Ist mit der politischen Ethik noch ein Staat zu machen? [1]
Wie weit bei der Beurteilung der Flüchtlingsfrage innerhalb der Sozialethik die Positionen auseinander gehen, zeigte sich exemplarisch im Herbst 2016 bei der 34. gemeinsamen Medientagung des Cartellverbandes und der Hanns-Seidel-Stiftung im Kloster Banz (vgl. Fuchs u. a. 2017): Der Staatsrechtslehrer Josef Isensee, Verfasser des Grundsatzartikels zum Stichwort Staat im „Handbuch der Katholischen Soziallehre“ (Berlin 2008), nannte dort die weitreichende, einseitige Grenzöffnung Deutschlands im Sommer 2015 einen „humanistischen Staatsstreich“; in einem „Rausch der Moral“ habe man auf jede rechtliche und gesetzliche Grundlage verzichtet. Die deutsche Entscheidung, auf ein wirksames Grenzregime zu verzichten, basiert bis heute lediglich auf einer Anordnung des Bundesinnenministeriums. Gänzlich anders argumentierte hingegen auf derselben Tagung der Bamberger Erzbischof, Ludwig Schick: Die weitreichende Flüchtlingsaufnahme sei ein „Gebot christlicher Nächstenliebe“ gewesen. Die deutsche Bundeskanzlerin habe seiner Ansicht nach im Sommer und Herbst 2015 gar nicht anders handeln können. [2]
Die Kontroverse lässt eine Konfliktlinie innerhalb der gegenwärtigen politischen Ethik deutlich werden: Inwiefern besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Nächstenliebe und Staatsethik?
Staatsethik – so formulierte Joseph Höffner in seiner noch umfassend angelegten christlichen Gesellschaftslehre – stellt „die Fragen nach dem Ursprung und den Aufgaben des Staates, nach der Staatsgewalt und den Staatsformen sowie nach dem besonderen Verhältnis des Christen und der Kirche zum Staat“ (Höffner 1997, 255; ursprünglich: 11962 bis 81983). Gegenüber den Forderungen der Bergpredigt betont der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz die grundlegende Rechts- und Ordnungsfunktion, welche die sittliche Idee des Staates ausmacht: „Die Aufforderung Jesu zur Versöhnung und zum Verzicht auf Rache bedeutet jedoch nicht, daß Recht und Ordnung aufgehoben wären. Der einzelne Mensch und auch der Staat können auf dieses oder jenes Recht verzichten, dürfen aber niemals das Recht selbst, die Wahrheit selbst dem Unrecht und der Lüge ausliefern. […] Die staatliche Gewalt, die das Zusammenleben der Menschen durch die Rechtsordnung sicherstellt, ist ‚von Gott eingesetzt … Nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut‘ (Röm 13, 1. 4)“ (ebd., 283 f. [Hervorhebung im Original]).
In der zeitgenössischen Sozialethik gehört der evangelische Theologe Richard Schröder zu jenen, die ähnlich argumentieren: „Einzelne können barmherzig sein, auch Institutionen, die sich der Barmherzigkeit verschrieben haben. Der Staat aber darf nicht barmherzig sein, weil er gerecht sein muss. Er muss nach Regeln verfahren und die Folgen bedenken“ (Schröder 2016). Dies schließt harte Entscheidungen unweigerlich ein. Selbst Härtefallkommissionen im Bleiberecht sind an Regeln mit definierten Ermessensspielräumen gebunden.
Werden hingegen tugendethische Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder auch Gastfreundschaft als normethische Kategorien verwendet, führe dies leicht zu einer Moralisierung, gesinnungsethischen Einseitigkeit oder Entrüstungsrhetorik im politischen Diskurs, wie vor allem Ulrich H. J. Körtner immer wieder, etwa in seinem Band „Für die Vernunft“ (Leipzig 2017), kritisiert hat. Ohne politische Vernunft und Differenzierungsfähigkeit leide, so der Wiener Sozialethiker, die politische Kompromissfähigkeit. Dass staatsethischen Fragen innerhalb der zeitgenössischen Sozialethik oftmals eine so geringe Rolle zugebilligt wird, verwundert vor dem Hintergrund einer traditionsreichen und profilierten christlichen Staatslehre, gleich ob diese mit der protestantischen Zweireichelehre oder dem katholischen Naturrecht begründet wird (vgl. auch Kunze 2017). Im Folgenden soll zunächst gefragt werden:
1. Was kennzeichnet ein stabiles Gemeinwesen?
Das Christentum rechtfertigt den Staat als notwendigen organisierenden Faktor des sozialen Lebens und relativiert diesen zugleich. Der Christ gibt dem Staat, was des Staates ist, und Gott, was Gottes ist (vgl. Mt 22, 21). Die Verpflichtung des Christen zum staatsbürgerlichen Gehorsam ist eine Gewissenspflicht, insofern der Staat letztlich in Gott, dem Schöpfer, gründet. Der Mensch ist auf das politische Leben hin angelegt. Die staatliche Gewalt rechtfertigt sich funktional, indem sie die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens erhält und gestaltet. Dies bleibt eine beständige Aufgabe.
Vom Staat zu sprechen, setzt nach herrschender Auffassung ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt voraus. Im freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat gelten für die so beschriebene Gebietsherrschaft Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Bindung an das Recht. Was der Demokratie- und Rechtsstaatsgedanke verspricht, erhält – so der Jurist Christoph Möllers – in der Verfassung seine „praktisch-juristische Form“ (Möllers 2008, Rn. 96).
1.1 Staatsgewalt
Der Staat besitzt einen Gemeinwohlauftrag (aber kein Gemeinwohlmonopol) und ein weitreichendes Gewaltmonopol. Die Staatsorganisation besteht nicht um ihrer selbst, „sondern um des Volkes willen, und alles staatliche Handeln [hat] sich aus dessen Wohl zu rechtfertigen“ (Isensee 2015, Rn. 16) – so der eingangs schon zitierte Josef Isensee. Das Gemeinwohl als Verwirklichung der Freiheit bleibt angewiesen auf das Recht, der Rechtsstaat wiederum auf Souveränität, um sein Recht auch durchsetzen zu können. Die menschenrechtlich gewährleistete Freiheit „ist nicht die eines wilden Naturzustandes, sondern die der staatlich befriedeten und gehegten Ordnung des Rechts“ (ebd., Rn. 19). Ein Staat, der durch sein Gewaltmonopol die äußere und innere Sicherheit seiner Bürger nicht zuverlässig garantieren kann, verliert auf Dauer deren Vertrauen. Positive Leistungsansprüche an den Staat müssen dessen Leistungsfähigkeit berücksichtigen; ein chronisch überfordertes Staatswesen wird weder seinen kultur- und sozialstaatlichen Funktionen nachkommen noch humanitäre Schutzansprüche erfüllen können.
1.2 Staatsvolk
Subjekt wie Objekt der Staatsgewalt ist das Staatsvolk. Dieses, bestimmt durch das Staatsangehörigkeitsrecht, trägt den Staat und ist zugleich der Staatsgewalt unterworfen. Das Staatsvolk ist mehr als ein zufälliger Verbund von Individuen, der allein persönlichen Beziehungen oder material definierten Sonderinteressen verpflichtet ist. Vielmehr geht es um eine Schicksals- und Solidargemeinschaft, die durch gemeinsame Identität zusammengehalten wird. Diese Gruppenidentität vermittelt sich durch miteinander geteilte Herkunft, Erinnerung und Geschichte, durch Kultur, Bräuche und Mythen, durch Symbole, Sprache und emotionale Verbundenheit.
Die Macht des Staates gründet auf seiner Anerkennung durch die Staatsbürger, ihrem Rechtsgehorsam und der Einsicht, sich der Eigenmacht zu enthalten. Diese Gehorsamspflicht der Bürger ist kein fester Besitzstand. Auf Dauer wird der Staat seine Macht und notwendigen Rechtsgehorsam nur gegen den Willen einer kleinen Zahl Abweichler behaupten können, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Bei Mehrheits- und Kompromissentscheidungen wird es stets Unterlegene geben, die ihre Position nicht durchsetzen konnten. Dies akzeptieren zu können, setzt einen gesellschaftlichen Konsens voraus, der ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten sichert, auf das die Glieder der politischen und rechtlichen Gemeinschaft vertrauen können – gleichgültig davon, ob sie bei einer konkreten Streitfrage zu den Unterlegenen oder Durchsetzungsstarken zählen.
Daher ist es für die Stabilität einer Demokratie keinesfalls belanglos, wie sich das Staatsvolk zusammensetzt: „Denn der Verfassungsstaat hegt die Erwartung einer gelebten Demokratie, die ohne die Fähigkeit des Staatsvolkes zur einheitlichen Willensbildung enttäuscht werden dürfte, daher ein gewisses Maß an Zusammengehörigkeit voraussetzt und nach einer beständigen Integration seiner Bürger in die staatlich verfasste Gemeinschaft verlangt, ohne dabei die Anforderungen einer freiheitlichen Gesellschaft zu übergehen“ (Seiler 2015, Rn. 2). Antrag auf Einbürgerung und Annahme derselben stehen und fallen im rechtlichen Sinne miteinander; daraus folgt eine Anpassungsverpflichtung des Einwanderers. Ferner sollte der Rechtsstaat durch robustes Auftreten verhindern, dass fremde kulturelle Konflikte ins Land geholt werden. So ist es zum Beispiel legitim, Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker oder die Verwendung fremder Hoheits- und Nationalsymbole zu beschränken.
1.3 Staatsterritorium
Humanitäre Schutzansprüche zu gewährleisten, setzt einen handlungsfähigen Staat voraus, der sich an Recht und Verfassung gebunden weiß. Die Handlungsfähigkeit eines Staates setzt voraus, dass dieser die Kontrolle über sein Territorium behält. Umgekehrt sind illegale Einwanderung, Schleuserkriminalität, das Vernichten von Pässen oder Versuche, sich rechtsstaatlichen Verfahren zu entziehen, alles andere als Bagatellen und müssen konsequent verfolgt werden. Mit dem Schengener Übereinkommen von 1985 und seinen Folgevereinbarungen wurde der Grenzschutz in Europa zunehmend an die Außengrenzen verlagert, allein deren Schutz ermöglichte eine weitreichende Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union. Dieses System ist durch das Anwachsen der Migration deutlich unter Druck geraten; zahlreiche Länder sind in der Folge wieder dazu übergegangen, die eigenen Grenzen zu kontrollieren.
2. Wie steht die zeitgenössische Sozialethik dem Staat gegenüber? – oder: Chronik einer schleichenden Abkehr vom Staat
Die Migrations- und Integrationskrise hat eine Leerstelle der zeitgenössischen Sozialethik offengelegt: Die Gesellschaft hat dem Staat in der sozialethischen Reflexion den Rang abgelaufen. Der Bezug auf die Nation, das Volk und dessen Identität oder den Nationalstaat erscheint nicht selten wie ein letztlich austauschbares, häufig kolonial vorbelastetes, mehrheitlich bereits überwunden geglaubtes Narrativ. Schon der Blick in andere Länder der Europäischen Union – nicht allein Osteuropas – zeigt, dass nationale Kategorien allerdings weiterhin die politische Realität und das politische Denken bestimmen. Viele deutschsprachige Sozialethiker stehen diesem Phänomen in der gegenwärtigen Integrationsdebatte eher hilflos gegenüber. Es wirkt so, als könnten der Bezug auf die Menschenrechte oder ein globales Gemeinwohl den Staatsbezug ersetzen. Zur Begründung wird nicht selten auf komplexe soziale Zugehörigkeiten in einer globalisierten Welt verwiesen, die in nationalstaatlichen Kategorien nicht mehr angemessen zu fassen seien.
Verkannt wird dabei die Doppelrolle des Staates, der sowohl Adressat als auch Garant der Menschenrechte ist (vgl. Kirchhof 2004). Auch die Forderung nach mehr suprastaatlicher Kooperation geht letztlich von der Fortexistenz souveräner Staaten aus, die zusammenarbeiten, gemeinsam nach Lösungen suchen und bereit sind, diese schließlich durchzusetzen. Die katholische Sozialverkündigung hat zu Recht daran festgehalten, so etwa Johannes Paul II. in seiner Ansprache vor den Vereinten Nationen zum fünfzigjährigen Bestehen der Weltorganisation am 5. Oktober 1995 oder in seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (Nr. 15), dass die staatliche Souveränität weiterhin ein wichtiger Garant für die Sicherung internationalen Rechts und die Freiheit zwischen den Nationen darstellt (vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden ³2006, Nr. 434 f.). Vielmehr bliebe das abstrakte Modell einer Weltinnenpolitik dem Recht gegenüber entweder durchsetzungsschwach und brüchig oder liefe Gefahr, totalitär zu werden. Denn eine Art „kosmopolitischer Leviathan“ würde sowohl jeden Wettbewerb zwischen den Staaten – auch um die beste politische Konfliktlösung – ersticken als auch jede Möglichkeit zum Asyl rauben.
Benedikt XVI. hat hingegen mit seiner Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ das bereits früher bei den Päpsten zu findende Modell einer politischen Weltautorität zur Steuerung der Globalisierung ins Spiel gebracht (vgl. Papst Benedikt XVI. 2009, Abs. 67; erneut aufgegriffen in seiner Umweltenzyklika durch Papst Franzskus 2018, Abs. 175), ohne allerdings angeben zu können, wie diese ihre Entscheidungen auch durchsetzen soll (möglicherweise wagt man nicht auszusprechen, dass man das Papsttum weiterhin in einer solchen Rolle sieht, auch wenn dessen Vermittlerrolle bereits vor hundert Jahren bei den Pariser Vorortverträgen ausgeschlagen wurde). Am Ende bliebe die Gefahr, dass doch nur ein Recht des Stärkeren gilt, ohne dass ein wirklicher Gewinn an rechtlicher und demokratischer Teilhabe erzielt würde.
Denn wer immer mehr Entscheidungen in suprastaatliche Institutionen auslagert, läuft Gefahr, technokratische Strukturen zu stärken und die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger zu schwächen. Politische Entscheidungen würden sich in eine Grauzone verlagern, in der zunehmend Regierungen und Expertenzirkel miteinander verhandelten – schon allein aufgrund einer fehlenden funktionsfähigen, nicht durch Sprachbarrieren beeinträchtigten weltgesellschaftlichen Öffentlichkeit.
Das Sozialkompendium der katholischen Kirche formuliert es folgendermaßen: „Die politische Gemeinschaft findet in der Bezogenheit auf das Volk ihre eigentliche Dimension: […] Das Volk ist keine amorphe Menge, eine träge Masse, die manipuliert und instrumentalisiert werden kann, sondern eine Gesamtheit von Personen, von denen jede einzelne […] die Möglichkeit hat, sich über die öffentliche Sache eine eigene Meinung zu bilden, und die Freiheit, ihr eigenes politisches Empfinden zum Ausdruck zu bringen und es so zur Geltung zu bringen, wie es dem Gemeinwohl entspricht“ (Nr. 385). Bemerkenswert ist, dass in der antitotalitären Tradition kirchlicher Soziallehre der Bezug auf das Volk an dieser Stelle gerade nicht als Quelle eines problematischen Nationalismus erscheint, sondern als kritischer Topos gegen Versuche, die politische Debatte der Öffentlichkeit zu entziehen.
Wer ein stärkeres Gewicht staatsethischer und staatsphilosophischer Argumente in der Migrationsdebatte einfordert sowie Respekt vor der bestehenden Verfassungslage anmahnt, reduziert politische Ethik nicht zwangsläufig auf Staatsethik. Wer kritisiert, dass in der gegenwärtigen Migrationskrise versucht werde, ein neuartiges „Recht auf ein besseres Leben“ mit faktisch unbeschränkter Niederlassungsfreiheit zu kreieren, reduziert damit noch lange nicht die Menschen- auf Bürgerrechte – zumal ein solches Recht kaum justiziabel wäre. Wer vor einem Moralismus in der gegenwärtigen Migrationsdebatte warnt, reduziert Ethik nicht einfach auf „Realpolitik“. Ressourcenfragen sind ethisch keinesfalls neutral. Und so kann auch die Sorge um den Erhalt staatlicher Handlungs- und Leistungsfähigkeit als Ausdruck der Humanität betrachtet werden.
Innerhalb der Politikethik vollzieht sich schon länger ein Wandel im Verständnis des Staates, der an dieser Stelle nur an drei Schlaglichtern verdeutlicht werden kann.
- Albrecht Langner ging es in seiner Abhandlung mit dem Titel „Menschenrechte – Staat – Gesellschaft“ vorrangig darum, im Rahmen der Ost-West-Konfrontation seiner Zeit den Personalismus christlicher Staats- und Gesellschaftsauffassung von einer marxistischen Gesellschaftstheorie abzugrenzen. In klassischer Tradition arbeitet Langner die Rechts-, Wohlfahrts- und Kulturfunktion des Staates heraus. Gleichwohl geht er davon aus, dass der moderne Staat sich vor allem als „Dienstleistungs- und Daseinsvorsorgestaat“ (Langner 1975, 16) zeige, bei dem weniger die staatliche Rechtsfunktion als die Aufgabe aktiver Gesellschaftspolitik im Vordergrund stehe.
- Einen Schritt weiter geht Bernhard Sutor in seiner „Politischen Ethik“, deren Erscheinen mittlerweile auch schon mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Der Eichstätter Politikdidaktiker und Sozialethiker spricht von einer „zunehmenden Relativierung der nationalstaatlichen Ebene“: Der „Nationalstaat herkömmlicher Form“ habe sich „funktional überholt“, und es sei zu begrüßen, dass „emotionale Bindungen der Menschen an Nation und Vaterland unpolitischer werden“. Heimat, Muttersprache und Vaterland schreibt Sutor nur noch den Wert „unpolitische[r] Selbstverständlichkeiten“ zu, wobei offen bleibt, wie deren Bestand weiter gepflegt und erhalten werden soll. Politische Entscheidungen sollten sich hingegen zunehmend an „allgemeingültigen Prinzipien“ (alle Zitate im Absatz: Sutor 1991, 140 [„Nationalstaat“ und „funktional überholt“ im Original kursiv hervorgehoben]) und an den Menschenrechten orientieren.
- Walter Lesch setzt in seinem aktuellen Entwurf einer Migrationsethik dann die Gesellschaft konsequent vor den Staat: „Die politisch-ethische Sondierung beginnt mit der Verständigung über das Gesellschaftsmodell, das […] vor allem die Frage in den Raum stellt, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben möchten […]: in einer homogenen Gesellschaft von Gleichgesinnten oder in einer sich dynamisch entwickelnden Umgebung, die kulturell offen ist“ (Lesch 2016, 137 f.). Zivilgesellschaftliches Engagement ersetzt Politik und Verwaltung, die zunehmend an ihre Grenzen stoßen. Der Nationalstaat ist für Lesch nur noch als Funktion einer Weltinnenpolitik zu denken, die sich durch weiche Steuerungsinstrumente transnationaler Strukturen realisiert. Am Ende stehen die Bilder einer „Weltrepublik“, welche das vorhandene Völkerrecht fortführt, und einer demokratischen Weltgesellschaft, in der sich die Bürger „als Freie und Gleiche begegnen können“. Zu den Regeln der skizzierten Weltinnenpolitik gehört, dass das „an nationale Herkunft gebundene Staatsbürgerrecht weltbürgerlich transformiert wird“ und der Einzelne nicht mehr „Gefangener eines Territoriums, eines Staates, einer Ethnie oder einer Religion“ (ebd., 160 f.) sein soll. Etwas prosaischer hat die deutsche Bundeskanzlerin diesen Gedanken am 25. Februar 2017 in einer Rede in Stralsund auf folgende Formel verkürzt: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“
Offen bleibt bei Lesch, wie ein in beständiger Auflösung begriffener Nationalstaat überhaupt noch integrations- und handlungsfähig sein kann. Denn die Wahrnehmung globaler Verantwortung und die Integration von Fremden „auf allen Ebenen des Politischen“ werden bei aller kosmopolitischen Rhetorik dann doch weiterhin vom Staat erwartet.
3. Noch einmal: Wie steht die zeitgenössische Sozialethik dem Staat gegenüber? – hier: die Gegenprobe
Eine ausgewogene sozialethische Urteilsbildung sollte auch die Gegenprobe vornehmen und fragen, welche Nebenkosten eine schleichende Abwendung vom Nationalstaat nach sich ziehen könnte. Die Münsteraner Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins fordert für die Politik einen „Kompass“ ein, „der mit einem ‚Überschuss‘ ethischer Orientierung über das aktuell Machbare und Konsensfähige hinausweist und eine Zielsetzung für die Politik annimmt, die im Namen der Humanität ein Moment des Utopischen einklagt“ (Heimbach-Steins 2018, 234).
Äußerst kritisch gegenüber einer solchen Form politischer Utopie zeigt sich hingegen der Wiener Alttestamentler Ludger Schwienhorst-Schönberger und weist daraufhin dass der gesinnungsethisch ausgerichtete Mainstream kirchlicher Sozialethik letztlich auf eine Politik hinauslaufe, in der Grenzen grundsätzlich delegitimiert würden, damit aber auch die Ordnungsfunktion des Staates: „Im normativen Individualismus sind die Rechte und das Wohlergehen einzelner Personen der letzte Referenzpunkt ethischer Urteile. Belange von Völkern oder Staaten sind demgegenüber nachrangig oder nicht beachtenswert“ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 330 f.). In der Folge werde durch eine solche Argumentation auch das Handeln solcher staatlichen Institutionen infrage gestellt, die gerade dem Schutz der Person und ihrer Rechte dienen sollten – und dann auch humanitäres Handeln ermöglichten.
2015 wandte sich eine Reihe höherer Ordensoberer und Ordensoberinnen an den bayerischen Ministerpräsidenten, Horst Seehofer, und sprach sich „für ein menschenfreundliches Engagement für Geflüchtete“ aus. Der Brief dokumentiert eine deutliche Polarisierung der migrationsethischen Debatte. Mit der Formulierung „mit brennender Sorge“ – in Anspielung auf die Enzyklika Pius XI. von 1937 – scheuten seine Verfasser keineswegs davor zurück, demokratische Politiker in eine Nähe zum Nationalsozialismus zu rücken. Am Ende des Offenen Briefes heißt es: „Abschottungen, Grenzen und Begrenzungen sind für uns keine Lösung. Kreativität, guter Wille und eine Mentalität, die dem Teilen mehr zutraut als der Sorge um das eigene Wohlergehen, sind für uns zukunftsweisende Wege, für die wir uns einsetzen“ (Deutsche Ordensobernkonferenz 2015).
Der Brief kann als sprechendes Beispiel für vorstehend benannten normativen Individualismus gelesen werden: Individuelle Haltungen sollen zum Maßstab für politisches Handeln werden. Interessen des eigenen Volkes werden negiert. Moralpredigt ersetzt die sozialethische Reflexion. Eine Sozialethik, die so argumentiert, könnte im grundlegenden Sinne als „unpolitisch“ charakterisiert werden: als eine Sozialethik, die nichts mehr zu sagen weiß über Staat und Staatsräson, Nation und Identität oder Grenzsicherung und staatliche Souveränität. Nebenbei gesagt: Diese Entwicklung gefährdet nicht allein ein kooperatives Staat-Kirche-Verhältnis, sondern wird auf Dauer auch zu einem deutlichen Relevanzverlust christlicher Sozialethik und Sozialverkündigung führen, weil zentrale Themen der staatsethischen Debatte ausgeblendet bleiben.
Die staatspolitischen Grundlagen eines Gemeinwesens sind kein fester Besitzstand; sie müssen immer wieder politisch gesichert und verteidigt werden. Wo dies nicht mehr gesehen wird, kann aus der kirchlichen Sozialverkündigung ein unernst wirkender Gestus prophetischer Kritik werden, der ohne vernunftgeleitete Übersetzung am Ende seine politische Wirksamkeit einbüßen muss – noch einmal Schwienhorst-Schönberger: „[I]n einer Reihe kirchlicher und theologischer Stellungnahmen […] wurden klassische Prinzipien wie die Anwendung der Vorzugsregeln, die Unterscheidung von sittlich gutem Willen und sittlich richtiger Tat, die Abwägung nicht-sittlicher Güter im Rahmen teleologischer Normenbegründungen sowie die differenzierte Wahrnehmung und Erörterung eines vielstimmigen biblischen Zeugnisses nicht oder nur kaum thematisiert“ (Schwienhorst-Schönberger 2018, 336; vgl. ausführlich 336 – 339).
Das Evangelium stemmt sich mit der bekannten, schon zitierten matthäischen Formel politischen Heilslehren entgegen, die sich selbst absolut setzen. Aber es „liefert“ umgekehrt auch kein umfassendes göttliches Gesetz. Niemand sollte in der Kirche vorschnell behaupten, er wüsste schon im Voraus ganz genau, was politisch praktizierte Christlichkeit zu sein habe. Vielmehr eröffnet das Evangelium den Raum für eine Politik aus christlicher Verantwortung, die im politischen Diskurs Kontur gewinnt und eine Verschiedenartigkeit säkularer Gesetze zulässt.
4. Welche Kosten sind mit der gegenwärtigen Politik verbunden?
Der Verlust staatlichen Denkens in der sozialethischen Debatte bleibt nicht folgenlos. Daniel Deckers hat den Verlust an Identität in einem Leitartikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2017 so auf den Punkt gebracht: In kirchlichen Stellungnahmen „werden das Gefühl des Heimatverlustes und die politisch-sozialen wie kulturell-religiösen Konfliktpotentiale einer Einwanderungsgesellschaft kleingeredet, wenn sie nicht gar geleugnet werden“ (Deckers 2017, 1).
Gesellschaft, Kultur oder Identität seien nichts Statisches – dieser Allgemeinplatz wird sozialethisch schnell als Einwand ins Feld geführt. Doch wer als Angeklagter vor Gericht steht, was niemandem zu wünschen ist, wird darauf vertrauen wollen, dass das „Volk“, in dessen Namen Recht gesprochen wird, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern er sich auf tragfähige kulturelle Werte verlassen kann. Sollte jemand als Beamter darauf vertrauen, dass er auch im Ruhestand auskömmlich leben kann, wird er sich sicher wünschen, dass dieses „Volk“, das seinen Beamten gegenüber Loyalität zugesichert hat, kein beliebig austauschbares Narrativ ist, sondern eine berechenbare Größe bleibt, die sich später auch an einmal gegebene Pensionszusagen erinnert. Weitere Beispiele ließen sich finden.
Identität unter Generalverdacht zu stellen, ist sozialpsychologisch unrealistisch und unfreiheitlich. Feste Identitäten gefährden das Zusammenleben weniger als ein Zustand erzwungener Gleichheit oder Vereindeutigung. Eine Gesellschaft, die Toleranz nur mehr über die Kontrolle von Gesinnungen, denen bestehende Ungleichheit oder kulturelle Differenzierungen zu Bewusstsein kommen könnten, aufrecht zu erhalten versucht, wäre repressiv und alles andere als lebenswert.
Die „Spielregeln“ im gesellschaftlichen Zusammenleben, auf die wir uns verlassen dürfen, müssen klar sein. Jedes Gemeinwesen, das stabil bleiben will, braucht einen gesellschaftlichen Mindestkonsens. Wichtig sind zunächst einmal zentrale Grundregeln einer formalen Sittlichkeit. Zu diesen müssen wir uns als Gemeinwesen verbindlich bekennen, diese müssen wir deutlich einfordern und diese muss der Staat auch bereit sein durchzusetzen – sonst verliert er als Rechtsstaat an Vertrauen: beispielsweise eine gewaltfreie Streit- und Debattenkultur, ein robustes Maß an Ambiguitätstoleranz, den Willen zu Verständigung und Toleranz, Fairness und gegenseitigen Respekt, Achtung vor der Verfassung und den unveräußerlichen Rechten anderer.
Doch genügt ein Gerüst formaler Verfahrensregeln keineswegs. Die Regeln unseres Verfassungsstaates müssen unterfüttert werden durch ein Fundament konkret gelebter Orientierungswerte. Diese bestimmen das sozialethische Verhalten der Bürger im Alltag und sind Ausdruck gemeinsamer Identität. Man kann von einem Vorrat an kulturellen Selbstverständlichkeiten sprechen, der uns im Alltag den Rücken freihält. An dieser Stelle ist es durchaus berechtigt, von „Leitkultur“ zu sprechen, womit noch nichts darüber ausgesagt ist, wie diese abgesteckt werden kann. Dass eine solche „Leitkultur“ nicht statisch sein kann, ist eine triviale Erkenntnis. Und selbstverständlich sollte eine Leitkultur so offen formuliert werden, dass sie dem heutigen Freiheitsempfinden gerecht wird: weder ausgrenzend oder abschließend noch beliebig oder austauschbar. Es geht um eine gesprächsfähige Positionalität, die gleichzeitig bereit ist, für die eigenen Werte deutlich einzustehen.
Ein Gemeinwesen hingegen, in dem man sich nicht mehr aufeinander verlassen kann, muss kontrollieren, regulieren und steuern. Staatlicherseits geschieht dies beispielsweise durch zunehmende Kontrolle im Inland, eine verstärkte Überwachung der Privatsphäre oder Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit. Was wir brauchen, ist ein intelligent geführter Kampf gegen Ausgrenzung. Dieser wird verhindert, wenn Begrenzungen grundsätzlich unter Generalverdacht gestellt werden. Notwendig sind Kategorien und normative Kriterien, mit denen Unterscheidungen möglich bleiben: Was sind ungerechte Ausschließungen? Was sind erhaltenswerte Formen der Differenzierung? Was sind repressive Praktiken? Was sind lebensdienliche Ausdrucksformen persönlicher oder sozialer Identitätsbildung? Die Ausbildung einer Identität, die ihn von anderen unterscheidet, ist für den Menschen lebensnotwendig. Andernfalls könnte es auch keine Individualität geben. Ordnungen, die darauf zielten, alle Menschen gleich zu machen, waren in der Geschichte immer Ordnungen der Unfreiheit.
Sozialethisch bleibt es wichtig, dass wir uns über die Spielregeln für den (mitunter harten) politischen Streit verständigen, diesen zivil halten und fragen, welche formalen Regeln dabei unabdingbar gelten sollten – dies verbietet populistische Vereinfachungen, gleich ob vom rechten oder linken Rand oder auch aus der Mitte der Gesellschaft. Zu diesen Strategien, die auf Dauer den öffentlichen Diskurs beschädigen, zählt auch, im politischen und wissenschaftlichen Streit abweichenden Positionen nicht mit Argumenten zu begegnen, sondern den politischen Gegner zu etikettieren und so seine Position als argumentationsunwürdig zu brandmarken.
Dem Verfassungsrecht eignet grundsätzlich ein konservatives Moment. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat kann eine bestimmte „Leitkultur“ seiner Bürger nicht hoheitlich herstellen, aber er darf einen entsprechenden, politisch belastbaren Gedächtnisraum fördern. Der Kreuzerlass im Freistaat Bayern, der vor einem Jahr für Konfliktstoff sorgte, ist durchaus legitim (vgl. Kunze 2018). Recht und staatliche Ordnung leben von affektiven Bindungen an ihre kulturellen Prägungen. Und eine stabile Rechts- und Staatsordnung lebt davon, dass die Herkunft der ihnen zugrundeliegenden Werte und Prinzipien aus der spezifischen, einheimischen Tradition nicht geleugnet wird. Wer eine andere Staatsangehörigkeit anstrebt, von dem muss mehr als ein formales Bekenntnis zur Verfassung verlangt werden. Andernfalls steht zu befürchten, dass man den zweiten Pass gern mitnimmt, sich im Letzten aber nicht mit dem neuen Heimatland identifiziert. Loyalitätskonflikte und kulturelle Auseinandersetzungen sind damit vorprogrammiert.
Und wie sieht es mit dem Zusammenhalt in Europa aus? Mangelnde Solidarität innerhalb der Europäischen Union ist nicht erst seit 2015 mit dem Anschwellen der Flüchtlingsbewegungen zu verzeichnen; das Phänomen zeigte sich schon einige Jahre zuvor, als die ersten Anzeichen einer kommenden Migrationskrise weitgehend ignoriert wurden. Die Europäische Union ist ein Bund von Staaten mit eigenen Interessen, wie sich in der Migrationskrise deutlich gezeigt hat – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein solcher Zusammenschluss kann hilfreich sein, den Herausforderungen einer globaler gewordenen Welt zu begegnen und internationale Aufgaben besser zu bewältigen. Für die demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung eignen sich suprastaatliche Zusammenschlüsse aber nur begrenzt, schon allein wegen sprachlicher Barrieren und fehlender identitätsstiftender Elemente.
Es gibt einen kulturellen Zusammenhang in Europa, bei allen Unterschieden zwischen Süd- und Nordeuropäern, Ost- und Westeuropa. Der kulturelle Zusammenhang wird aber nicht den identitätsstiftenden Gehalt der einzelnen Nationalstaaten ersetzen können. Europas Stärke war stets seine kulturelle Vielfalt. Diese hat Papst Franziskus in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament noch einmal betont, auch wenn auffällt, dass er hier allein von der Verschiedenheit der Völker, nicht aber der Staaten innerhalb der Europäischen Union spricht: „Das Motto der Europäischen Union ist Einheit in der Verschiedenheit, doch Einheit bedeutet nicht politische, wirtschaftliche, kulturelle oder gedankliche Uniformität. In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann“ (vgl. Papst Franziskus 2014 [Hervorhebung im Original]). Es steht zu befürchten, dass Europa gerade diese Stärke verspielt, wenn die Vielfalt durch einen suprastaatlichen Zentralismus ersetzt wird.
Das sozialethische Prinzip der Subsidiarität ist in Europa zwar vertragsrechtlich verankert, etwa in Art. 5 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), bleibt in der politischen Realität aber deutlich unterbelichtet. Anstatt eine substantielle materielle Subsidiaritätskontrolle vorzunehmen, wird die der Europäischen Kommission obliegende Begründungspflicht vielfach als lästige Formsache abgehandelt. Als tiefere Ursache lassen sich – neben einer Überforderung durch die Dynamik europäischer Entscheidungsprozesse – grundlegende Konstruktionsfehler im Zusammenspiel der verschiedenen Organe der Europäischen Union ausmachen (vgl. Calliess 2012): Die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips ist vorrangig Unionsorganen anvertraut, die sich der Unionsseite verpflichtet fühlen und einem Dilemma doppelter Erwartungen gegenübersehen: Einerseits sollen sie die Unionsziele verwirklichen, andererseits sich selbst zurücknehmen. Und auch der Europäische Gerichtshof hat sich demgegenüber häufig eher als treibende Kraft im Prozess der Integration und weniger als Kontrollinstanz verstanden.
5. Warum bleibt die Rechtsfunktion des Staates wichtig?
Das Volk als Souverän gibt sich kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt eine Verfassung. Wer diesen nationalen Bezug verkennt, läuft Gefahr, die rechtliche Ordnung aufzulösen. Die Freiheitsbewegung des neunzehnten Jahrhunderts wusste, wie das „Lied der Deutschen“ zeigt, um den Zusammenhang von Einigkeit und Recht und Freiheit. Die von der Verfassung verbürgten Rechte und Grundfreiheiten können nur in einer auf gemeinsame Orientierungswerte gegründeten Rechtsgemeinschaft konkret werden. Zum einen ermöglicht die Verschiedenheit der Staatenwelt – trotz zwischenstaatlicher Konflikte – die Entfaltung von Zugehörigkeit und kultureller Eigenart und garantiert dadurch Individualität und Freiheit. Zum anderen bleiben die Menschenrechte auch als vorstaatliches Recht auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen, der sie wirksam schützt.
Im freiheitlichen Rechtsstaat werden die Maximen von Recht und Ordnung nicht starr angewandt, sondern im Licht der Menschenwürde als dem Fundament der gesamten Rechtsordnung. In der Praxis zeigt sich dies beispielsweise darin, dass sich das angewandte Recht an Angemessenheitsnormen orientiert und die zu seiner Durchsetzung eingesetzten Mittel sich am Maßstab der Verhältnismäßigkeit messen lassen müssen. Allerdings dürfen sich auch humanitäre Maximen im Rechtsstaat nicht einfach über Recht und Gesetz hinwegsetzen – so der Soziologe Dieter Prokop in der Frankfurter Allgemeinen vom 24. Juli 2017: „Das Problem hierbei ist, dass das menschliche Gefühl seine eigene Dynamik hat: Gefühlte Angemessenheitsnormen sind weit auslegbar“ (Prokop 2017, 6). Hierfür gibt eine „Willkommenskultur“, die dem vereinfachenden Slogan „Refugees welcome“ folgt, reichlich Anschauungsmaterial ab.
Ein moralischer Impetus, der sich über Recht und Gesetz hinwegsetzt, verhindert notwendige Differenzierungen in der Anwendung bestehenden Rechts, beispielsweise die Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten, die unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, Kriegsflüchtlingen, für die gesetzlich bestimmte temporäre Aufenthaltsgenehmigungen gelten, Personen, die ohne Kriegs- oder Verfolgungsgrund unter die übliche Ausländer- und Einreisegesetzgebung fallen, oder sogar kriminellen Grenzverletzern. Wo aber nach dem Gesetz notwendige Differenzierungen nicht mehr vorgenommen werden, nehmen am Ende die Gleichheit vor dem Gesetz und die faire Anwendung bestehenden Rechts Schaden – und zwar gerade deshalb, weil am Ende Ungleiches pauschal gleichgesetzt und der gerechten Beurteilung entzogen wird.
Zu den Pflichten der Vernunft gehört es, dass Gesellschaftsverträge, die Rechtssicherheit garantieren sollen, eingehalten werden. Ein Staat, der das Zutrauen in seine eigene Rechtssicherheit und Rechtsverbindlichkeit untergräbt, wird auf Dauer auch kein verlässlicher Adressat der Menschenrechte mehr sein können. Die Europäische Union, die ihre eigenen Verträge nicht mehr einhält oder zumindest äußerst fahrlässig damit umgeht, leidet bereits unter einem Ansehensverlust. Politisches Vertrauen ist schnell verspielt, aber nur mühsam wieder aufzubauen.
Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit im gemeinsamen Zusammenleben lassen sich auf Dauer nicht durch ein moralisches Maximum garantieren, das die Menschenrechte als beständig auszuweitendes Instrument einer permanenten Gesellschaftsreform gegen den Staat und seine Freiheit wie Recht sichernden Institutionen in Frontstellung bringt. Die Sicherung des Gemeinwohls bleibt angewiesen auf den vernunftgemäßen Interessenausgleich auf Basis von Recht und Gesetz. Die Menschenrechte qualifizieren als überpositives Recht die Ausübung der staatlichen Rechtsfunktion und bedürfen dieser zugleich um ihrer eigenen Wirksamkeit willen. Die Menschenrechte gehören der Moral und dem Recht an. Der gegenwärtige sozialethische Diskurs neigt allerdings dazu, die moralische Seite der Menschenrechte stärker zu betonen als deren juridischen Charakter. Nebenbei – eine Bemerkung, die einem Pädagogen besonders am Herzen liegt: Wenn wir unser Gemeinwesen konstitutiv als sozialen Rechtsstaat begreifen, sollten wir pädagogisch auch mehr in eine solide Rechtskunde investieren.
6. Ausblick
Marianne Heimbach-Steins plädiert in ihrem Entwurf einer Migrationsethik für drei Vorrangregeln (Heimbach-Steins 2017, 13 – 15): (1.) Gleiche Würde aller Menschen und menschenrechtliche Anerkennung genießen Vorrang vor allen Differenzen. (2.) Die Person hat Vorrang vor jeder gesellschaftlichen Institution. (3.) Das Gemeinwohl hat Vorrang vor partikularen Interessen. –
Eine Gewichtsverlagerung gegenüber der überkommenen Rechtsethik fällt auf: Die ethische Tradition geht bei der Güterabwägung von einem Vorrang des Personwohls aus. Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen um des Gemeinwohls willen bleiben in hohem Maße begründungspflichtig (so darf etwa in das Recht auf Privateigentum nur in eng umgrenzten Fällen bei Entschädigung des Eigentümers eingegriffen werden). Die drei migrationsethischen Vorrangregeln behaupten zwar einen starken Vorrang der Person vor jeder gesellschaftlichen Institution, postulieren gleichzeitig aber auch einen Vorrang des Gemeinwohls und ein Zurücktreten kultureller Unterscheidungsmerkmale – ein Widerspruch?
Freiheit im gemeinsamen Zusammenleben lebt nicht vom Entweder-oder, sondern von polaren Grundspannungen, die im freiheitlichen Gemeinwesen nicht in die eine oder andere Richtung aufgelöst werden dürfen. Vielmehr bedarf es eines vermittelnden Bindegliedes: Die staatliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit bleibt als jener Ort wichtig, wo die notwendige Vermittlung zwischen individual- und gemeinwohlbezogenen Interessen geschieht. Suprastaatliche Verbünde können dies nicht leisten, woran nicht zuletzt auch das Subsidiaritätsprinzip gemahnt. Eine im Kern letztlich „unpolitische“ Sozialethik, für die Staat und Nation kaum noch eine Rolle spielen, sollte bedenken, was an dieser Stelle auf dem Spiel steht. Denn geht die Rechtsfunktion des Staates dahin, könnte der Verlust an Humanität gravierend sein – gerade auch für den Einzelnen.
Literatur
Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik (2019): Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik zu der Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ [14.03.], in: http://www.christliche-sozialethik.de/?p=371 [30.06.2019].
Calliess, Christian (2012): Grundsatz der Subsidiarität: Nur ein leeres Versprechen?, in: Stiftung Gesellschaft für Rechtspolitik/Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hg.): Bitburger Gespräche. Jahrbuch 2011/I, München, 47 – 83.
Deckers, Daniel (2017): Rote Blitze, rote Linien, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.03., 1.
Deutsche Ordensobernkonferenz (2015): Offener Brief (höherer) Ordensoberinnen und Ordensoberer an Ministerpräsident Horst Seehofer für ein menschenfreundliches Engagement für Geflüchtete, 11.11. https://www.orden.de/aktuelles/meldung/?tx_ignews_newsdetail%5Bnews%5D=3189&tx_ignews_newsdetail%5Baction%5D=show [05.10.2018].
Deutscher Hochschulverband (2019): Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten. Resolution des 69. DHV-Tages 2019 in Berlin [09.04.], in: https://www.hochschulverband.de/uploads/media/Resolution_Verteidigung_der_Debattenkultur-final.pdf [30.06.2019].
Fuchs, Jürgen/Braun, Wolfgang/Dicke, Christoph (2017): Humanistischer Staatsstreich oder Gebot christlicher Nächstenliebe?, in: Academia, 110. Jg., H. 1, 34 – 36.
Heimbach-Steins, Marianne (2017): Europa und Migration. Sozialethische Denkanstöße, Köln.
Heimbach-Steins, Marianne (2018): „Den Fremden lieben …“ Biblische Impulse für eine christliche Migrationsethik, Bibel und Kirche, 73. Jg., H. 4, 232 – 239.
Höffner, Joseph (1997): Christliche Gesellschaftslehre, hg., bearb. u. erg. v. Lothar Roos, Kevelaer.
Isensee, Josef (2008): Staat, in: Rauscher, Anton (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin, 741 – 774.
Isensee, Josef (2015): Staat, in: Kube, Hanno u. a. (Hg.): Leitgedanken des Rechts zu Staat und Verfassung, Heidelberg, 3 – 15.
Kirchhof, Paul (2004): Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit. Vom Privileg und Überfluss zu einer Kultur des Maßes, Paderborn.
Körtner, Ulrich H. J. (2017): Für die Vernunft. Wider Moralisierung in Politik und Kirche, Leipzig.
Kunze, Axel Bernd (2017): Wo stößt Gastfreundschaft an Grenzen?, in: Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Zerreißprobe Flüchtlingsintegration, Freiburg i. Brsg., 56 – 69.
Kunze, Axel Bernd (2018): Flagge und Kreuz, in: Röser, Johannes (Hg.): Gott? Die religiöse Frage heute, Freiburg i. Brsg., 67 – 70.
Langner, Albrecht (1975): Menschenrechte – Staat – Gesellschaft, Köln.
Lesch, Walter (2016): Kein Recht auf ein besseres Leben? Christlich-ethische Orientierung in der Flüchtlingspolitik, Freiburg i. Brsg.
Möllers, Christoph (2008): Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Berlin.
Papst Benedikt XVI. (2009): Enzyklika CARITAS IN VERITATE von Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen gottgeweihten Lebens, an die christgläubigen Laien und an alle Menschen guten Willens über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit. 29. Juni 2009, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, o. O. (Bonn) o. J.
Papst Franziskus (2014): Besuch des Heiligen Vaters beim Europaparlament und beim Europarat. Ansprache des Heiligen Vaters an das Europaparlament. Straßburg, Frankreich. Dienstag, 25. November 2014, http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/november/documents/papa-francesco_20141125_strasburgo-parlamento-europeo.pdf [18.02.2019].
Papst Franziskus (2018): Enzyklika LAUDATO SI‘ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus, 4., korrigierte Auflage, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, o. O. (Bonn) o. J.
Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (³2006): Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg i. Brsg.
Prokop, Dieter (2017): Demokratie braucht keine Moralkeulen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.07., 6.
Lothar Roos, Stephan Raabe (2019): Substanzieller Dialog statt Stigmatisierung und Ausgrenzung. Eine Antwort auf den Boykott-Aufruf gegen die katholische Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ [12.06], in: Die Tagespost – Onlineausgabe: https://www.die-tagespost.de/feuilleton/online/Substanzieller-Dialog-statt-Stigmatisierung-und-Ausgrenzung;art4690,198850 [30.06.2019].
Schröder, Richard (2016): Was wir Migranten schulden – und was nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.08.
Schwienhorst-Schönberger, Ludger (2018): Dem Kaiser, was des Kaisers. Christentum und Migrationspolitik, Stimmen der Zeit, 143, 5, 329 – 342.
Seiler, Christian (2015): Staat, in: Kube, Hanno u. a. (Hg.): Leitgedanken des Rechts zu Staat und Verfassung, Heidelberg, 17 – 27.
Sutor, Bernhard (1991): Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre, Paderborn.
Anmerkungen
[1] Wissenschaftlicher Abend der Leipziger Burschenschaft Alemannia zu Bamberg am 19. Juni 2019
[2] Wie politisch zerrissen die Christliche Sozialethik gegenwärtig ist, hat in diesem Jahr der Streit um eine Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik, der Vereinigung der Lehrstuhlinhaber der Disziplin im deutschsprachigen Raum, offengelegt (vgl. Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik 2019). In einer „Erklärung“ distanzierte sich die Fachgesellschaft von der traditionsreichen Zeitschrift „Die Neue Ordnung“. Die Stellungnahme fiel zeitgleich mit einer Resolution des Deutschen Hochschulverbandes unter dem Titel „Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten“ zusammen; mit dieser spricht sich die wichtigste berufsständische Vertretung von Wissenschaftlern in Deutschland gegen „Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt“ als Mittel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aus (Deutscher Hochschulverband 2019). In einem Offenen Brief formulierten mehr als sechzig Autoren und Freunde der „Neuen Ordnung“ in der Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ deutliche Kritik am Boykottaufruf der deutschsprachigen Sozialethiker und werten diesen als illegitimen Versuch, die Publikations- und Meinungsfreiheit einzuschränken (Roos/Raabe 2019). Der Offene Brief enthält – unabhängig vom aktuellen Streitfall – wesentliche und sehr lesenswerte Aussagen zur Meinungsfreiheit innerhalb der Gesellschaft und der Kirche sowie deren Grenzen.