynamik hat: Gefühlte Angemessenheitsnormen sind weit auslegbar“ (Prokop 2017, 6). Hierfür gibt eine „Willkommenskultur“, die dem vereinfachenden Slogan „Refugees welcome“ folgt, reichlich Anschauungsmaterial ab.

Ein moralischer Impetus, der sich über Recht und Gesetz hinwegsetzt, verhindert notwendige Differenzierungen in der Anwendung bestehenden Rechts, beispielsweise die Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten, die unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, Kriegsflüchtlingen, für die gesetzlich bestimmte temporäre Aufenthaltsgenehmigungen gelten, Personen, die ohne Kriegs- oder Verfolgungsgrund unter die übliche Ausländer- und Einreisegesetzgebung fallen, oder sogar kriminellen Grenzverletzern. Wo aber nach dem Gesetz notwendige Differenzierungen nicht mehr vorgenommen werden, nehmen am Ende die Gleichheit vor dem Gesetz und die faire Anwendung bestehenden Rechts Schaden – und zwar gerade deshalb, weil am Ende Ungleiches pauschal gleichgesetzt und der gerechten Beurteilung entzogen wird.

Zu den Pflichten der Vernunft gehört es, dass Gesellschaftsverträge, die Rechtssicherheit garantieren sollen, eingehalten werden. Ein Staat, der das Zutrauen in seine eigene Rechtssicherheit und Rechtsverbindlichkeit untergräbt, wird auf Dauer auch kein verlässlicher Adressat der Menschenrechte mehr sein können. Die Europäische Union, die ihre eigenen Verträge nicht mehr einhält oder zumindest äußerst fahrlässig damit umgeht, leidet bereits unter einem Ansehensverlust. Politisches Vertrauen ist schnell verspielt, aber nur mühsam wieder aufzubauen.

Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit im gemeinsamen Zusammenleben lassen sich auf Dauer nicht durch ein moralisches Maximum garantieren, das die Menschenrechte als beständig auszuweitendes Instrument einer permanenten Gesellschaftsreform gegen den Staat und seine Freiheit wie Recht sichernden Institutionen in Frontstellung bringt. Die Sicherung des Gemeinwohls bleibt angewiesen auf den vernunftgemäßen Interessenausgleich auf Basis von Recht und Gesetz. Die Menschenrechte qualifizieren als überpositives Recht die Ausübung der staatlichen Rechtsfunktion und bedürfen dieser zugleich um ihrer eigenen Wirksamkeit willen. Die Menschenrechte gehören der Moral und dem Recht an. Der gegenwärtige sozialethische Diskurs neigt allerdings dazu, die moralische Seite der Menschenrechte stärker zu betonen als deren juridischen Charakter. Nebenbei – eine Bemerkung, die einem Pädagogen besonders am Herzen liegt: Wenn wir unser Gemeinwesen konstitutiv als sozialen Rechtsstaat begreifen, sollten wir pädagogisch auch mehr in eine solide Rechtskunde investieren.

 

6. Ausblick

Marianne Heimbach-Steins plädiert in ihrem Entwurf einer Migrationsethik für drei Vorrangregeln (Heimbach-Steins 2017, 13 – 15): (1.) Gleiche Würde aller Menschen und menschenrechtliche Anerkennung genießen Vorrang vor allen Differenzen. (2.) Die Person hat Vorrang vor jeder gesellschaftlichen Institution. (3.) Das Gemeinwohl hat Vorrang vor partikularen Interessen. –

Eine Gewichtsverlagerung gegenüber der überkommenen Rechtsethik fällt auf: Die ethische Tradition geht bei der Güterabwägung von einem Vorrang des Personwohls aus. Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen um des Gemeinwohls willen bleiben in hohem Maße begründungspflichtig (so darf etwa in das Recht auf Privateigentum nur in eng umgrenzten Fällen bei Entschädigung des Eigentümers eingegriffen werden). Die drei migrationsethischen Vorrangregeln behaupten zwar einen starken Vorrang der Person vor jeder gesellschaftlichen Institution, postulieren gleichzeitig aber auch einen Vorrang des Gemeinwohls und ein Zurücktreten kultureller Unterscheidungsmerkmale – ein Widerspruch?

Freiheit im gemeinsamen Zusammenleben lebt nicht vom Entweder-oder, sondern von polaren Grundspannungen, die im freiheitlichen Gemeinwesen nicht in die eine oder andere Richtung aufgelöst werden dürfen. Vielmehr bedarf es eines vermittelnden Bindegliedes: Die staatliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit bleibt als jener Ort wichtig, wo die notwendige Vermittlung zwischen individual- und gemeinwohlbezogenen Interessen geschieht. Suprastaatliche Verbünde können dies nicht leisten, woran nicht zuletzt auch das Subsidiaritätsprinzip gemahnt. Eine im Kern letztlich „unpolitische“ Sozialethik, für die Staat und Nation kaum noch eine Rolle spielen, sollte bedenken, was an dieser Stelle auf dem Spiel steht. Denn geht die Rechtsfunktion des Staates dahin, könnte der Verlust an Humanität gravierend sein – gerade auch für den Einzelnen.

 

Literatur

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Anmerkungen

[1] Wissenschaftlicher Abend der Leipziger Burschenschaft Alemannia zu Bamberg am 19. Juni 2019

[2] Wie politisch zerrissen die Christliche Sozialethik gegenwärtig ist, hat in diesem Jahr der Streit um eine Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik, der Vereinigung der Lehrstuhlinhaber der Disziplin im deutschsprachigen Raum, offengelegt (vgl. Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik 2019). In einer „Erklärung“ distanzierte sich die Fachgesellschaft von der traditionsreichen Zeitschrift „Die Neue Ordnung“. Die Stellungnahme fiel zeitgleich mit einer Resolution des Deutschen Hochschulverbandes unter dem Titel „Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten“ zusammen; mit dieser spricht sich die wichtigste berufsständische Vertretung von Wissenschaftlern in Deutschland gegen „Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt“ als Mittel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aus (Deutscher Hochschulverband 2019). In einem Offenen Brief formulierten mehr als sechzig Autoren und Freunde der „Neuen Ordnung“ in der Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ deutliche Kritik am Boykottaufruf der deutschsprachigen Sozialethiker und werten diesen als illegitimen Versuch, die Publikations- und Meinungsfreiheit einzuschränken (Roos/Raabe 2019). Der Offene Brief enthält – unabhängig vom aktuellen Streitfall – wesentliche und sehr lesenswerte Aussagen zur Meinungsfreiheit innerhalb der Gesellschaft und der Kirche sowie deren Grenzen.