Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen feiert Jubiläum

Die Wurzeln der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Esslinger Hochschule liegen in der Sozialen Frauenschule des Schwäbischen Frauenvereins e. V., die 1917 in Stuttgart gegründet wurde. An dieses Ereignis vor hundert Jahren erinnerte die Fakultät am 20. Oktober 2017 mit einem Festakt „100 Jahre Lehre und Forschung für Soziale Berufe“. Im Mittelpunkt der Festreden werden die Fragen stehen: „Nach 100 Jahren – Wo wir heute stehen“ und „Wie werden wir leben? Soziologische Perspektiven auf Konflikte und Kooperationen“. Privatdozent Dr. Axel Bernd Kunze, Schulleiter der benachbarten Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik in Weinstadt, hält regelmäßig im Sommersemester an der Fakultät Gastvorträge, um Studenten der Kindheitspädagogik das Lehren in der Erzieherausbildung als mögliches Arbeitsfeld vorzustellen.

Herzlichen Glückwunsch an die Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen zu ihrem hundertjährigen Bestehen! Wir freuen uns weiterhin auf eine gute Kooperation.

Neue Publikationsreihe: Bildung und Unterricht an Bekenntnisschulen

In der Christlichen Verlagsgesellschaft mbH in Dillenburg ist jetzt eine neue Publikationsreihe eröffnet worden, die sich grundlegenden Themen über Bildung und Unterricht an Bekenntnisschulen widmet:

Evangelische Bekenntnisschulen in Bildungsverantwortung

Private Schulen, die ein klar erkennbares pädagogisches Profil besitzen und eine verlässliche Werterziehung garantieren, stehen bei Eltern hoch im Kurs. Sie  sind ein wichtiger Garant der Freiheit im Bildungssystem sowie der pädagogischen Wahlfreiheit der Eltern und Lernenden. Bildungspolitisch und bildungswissenschaftlich weht ihnen aber durchaus ein starker Wind ins Gesicht, laufen sie dem allgemeinen Trend zu einem Egalitarismus in Bildungsfragen entgegen. Umso wichtiger ist es, das eigene Profil zu schärfen und wissenschaftlich auszuweisen. Beides versucht der erste Band der Reihe:

VEBS-Akademie (Hg.): Profil schärfen. Grundlegende Gedanken zu einem christlichen Bildungsverständnis (Evangelische Bekenntnisschulen in Bildungsverantwortung; 1), Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft 2017.

Neuerscheinung: Pädagogischer Umgang mit gespielter Aggressivität – wie sollen Erzieher reagieren?

Die Zeitschrift „Beiträge aus der sozialpädagogischen Ausbildung“, die 2018 in ein Jahrbuch umgewandelt werden wird, veröffentlicht herausragende Facharbeiten und Bachelorarbeiten, die im Rahmen der Erzieherausbildung oder sozialpädagogischen Studiengängen entstanden sind. Die Zeitschrift erscheint im dohrmannVerlag.Berlin für europäische und interkulturelle Pädagogik. Es ist erfreutlich, dass innovative und bemerkenswerte Facharbeiten auf diese Weise einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden. Im aktuellen Heft Nr. 14 vom Oktober 2017 wird erstmals eine Arbeit aus der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt gewürdigt.

Lara Langstädtler, die im vergangenen Schuljahr 2016/17 ihre schulische Abschlussprüfung im Rahmen der Erzieherausbildung abgelegt hat, diskutiert in ihrer Facharbeit, die durch Frau Dozentin Henning als Erstgutachterin pädagogisch begleitet wurde, wie ein angemessenes Verhalten von pädagogischen Fachkräften gegenüber Gewaltspielen aussehen könnte:

Lara Langstädtler: Pädagogischer Umgang mit gespielter Aggressivität im Kindergarten, in: Beiträge aus der sozialpädagogischen Ausbildung 5 (2017), H. 14 v. Oktober 2017, S. 18 – 32 (mit einem Vorwort von Johanna Henning: S. 18).

Rezension: Luther für junge Leser

Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen, mit Illustrationen von Sascha Lunyakov, Berlin 2017, 169 Seiten.

Das Jubiläumsjahr der Reformation neigt sich dem Ende entgegen – ein Jahr, das von nicht wenigen Misstönen begleitet gewesen ist: Es ging los mit dem Bild zweier kirchlicher Würdenträger im Herbst 2016, die auf dem Jerusalemer Tempelberg nicht zum Kreuz als Teil ihrer Amtsinsignien stehen wollten. Was hätte Luther wohl zu dieser Uminterpretation seines „Hier stehe ich … – ich kann auch jederzeit anders“ durch seinen „Nachfolger“, den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, gesagt!? Da war die antifaschistische Entgleisung auf einem regionalen Kirchentag in Mitteldeutschland, bei dem Luther auf unflätigste Weise beschimpft wurde. Da waren kritische Stimmen aus den eigenen Reihen, die den Kirchenleitungen einen unreformatorischen Personenkult um Luther, eine Kommerzialisierung seiner Person vorwarfen und den Jubiläumsfeiern theologische Substanzlosigkeit bescheinigten …

Die Beispiele zeigen, wie schwer es heute fällt, die Reformation und einen ihrer Hauptakteure geschichtlich wie theologisch angemessen zu würdigen. Nur in einem war man sich sicher: Es sollte kein nationales Luthergedenken geben, von dem 1983 selbst die Jubiläumsfeierlichkeiten der SED nicht frei waren. Und doch hat Karlheinz Weißmann seiner Lutherbiographie für junge Leser den Untertitel gegeben: „Prophet der Deutschen“. Dieser greift eine Zuschreibung auf, die Luther, der für sich ein prophetisches Amt in Anspruch nahm, schließlich selbst übernahm, als Bürde, nicht als Ehre. Und das war Luther auch – mindestens was seine Wirkungsgeschichte anging. Er hat die Geschichte Deutschlands ebenso geprägt wie dessen religiöse Landschaft. Nebenbei: Weißmanns Buch ist nicht der Ort, die Frage zu stellen, warum sich die Reformation gerade in den nichtrömischen, germanisch-skandinavisch geprägten Ländern bleibend durchsetzen konnte.

Vollständig erfassen wird man Luther durch eine solche Wertung wohl nicht, allzu facettenreich ist seine Persönlichkeit. Und das wäre für eine Biographie auch ein zu großer Anspruch. Doch dem Historiker und Publizisten Weißmann ist zweifelsohne gelungen (wie schon bei seiner vorangegangenen Geschichte Deutschlands für junge Leser), Luther anregend, differenziert und anschaulich für Heranwachsende zu erschließen. Auch wenn nicht alles beim ersten Mal erfasst wird, weckt das Buch Neugier, sich weiter mit Luther zu beschäftigen, den Fragen um seine Person und Wirkungsgeschichte an anderer Stelle nachzuspüren … Illustriert wurde der Band von Sascha Lunyakov.

Luther wird in den Kontext seiner Zeit eingeordnet, wobei der Verfasser ihn stärker an die Schwelle zur Neuzeit als an den Ausgang des Mittelalters rückt (anders, als es Schillings epochales Lutherwerk jüngst getan hat). Es folgen Kapitel zu Luthers Zeit als Mönch und zu seiner Rolle als Reformator.

Die Bedeutung Luthers für die Nationalgeschichte erkennt Weißmann in dessen Einfluss auf die deutsche Sprache (Bibelübersetzung), in seiner Rolle als Initiator einer (sozialen) Volksbewegung, die im Bauernkrieg dann auf dramatische Weise eskalierte und auch sonst durchaus in innerreformatorischen Streitigkeiten mit sich selbst in Konflikt geriet, und in der Neuordnung der Glaubenslandschaft in Deutschland. Diese Punkte sind alle nicht verwunderlich. Bemerkenswert ist, dass Weißmann Luther nicht als den Beginn eines verhängnisvollen deutschen Sonderweges zeichnet, sondern als Leitfigur in eine Geschichte des deutschen Widerstands einreiht: von Arminius und Widukind über Luther bis zu Bismarck und den Widerständlern vom 20. Juli 1944 und 17. Juni 1953. Dies alles gelingt Weißmann, ohne Luther dabei einseitig zu politisieren. Deplatziert und anbiedernd an den Massengeschmack wirkt einzig die Illustration, die Luther vor einem Heer von Fußballfans zeigt, die schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken.

Dies überzeugt und rechtfertigt den Untertitel des Bandes, sofern man die darin enthaltene Charakterisierung nicht exklusivistisch versteht. Für Weißmann bleibt Luther ein religiöses Genie – mit der durchaus üblichen Gratwanderung: Luther konnte harte Urteile gegen andere fällen, wurde aber selbst vom Teufel bedrängt. Dies wird man unterschreiben können. Schwieriger hingegen ist Weißmanns theologische Deutung Luthers – … als eines religiösen Denkers, der etwas Neues beginnen wollte. Dies unterschlägt, dass es Luther zunächst um Rückkehr zu den Wurzeln des Evangeliums ging, auch wenn sich dieses Anliegen schnell mit anderen verband. Etwas holzschnittartig bleibt die Charakterisierung der theologischen Unterschiede zwischen den Konfessionen, zumal nach der Einigung in der Rechtfertigungslehre: hier Größe und Allmacht Gottes, dort dessen Gnade und Hinwendung zum Menschen.

Schwierig erscheint es auch, Luther für den Freiheitskampf Widukinds gegen Karl den Großen zu vereinnahmen, ging es doch hier um eine Auseinandersetzung zwischen heidnischen Sachsen und bereits christianisierten Franken.

Was bleibt am Ende? Weißmann verschweigt nicht die Irrwege der Reformation, die innerprotestantischen Auseinandersetzungen und die Spaltungen des konfessionellen Zeitalters: „Das ‚protestantische‘ Deutschland ist selbstverständlich nicht das ganze Deutschland. Es gibt auch das andere, das im Süden und im Westen, das in vieler Hinsicht reichere, lieblichere, länger kultivierte, das mit dem Nachbarn in engerem Austausch stehende, das ursprünglich römische Germanien. Und unbestreitbar hat es Zeiten der tiefen Spaltung und Feindschaft zwischen dem einen und dem anderen gegeben, zum Unglück der Deutschen“ (S. 20). Gerade die Studenten des Wartburgfestes, das eine Feier des dreihundertjährigen Jubiläums der Reformation war, haben diese Spaltung „in zwei Deutschlands“ beklagt und dagegen ihre Stimme erhoben.

Auf der Habenseite steht in politischer Hinsicht der Freiheitsimpetus des „protestantischen Deutschlands“, nicht zuletzt in Gestalt Preußens und der Attentäter des 20. Juli, die noch einmal die besten Traditionen Preußens aufflammen ließen. Theologisch wurde Luther zu einer „Vatergestalt des Glaubens“, die tiefe religiöse Ernsthaftigkeit bezeugte – ein Aspekt, der heute auch von katholischer Seite anerkannt wird.

Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Werk für junge Leser (ab zwölf Jahren), die über Luther und dessen Wirkungsgeschichte mehr erfahren wollen.

Schlaglicht: „Nicht jeder Doktor muss Professor werden“

„Nicht jeder Doktor muss Professor werden“, meint Gerald Wagner im Hochschulteil der Frankfurter Allgemeinen vom 25. Oktober 2017 (S. N4). Und weiter: „Die Flut an Promotionen ist weniger problematisch als die mit dem Doktortitel verbundenen Erwartungen.“ Der Verfasser hat Recht, dass nicht jede Promotion dauerhaft in eine hauptberufliche wissenschaftliche Tätigkeit münden muss. Unsere Gesellschaft könnte in vielen Bereichen von promovierten Fachkräften profitieren. Allerdings beleuchtet Wagner nur die hochschulische Seite. Der Arbeitsmarkt muss sich auch aufnahmebereit zeigen. Höchstqualifikationen werden häufig gerade nicht als „individuell und gesamtgesellschaftlich erwünschte Investition“ gesehen: Promovierte Bewerber gelten allzuoft als zu alt, praxisfern, nicht berufsqualifizierend ausgebildet, eben überqualifiziert. Hier verschleudert unser Land Talente mit vollen Händen, was wir an anderen Stellen der Bildungsdebatte wortreich beklagen. Nicht zuletzt im öffentlichen und kirchlichen Dienst grassiert gerade zu eine Intellektuellenfeindlichkeit. Dabei könnte gerade der öffentliche Dienst mit gutem Beispiel vorangehen, etwa durch Anpassung von Altersgrenzen für promovierte Bewerber oder gezielte Vermittlungsangebote an Bewerber, die das Risiko einer befristeten Qualifikationsstelle eingegangen sind und dann wieder in den außeruniversitären Arbeitsmarkt zurückfinden wollen. Wo ständig von Kompetenzen geredet wird, sollten wir hochqualifizierten Absolventen und Experten ihres Faches auch zutrauen, sich in berufliche Arbeitsfelder einarbeiten zu können.

Jubiläum: 200 Jahre Wartburgfest

„Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!“

(aus Gottfried Kellers „Fähnlein der sieben Aufrechten“

Am 18. Oktober dieses Jahres jährte sich zum zweihundertsten Mal das Wartburgfest, seinerzeit abgehalten anlässlich des dreihundertjährigen Jubiläums der Reformation. Dieses burschenschaftliche Ereignis war das erste große bürgerliche Nationalfest und gab wichtige Anstöße für die deutsche Einigungsbewegung. So heißt es gleich zu Beginn der am 18. Oktober 1817 auf der Wartburg bei Eisenach verabschiedeten Grundsätze: „Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben.“ Die Beschlüsse von damals formulieren erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte zentrale Grundfreiheiten der Person, die sich später in den Verfassungen von 1848, 1918 und 1949 wiederfinden lassen.  Diese Grundsätze des Wartburgfestes haben nichts an Aktualität eingebüßt – im Gegenteil: Angesichts einer schleichenden Aushöhlung der Presse- und Meinungsfreiheit sind sie wieder deutlich aktuell.

Der folgende Beitrag über den christlichen Teil der burschenschaftlichen Bewegung wurde auf einem Gedenksymposium zum zweihundertjährigen Jubiläum des Wartburgfestes gehalten.

 

DIE CHRISTLICHE BURSCHENSCHAFT

„Was also ist das Ziel der akademisch-freien Universitätserziehung? Männer zu bilden, die geistig befähigt und sittlich würdig sind, auf unser deutsches christliches Volk einen bestimmenden Einfluß auszuüben. Darin ist […] die Ausrüstung für das besondere Fach schon mitbefaßt. Für dieses Ziel mitzuwirken wird also auch die Aufgabe derjenigen Verbindungen sein, welche ein Salz für das akademische Leben sein sollen.“ – so schrieb der Brandenburger Pfarrer Krummacher 1860 in den „Fliegenden Blättern“ des Rauhen Hauses, die sich durch Johann Hinrich Wicherns publizistisches Geschick zur wichtigsten sozialpolitischen Zeitschrift im deutschsprachigen Protestantismus des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hatten. Für Krummacher ist das Verbindungswesen mehr als „ein Spiel mit bunten Bändern und Mützen“. Er entwirft das Ideal einer Burschenschaft, die aufgrund ihrer christlichen Überzeugung Duell und Mensur ablehnt und von drei ernsten Grundsätzen getragen wird – und zwar: Wissenschaftlichkeit, Sittlichkeit und Vaterlandsliebe.

Krummachers Idee lieferte seinerzeit den Impuls zur Gründung der Burschenschaft Alemannia zu Leipzig. Im Gründungstagesbuch schrieb einer der Gründer, Gustav Hüfner: „Da geschah nicht lange nach Anfang des Wintersemesters 1860, daß Arthur Weber […], begeistert durch die Lektüre eines Aufsatzes aus den ‚Fliegenden Blättern‘ des ‚Rauhen Hauses‘ zu Hamburg […], am Freitag, dem 30. November 1860 einigen seiner Freunde, die zufällig bei ihm waren, jenen Aufsatz vorlas und hierdurch den ersten Anstoß gab, eine Vereinigung zu gründen, deren Ziel eine Veredelung des studentischen Lebens sein sollte.“ Durchaus dem damaligen Zeitgeschmack entsprechend, wandte man sich – so Hüfner in seinem weiteren Eintrag – gegen „banausisches Treiben“ auf der einen, „sterile Plattheit“ und „öden Indifferentismus“ auf der anderen Seite. Die neue Vereinigung sollte durch mehr zusammengehalten werden als „bloße Schulfreundschaft oder gar Landsmannschaft“.

Nur wenig später, am 3. Februar 1861, konstituierte sich dann die Leipziger Burschenschaft Alemannia formal als christliche Burschenschaft. Als deren Ziele legten die Gründungsstatuten fest: „Christlich-deutsche Gesinnung zu erstreben in Läuterung der religiösen Überzeugung und der patriotischen Gefühle. […] Reinheit des Charakters zu bewahren in Wort und That als Grundlage und Ziel des Freundschaftsbundes. […] Wissenschaftlichkeit, erzielt in Erfüllung des academischen Berufs.“ Die Entscheidung, welchen Prinzipien die neue Gemeinschaft folgen sollte, fiel auf einem Kneipabend am 15. Dezember 1860. Nach langen Auseinandersetzungen war man übereingekommen, dass „in dem Begriff Sittlichkeit noch nicht das positive christliche Element enthalten sei“. Am 17. Juni 1861 erhielt die frischgegründete Alemannia die ministerielle Erlaubnis, die Farben Schwarz-Rot-Gold zu tragen. Die Alemannia war die erste Studentenverbindung im Königreich Sachsen, die sich nach den Karlsbader Beschlüssen offiziell wieder zu diesen Farben bekennen konnte.

Im Folgenden soll weniger etwas zur historischen Entstehung und zur verwickelten Geschichte der christlichen Burschenschaft gesagt weden, sondern stärker auf deren kulturethische Ausrichtung eingegangen werden – mit einem Ausblick auf gegenwärtige Herausforderungen.

Kein dogmatisches Bekenntnis

Wir dürfen annehmen, dass in den Anfängen der burschenschaftlichen Bewegung der Gottesbezug als ein selbstverständliches Bekenntnis zu den christlichen Grundlagen deutscher Kultur übernommen wurde. Nicht umsonst war das Wartburgfest, an das wir heute erinnern, eine Lutherfeier. Auf Gott berief sich sowohl ein preußischer König wie Friedrich Wilhelm III. in der Verbindung von Thron und Altar als auch ein burschenschaftlicher Vordenker wie Ernst Moritz Arndt: „Dem Gott, der groß und wunderbar. / Aus langer Schande Nacht uns allen. / Im Flammenglanz erschienen war.“ Nach Aufklärung und Französischer Revolution stellte die Chiffre „Gott“ ein Gegenprogramm dar: ein zivilreligiöses Bekenntnis zum Eingreifen Gottes in der Geschichte. Erst im Zuge der Erweckungsbewegung trat die christlich-konfessionelle Komponente stärker hervor.

Mit der Bezeichnung „christliche Burschenschaft“ grenzte Hans Waitz in seiner „Geschichte des Wingolfsbundes“ die 1836 gegründete Erlanger Uttenruthia und die 1851 gegründete Burschenschaft Germania zu Göttingen von selbigem ab. Die Uttenruthia, als erste nichtschlagende Studentenverbindung in Deutschland gegründet, verstand das Christianum nicht im Sinne eines konfessionellen Bekenntnisses oder als konstitutives Element des Lebensbundes – so heißt es in der Stiftungsurkunde, „Trenkles Thesen“, vom 5. März 1836: „Es muss ein Kanon als Bedingung zur Aufnahme in unsere Gemeinschaft bestimmt und eine Grenze gezogen werden, um zu verhindern, dass in unserer Mitte sich nicht ein Niederschlag von allen möglichen, sonst nirgends brauchbaren Subjekten ansiedle, der ohne zu wissen, was wir wollen, und ohne auch nur im mindesten ein religiöses oder moralisches oder wissenschaftliches Interesse mit uns zu teilen, bloß des allenfalls anständigeren Kneipens willen zu uns sich hält. Der Kanon darf aber nichts spezifisch Christliches als notwendig in dem Aufzunehmenden vorhanden sein müssend voraussetzen, sondern nur negativ gefasst sein.“ Es geht um eine Bereitschaft, sich mit dem Christentum und seiner ethischen Botschaft auseinander zu setzen: „Überall, wo kein Widerstreit gegen die Wahrheit, kein spöttisches oder mitleidiges Belächeln der innersten und heiligsten Angelegenheiten jedes Einzelnen vorhanden ist, soll der Zutritt zu unserer Freundschaft offen stehen. Es sollen die Strebenden und Suchenden hier einen Anschließungspunkt und Förderung ihres Strebens finden können.“

Im Rahmen des Richtigen können verschiedene religiöse Bekenntnisse nebeneinander stehen. Der Einzelne bleibt aber herausgefordert, zwischen ihnen eine subjektive Entscheidung zu treffen. In den Thesen Christoph Ernst Luthardts, angenommen von der Uttenruthia am 30. Juli 1853, die im Verbindungsbrauch jeweils theologisch zeitgenössisch neu interpretiert worden sind, liest sich dies folgendermaßen: „Wohl wissend, daß die Zeit des studentischen Lebens, die der Entwicklung und werdenden Entscheidung ist, verlangt die Verbindung von dem Neueinzutretenden nicht ein bestimmtes dogmatisches Bekenntnis außerdem, daß er ein christlicher Student sein wolle; und nicht eine gewisse Stufe der Christlichkeit, sondern nur ernstes und gewissenhaftes Ringen und Streben. Wo sie dieses sieht, glaubt sie auch an die Zukunft. Überhaupt hält sie sich an das Wort des Herren: Wer nicht wider mich ist, ist für mich; fordert das Erste und glaubt das Zweite.“

Die Uttenruthia übernahm aus dem Erlanger Burschenbrauch von 1817 den Wahlspruch „Frisch, fromm, froh, frei!“, lehnte aber die Bezeichnung als „Burschenschaft“ für sich ab. Günter W. Zwanzig verweist in seiner Darstellung zur Frühgeschichte des Schwarzburgbundes auf einen Brief Luthardts an den Erlanger Professor Karl von Raumer, „in dem er das Primat des Christlichen damit begründet, dass für jeden seine Nationalität und Konfession geschichtlich gegeben sei“, weshalb das Bekenntnis in der Verbindung so formuliert werden sollte, dass auch ein katholischer Christ oder ein französischer christlicher Student dieses unterschreiben könne. Zwanzig wertet die aktuellen Grundsätze des Schwarzburgbundes vom 3. Juni 2006 so, dass hier ein „Heimatprinzip“ im Vordergrund stehe – so seine Lesart von Artikel 5, in dem es heißt: „Das Bekenntnis zum Vaterland findet im Schwarzburgbund seinen Ausdruck in der Liebe zu unserer Heimat, in der Pflege unserer Kultur und Sprache und insbesondere im Einstehen für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung im Rahmen eines vereinten Europa.“

Pflege eines christlich-burschenschaftlichen Wertekanons

Im Jahre 1836, dem Gründungsjahr der Uttenruthia, begründete Theodor Fliedner in Kaiserswerth eine Diakonissenanstalt. Das Ereignis steht stellvertretend für die Begründung einer organisierten Diakonie als christliche Antwort auf die soziale Frage des neunzehnten Jahrhunderts. Viele Mitglieder des Schwarzburgbundes und der christlich-burschenschaftlichen Bewegung waren hieran beteiligt. Dies gilt auch für die Göttinger Germania, die sich am 9. August 1851 offiziell als „christlich deutsche Burschenschaft“ gründete. In Göttingen hatte sich unter Leitung des Theologieprofessors Friedrich Ehrenfeuchter, der 1849 auf eine ordentliche Professur für die sich damals neu formierende Praktische Theologie berufen wurde, ein Verein für innere Mission gebildet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Vereinsmitglieder sollte auch der Burschenschaft Germania beitreten.

Deren Gründer, sechs Göttinger Studenten, waren während der vorbereitenden Beratungen über eine Satzung am 5. Dezember 1850 darin übereingekommen, Duell und Mensur „niemals zuzulassen“. Als Ziel formulierten sie die „Wiedervereinigung des deutschen Volkes zu einem Träger christlichen Sinnes und damit mittelbar die Aufgabe der Herstellung der deutschen Kirche, des deutschen Reiches, deutscher Wissenschaft und Kunst durch den christlichen Geist“. Von den Mitgliedern verlangte man ein ehrliches Wollen, keine Festlegung auf ein irgendwie dogmatisch gefasstes Christentum. Diese Haltung führte 1866 schließlich zum Abbruch des Kartells mit dem Wingolfsbund, das man ein Jahr nach der Gründung – 1852 – eingegangen war.

1862 schlossen die Göttinger Germania und die eingangs genannte Leipziger Burschenschaft Alemannia ein Kartell als vertragliche Grundlage ihres Freundschaftsverhältnisses. Auch wenn das Kartell bereits 1866 formal abgebrochen wurde, als die Alemannia stark zusammengeschmolzen war, besteht das besondere Freundschaftsverhältnis mit wechselnder Intensität bis heute: „Das Bündnis verstand und versteht sich […] als Wahrer eines christlich-burschenschaftlichen Wertekanons, der sich direkt auf die Urburschenschaft bezieht und mit seiner besonderen Prägung eine spezifische Strömung in der burschenschaftlichen Bewegung darstellt.“ – so in einem Festbeitrag zum hundertfünfzigjährigen Jubiläum des Kartellabschlusses. Ähnliches gilt für die Burschenschaft Rheno-Germania zu Bonn von 1860 bzw. 1904, die seit ihrer Stiftung bis heute ebenfalls sowohl mit Germania als auch Alemannia in freundschaftlichem Verkehr steht, mit der letztgenannten seit 2000 vereint im Cartell Christlicher Burschenschaften.

Die Burschenschaft Germania war am 19. Mai 1860 in Bonn von ausgetretenen Wingolfiten gegründet worden. Während die übrigen Wingolfsverbindungen der Bonner Germania reserviert gegenüber standen, bemühte sich die Göttinger Germania um ein freundschaftliches Verhältnis, das 1861 offiziell wurde. Der Erlanger Vorort des Wingolf bekundete schriftlich sein Missfallen – dieser Umstand begünstigte es, dass die Kontaktaufnahme der Leipziger Alemannen in Göttingen auf fruchtbaren Boden fiel. Letztlich blieb das Drängen des Wingolf, sich von der Alemannia zu lösen, ohne Erfolg. Im Sommersemester 1863 kam es stattdessen zur Gründung eines Fünfbundes zwischen fünf christlichen Verbindungen außerhalb des Wingolf: Uttenruthia Erlangen, Tuiskonia Halle, Germania Bonn, Alemannia Leipzig und Germania Göttingen. Ulrich Bahrs urteilte 1900: „Hätte damals die Göttinger Germania ihr Verhältnis zum Wingolf gelöst, so wäre wohl sicher ein ansehnlicher Bund zustande gekommen […] Diesen Schritt wollte aber die Germania nicht thun, ihres alten idealen Großbundesgedankens willen.“ Ein solcher entstand erst 1887 als Schwarzburgbund im thüringischen Schwarzburg. Die Göttinger Germania trat diesem erst 1893 bei – nicht zuletzt, um der Gründung einer eigenen christlichen SB-Verbindung in Göttingen, das damals bloß 715 Studenten zählte, zuvorzukommen: „Gemeinsam war die christliche Grundlage des Verbindungslebens. Unterschiedlich dagegen war die Auffassung des vaterländischen Prinzips“. Dieses war in der Göttinger Germania stark durch Ernst Moritz Arndts Verbindung von Christentum und Deutschtum geprägt.

Gegenwärtige Herausforderungen an eine christliche Identität

Heute stellt sich die Frage, wie dieses Erbe in einer zunehmend pluraler gewordenen Gesellschaft verstanden und bewahrt werden kann. Dabei geht es nicht um ein konfessionelles Bekenntnis. Die christliche Identität besitzt für unser Gemeinwesen eine weitergehende kulturethische Bedeutung: für Politik und Kultur, für Bildung und Wissenschaft, für unser Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Nicht zuletzt die Trennung von religiöser und politischer Sphäre – nach der unnachahmlichen Formel: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ – bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten wäre bedroht, und damit ein wichtiges Moment, das sich in der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte äußerst produktiv ausgewirkt hat. Ob wir diese Tradition angesichts der demographischen Entwicklung, säkularer Tendenzen auf der einen und vermehrter Einwanderung auf der anderen Seite bewahren können, ist auf längere Sicht keineswegs ausgemacht. Wir sollten uns des erreichten Besitzstandes an kulturellen Selbstverständlichkeiten nicht allzu sicher sein: Verdunsten christlicher Erlösungsglaube und christlich-religiöse Praxis in unserem Land, wird über kurz oder lang auch das kulturethische Fundament unserer christlich-sozialethischen Orientierungswerte brüchig werden.

Die für die Moderne geltende Autonomie der Bildung setzt eine eigene religiöse Praxis nicht zwingend voraus, das zeigt das Selbstverständnis der christlichen Burschenschaften. Gleichwohl wird von umfassender Persönlichkeitsbildung nur dann gesprochen werden können, wenn der Einzelne in der Lage ist, sich selbst und die Welt um sich mit Bezug auf religiöse Sprachformen wahrzunehmen und zu werten. Religiöse Lernprozesse bleiben unverzichtbarer Bestandteil des allgemeinen Bildungsauftrags – nicht im Sinne religiöser Rede, sondern im Blick auf die Befähigung zum Reden über Religion. Wer Religion nicht versteht, erfährt diese als etwas Bedrohliches und gerät in den Zwang, sie politisch zähmen, einhegen oder sogar neutralisieren zu müssen. An dieser Stelle haben christliche Burschenschaften, verstanden als akademische Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, einen entscheidenden Bildungsauftrag gegenüber ihren Mitgliedern. Leider sind Wissenschaftliche Abende ad Christianum in den Semesterprogrammen keine Selbstverständlichkeit mehr.

Die religiöse Entscheidung bleibt Sache des einzelnen Bundesbruders. Die Gemeinschaft unterstützt die freie geistige Auseinandersetzung des Einzelnen, im Ringen um die höchsten Ziele und Inhalte des Lebens. Doch wird ein Verständnis für religiöse Phänomene und ein gereiftes Urteil im Hinblick auf religiöse Fragestellungen auf Dauer nur dann erhalten bleiben, wenn zumindest ansatzweise der Kontakt mit gelebter Religion, mit religiösen Überzeugungen und Gewissheiten erhalten bleibt – ob man diese nun persönlich teilt oder nicht. Eine Ethosbildung, die bewusst von Formen gelebter Religion und Sittlichkeit abstrahieren wollte, würde auf Dauer an motivationsbildender Kraft verlieren. Daher ist es meines Erachtens auch kein Widerspruch, wenn beispielsweise eine christliche Burschenschaft als nichtkonfessioneller Bund wie in Bamberg seit einigen Jahren an der Großen Fronleichnamsprozession teilnimmt. Religiöses Bekenntnis, Selbstvergewisserung über die eigene Identität im gemeinsamen Zusammenleben der Stadt sowie die kulturethische Pflege der eigenen Tradition sind in Bamberg an einem Tag wie Fronleichnam sicher nicht zu trennen. Und diese Elemente werden auch im Raum einer christlichen Burschenschaft nicht künstlich zu trennen sein.

Die Pflege jener kulturethischen Bedeutung des Christentums, auf dem unser Gemeinwesen aufruht, kann nicht davon absehen, dass dieses Christentum immer nur in konfessioneller Ausprägung zu haben ist. Heute geht es weniger darum, freiheitsbedrohende Übergriffe der Kirche abzuwehren, als vielmehr darum, Freiheitseinschränkungen durch einen übergriffig werdenden Säkularismus zu verhindern. Das Gleichgewicht zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit gerät nicht selten zu Lasten der ersteren ins Trudeln. Oder allzu schnell wird Toleranz in religiösen Dingen mit einer Privatisierung von Religion gleichgesetzt, in deren Zuge Religion als potentieller Störfaktor nach Möglichkeit aus dem öffentlichen Leben herausgedrängt wird.

Akademische Bildungsgemeinschaften sollten den Einzelnen befähigen, seine Freiheit im Denken und Handeln zu differenzieren und verantwortlich einzusetzen. Hinter dieser Bildungsaufgabe steht ein durchaus postsäkulares Programm, wie der Medienwissenschaftler Norbert Bolz betont – ein Schlussgedanke, der vielleicht gar nicht so schlecht zum zweihundertjährigen Jubiläum des Wartburgfestes passt: Denn „der freie Geist verletzt nicht nur das Tabu der Exzellenz, sondern auch das Tabu der Transzendenz. Sein Mut zur Wahrheit sprengt den Funktionalismus, die ausweglose Immanenz der sozialen Systeme. Und wenn man sieht, wie die ‚Weltgesellschaft‘ jedes Wort des Widerstands, jede Geste des Protests mühelos ins eigene Funktionieren einbaut, muss man zu dem Schluss kommen: Transzendenz ist heute der einzige subversive Begriff. Die konkrete Utopie jedes Außenseiters ist der systematische Paradigmenwechsel. Der freie Geist jedoch zielt auf die Metanoia des Einzelnen. Kehre um, du musst dein Leben ändern – oder doch wenigstens: dein Denken.“

 

 

Neuerscheinung: Sozialethik und Staat

Auch innerhalb der Christlichen Sozialethik finden Nachwahlbetrachtungen statt:

„Die abgestürzten C-Parteien fragen sich: Wie konnte trotz der kirchlichen Wahlhilfe fast eine Million ihrer bisherigen Wähler zur AfD überlaufen? Hunderttausende liefen der SPD und anderen Parteien davon, um aus Protest eine Alternative als Korrektiv zu wählen: Nicht als Alternative zum demokratisch-parlamentarischen System, sondern als systemkonforme Opposition zur Korrektur einer Politik, die von vielen Demokraten als verderblich beurteilt wird. […] Ob die Kirchen staatstragend sind oder im Sinne der C-Parteien sein sollten? […] Nach letzten, nicht allerletzten Umfragen von Allensbach vertrauen die Deutschen den Kirchen nur noch zu 36 Prozent, der Polizei dagegen zu 73 Prozent. Na und? Die klassischen Volkskirchen und Volksparteien verschwinden, weil sie das Volk nicht mehr erfassen können. Das sind die einfachen Leute, die sich nun politisch und religiös bemerkbar machen. Auch wenn sie von den politischen und theologischen Eliten nicht ernstgenommen werden.“ –

so P. Professor Dr. Wolfgang Ockenfels vom Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg im Editorial der aktuellen Ausgabe der „Neuen Ordnung“.

Privatdozent Dr. Axel Bernd Kunze (Universität Bonn) fragt in derselben Ausgabe in einem Beitrag:

„Ist mit der christlichen Sozialethik noch ein Staat zu machen?“

Der Beitrag skizziert eingangs, wie sich innerhalb der neueren Sozialethik bereits seit längerem eine schleichende Abkehr vom Nationalstaat abzeichnet. Diese kulminiert in der gegenwärtigen Migrations- und Integrationsdebatte in kosmopolitischen Forderungen nach einer Weltinnenpolitik. Die häufig übersehenen Kosten dieser Entwicklung zeigen sich als erzwungene Gleichheit im öffentlichen Diskurs, schwindendes Vertrauen im Zusammenleben und ein Aufweichen wirksamer Verantwortung und demokratischer Transparenz. Abschließend wird herausgearbeitet, warum die Rechtsfunktion des Staates auch weiterhin unverzichtbar bleibt. Gegenwärtig gerät diese durch eine Vernachlässigung demokratischer und rechtlicher Institutionen und eine Moralisierung des Rechts in Gefahr.

Axel Bernd Kunze: Ist mit der christlichen Sozialethik noch ein Staat zu machen? Überlegungen zur notwendigen Rechtsfunktion des Staates, in: Die neue Ordnung 71 (2017), Heft 5, S. 352 – 365.

Onlinefassung: http://web.tuomi-media.de/dno2/Dateien/NO517-5.pdf

 

Noch Raum für Bildung? – eine Stiftungsfestrede

Gegenwärtig vollziehen sich gewaltige Umbrüche im Bildungssystem, deren Tragweite nicht überall hinreichend wahrgenommen wird, so mein Eindruck. Dies gilt auch für die Welt der Korporationen. Von den Veränderungen in unseren Bildungseinrichtungen und in der Bildungskultur unseres Landes werden jedoch auch sie nicht ausgenommen sein. Denn eines eint die Vielfalt an Korporationen – auch wenn sich die verschiedenen Bünde in Form, Aufnahmekriterien und Selbstverständnis mehr oder weniger deutlich unterscheiden: Sie begleiten junge Menschen – im Rahmen des Lebensbundes – in entscheidenden Jahren ihrer Bildungsbiographie und halten den Bezug zum Hochschulstandort ein Leben lang lebendig. Zwar sind Korporationen keine bildungs-, schon gar nicht parteipolitische Akteure, ihr Auftrag ist ein anderer – doch tragen sie Verantwortung, eine durch Bildung substantiell bestimmte Lebensform im Rahmen des Lebensbundes zu fördern und auch gesellschaftlich ein bildungsbezogenes Ethos lebendig zu erhalten. Die Korporationen sollten daher die aktuellen Veränderungen im Bildungssystem wachsam wahrnehmen und aktiv begleiten. Ich möchte im Folgenden vor allem die Veränderungen im Zuge der neuen kompetenzorientierten Steuerung des Bildungswesens in den Blick nehmen – und zunächst fragen:

1. Noch Raum für Bildung?

Beginnen will ich mit zwei Stimmen, die gleichsam zweihundert Jahre deutscher Bildungsgeschichte rahmen – zum Ersten: „Überhaupt bin ich […] der Meinung, dass für die Freiheit, welche akademische Freiheit heißt, fast gar keine Gesetze gegeben werden müssen, sondern dass die Jugend, welche bestimmt ist, einmal die Geister zu führen, durch das freieste Gesetz der Meinung und dadurch der freiesten Meister, durch den Geist beherrscht werden muss. […] Ja, wir müssen es aller Welt sagen, dass unsere Universitäten, dass die akademische Freiheit und der akademische Geist, der wie ein frischer Samen der Tugend und Ehre über das ganze Vaterland ausgesät wurde, unser Vaterland von Sklaverei errettet habe.“ [1] Es sei mir gestattet, dass ich als Burschenschafter mit einem Blick auf die Befreiungskriege beginne und dabei Ernst Moritz Arndt zu Wort kommen lasse. Arndt, dessen Bildungslehre wenig rezipiert wurde, unterscheidet noch nicht systematisch zwischen Allgemein- und Fachbildung. Doch ist die Reihenfolge für ihn klar: „Nur im Amtskleide, nur im Amts- und Berufsgeschäfte müßte man den Bürger sehen, weil er da gilt, bei allen anderen Dingen sollte der Mensch immer vorscheinen, das Große vor dem Kleinen.“ [2] Arndt fragt nicht, was der Einzelne im Detail an Kenntnissen und Fertigkeiten für seinen Beruf braucht. Der gebildete Mensch werde sich leicht, mit geschärftem Sinn und mit eigenem Urteil in die Bürgerpflichten einfinden. In der Studentenzeit – so Arndt – werde „eine neue akademische Ritterlichkeit in Tat und Gesinnung“ [3] geschaffen.

Machen wir nun einen Zeitsprung: „Philosophie ist das einsame und freie Denken. Aber sie war natürlich immer auch schon institutionalisiert, eingebettet in Paradigmen, gebunden an Denkstile. Heute präsentiert sie sich zumeist universitär, d. h. als Sache von Beamten und ein Department der Wissenschaften. Dazu passt die antiphilosophische Signatur unserer Bildungsanstalten, die gar nicht mehr bilden, sondern unterweisen wollen. Studienpläne sanieren den Geist und bringen das Denken in Stromlinienform. Gerade an Universitäten bekommt man den Eindruck, dass Philosophie genau das ist, was die europäischen Strategen der Bildungsproduktion als Flausen aus den Köpfen der Studenten auszutreiben versuchen.“ [4] Es ist der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz, der hier ein hartes Urteil über die gegenwärtige Universität fällt. Aus der Selbstverwaltung sei Bürokratie, aus der Freiheit akademischer Bildung eine verschulte Berufsausbildung geworden. Gewinner seien dabei jene „Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen. Verklärt werde das Ganze durch die konsumistische Rhetorik vom Studenten als Kunden“ [5]. Der Professor sei nicht mehr ein Geist, der in Einsamkeit und Freiheit seinen Anteil zur Selbstaufklärung der Menschheit durch Wissenschaft und zur schöpferischen Aneignung von Kultur beitrage – und seine Studenten an der dahinterstehenden Bildungsidee gleichberechtigt teilhaben lasse. Aus dem Professor sei ein Hochschullehrer geworden, der beständige Kooperation als soziale Tugend betrachte und selbst die eigenen Gesten akademischer Nonkonformität noch widerspruchslos in eigenes Funktionieren übersetze. – Warum aber können wir auf den Begriff der Bildung nicht verzichten?

Der Mensch ist weder durch seine Natur noch die sozialen Einflüsse eindeutig festgelegt. [6] Soll er nicht zum Objekt fremder Zwecke oder Interessen werden, muss er sich selbst zu dem machen, der er in den Grenzen der Natur und des Rechts sein will – er muss sich selbst bestimmen: ein Vorgang, der als Bildung bezeichnet wird. Der Mensch bedarf der Bildung, wenn er sich als Subjekt entfalten und zum realen Freiheitsgebrauch fähig werden will. Nicht zufällig entsteht Bildung als pädagogischer Begriff mit der Aufklärung – also zu Beginn der neuzeitlichen, bürgerlichen Gesellschaft, die nicht mehr durch eine gesamtteleologische Weltdeutung zusammengehalten wird. Der Einzelne muss nun befähigt werden, die Kultur seiner eigenen Persönlichkeit aus eigener Vernunft gültig zu bestimmen und zu leben. Will er nicht einfach das tun, was alle tun oder andere von ihm erwarten, muss er lernen, die Vielfalt des Wissens und die verschiedenen Sichtweisen auf die Welt zu sichten, zu ordnen und zu bewerten. Damit ist die Aufgabe der Bildung benannt – und zugleich jenes Moment, das nach dem Verlust einer einheitlichen Weltdeutung weiterhin die Einheit der pädagogischen Praxis garantiert. Die neuhumanistische Bildungstradition, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in enger Verzahnung mit dem staatsphilosophischen Diskurs entstanden war, ist nicht das Schlechteste, was unsere deutsche Geschichte zu bieten hat.

Inzwischen ist ihr wichtigster Vertreter, Wilhelm von Humboldt, bereits mehrfach für tot erklärt worden; angelsächsisch inspirierte Konzepte dominieren die neue Weltgesellschaft der Bildung. Für das deutsche Bildungssystem geht damit eine zweihundert Jahre bestimmende Tradition zu Ende. Öffentlichkeitswirksamer als Bolz hat dies der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, im Frühjahr dieses Jahres auf die Formel zugespitzt: „Bildung statt Bologna!“ In seinem gleichnamigen Buch schreibt er: „Dabei war doch […] in den Hochglanzbroschüren von ‚Employability‘ die Rede gewesen. Aber nicht einmal diese scheint gegeben zu sein – von allgemeiner Menschenbildung ganz zu schweigen. Es ist nicht verwunderlich, weil die Kategorie der Beschäftigungsfähigkeit außer in Leerformeln auch nicht operationalisierbar ist. Auch das hilflose Gerede von ‚ProbIemlösefähigkeit‘ oder ‚Teamfähigkeit‘ führt nicht weiter, weil gar keine Messoperation für diese Kompetenzen denkbar ist. Es ist das Leben, welches erweist, ob jemand in den allfälligen Drucksituationen des Berufs auf die Möglichkeit der Zusammenarbeit zurückgreift oder überhaupt zurückgreifen kann […]. […] Wir haben das Hochschulsystem einer kulturellen Transformation unterworfen, deren Folgen wir erst später zu spüren bekommen.“ [7]

Unser Bildungssystem hat in den vergangenen Jahren ein neues Gesicht bekommen, heißen die Reforminstrumente PISA, Bologna, Lissabon oder Kopenhagen. Nicht alle Umbrüche liegen dabei so offen zu Tage wie die Abschaffung des Diploms oder die Modularisierung des Studiums. Weniger auffällig und von vielen nicht hinreichend ernstgenommen, haben Veränderungen im Bildungsverständnis in Schule und Hochschule Raum gegriffen, die gesellschaftlich nicht folgenlos bleiben werden. Zwar ist der schon oft totgesagte Bildungsbegriff seit der ersten PISA-Studie vor nicht ganz fünfzehn Jahren bildungspolitisch in aller Munde; die Hauptrolle in Unterricht und Lehre spielen heute aber „Kompetenzen“.

2. Der Paradigmenwechsel von Bildung zu Kompetenzen

Die Curricula – in Schule wie Hochschule – werden heute nicht mehr lernziel-, sondern kompetenzorientiert formuliert. Frühere Lernzielformulierungen waren inputorientiert angelegt, gingen also von Inhalten und Methoden aus, mit denen ein bestimmtes Ziel erreicht werden sollte. Heute wird outputorientiert beschrieben, was der Schüler oder der Student am Ende können soll; der Weg dahin ist zunächst einmal unerheblich. Es geht nicht um Einzelziele, sondern um die koordinierte Anwendung von Einzelleistungen.

Allgemein durchgesetzt hat sich die aus der Psychologie stammende Kompetenzdefinition Weinerts (sie liegt auch der aktuellen Bildungsplanreform in Baden-Württemberg zugrunde): Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ [8] Drei Folgen des neuen Kompetenzparadigmas sollen näher aufgezeigt werden.

2.1 Kompetenzorientierte Prüfungen und Abschlüsse

Neben dem Unterricht ist nicht zuletzt das Prüfungswesen betroffen. Nicht mehr Wissen oder Inhalte, sondern das Können des Einzelnen soll abgeprüft werden. Lehrer und Prüfer müssen nicht mehr identisch sein. Ob der Student eine bestimmte Kompetenz besitzt oder nicht, sollte unabhängig vom konkreten Inhalt der Lehrveranstaltung feststellbar sein – zumindest der Theorie nach. Die Lehrerpersönlichkeit verliert an Bedeutung, der Hochschullehrer wird zur politischen Manövriermasse.

In der Praxis zeigt sich, dass kompetenzorientierte Prüfungen kaum möglich sind – auch wenn viele Fakultäten und Hochschulleitungen sich gern damit brüsten. In der Praxis zeigt sich schnell, dass Fähigkeiten nur in Wechselwirkung mit Inhalten vermittelt sowie allein hypothetisch oder wirklichkeitsanalog überprüft werden können. Ein Student der Ingenieurwissenschaft wird sich stets mit dem Motor eines Autos oder eines Flugzeugs beschäftigen, nicht mit dem „Motor“ an sich. Politisch werden hier Dinge festgeschrieben, die sich didaktisch kaum realisieren lassen. Reformchaos ist vorprogrammiert. Der Zwiespalt wird dadurch gelöst, dass zunehmend materialbasiert geprüft wird. Die Lernenden sollen formale Kompetenzen erwerben, die dazu befähigen, Inhalte aus einem Materialanhang zu reorganisieren. Hans-Peter Klein, Mitbegründer der kompetenzkritischen Gesellschaft für Bildung und Wissen, hat in Studien gezeigt, dass materialbasierte Abiturprüfungen mitunter schon von Neuntklässlern gelöst werden können.

Erst vor zwei Wochen griffen zwei Sonntagszeitungen – die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ und die „Welt am Sonntag“ – das Thema auf und verschafften der Debatte um die Zukunft des Abiturs vermehrt Aufmerksamkeit. „Und plötzlich ist der Olli schlau“ titelte die F.A.Z. am Sonntag, „Abitur für alle!“ die „Welt am Sonntag“. [9] Beide Beiträge verweisen auf eine Studie des genannten Frankfurter Biologiedidaktikers Hans-Peter Klein. Dieser hatte kürzlich Abituraufgaben aus dem Bereich Ökologie miteinander verglichen, das eine Mal von 2005, das andere Mal von 2010. „Der neue Abiturient“, so Klein, „begibt sich in den von ihm zu bearbeitenden Aufgabenstellungen auf eine Art Ostereiersuche, in dem nahezu alle Antworten aus dem vielfältigen Text- und Grafikmaterial zu entnehmen sind. Lesekompetenz ist gefragt. Fachwissen ist Schnee von gestern.“ [10] Alles und jedes wird zur „Kompetenz“: Punkte gibt es bereits für die Formulierung in ganzen Sätzen oder die ordentliche Präsentation eines Ergebnisses.

Eine Geschichtslehrerin aus Nordrhein-Westfalen beschreibt, wie sich die Anforderungen materialbasierter, anwendungsorientierter Prüfungsaufgaben verändert haben. Ein solcher Materialanhang könne im Fach Geschichte auch eine Karikatur sein. Bewertet werde die Klausur dann folgendermaßen: „Allein für die Erkenntnis, dass es sich um eine Karikatur handele, für die Beschreibung des Bildes, die Nennung des Zeichners und die Nennung des Erscheinungsdatums, die beide unter dem Bild stehen, erhalte ein Schüler schon 26 von hundert möglichen Punkten. Wenn er dann noch in korrektem Deutsch formuliere, erhalte er nochmals bis zu zwanzig Punkte – und habe damit mindestens eine Vier, selbst wenn die eigentliche analytische Leistung null war.“ [11] Ohne Folgen bleibt das nicht: Bundesweit ist der Anteil derjenigen, die ihr Abitur mit 1,0 abschließen konnten, von 2006 bis 2012 um vierzig Prozent gestiegen. Die OECD freut es.

Letztlich sei es unerheblich, wie Kompetenzanhänger mitunter behaupten, ob beispielsweise Textverständnis an einem Roman oder einer Bedienungsanleitung erworben werde. Ich habe das beim Abschlusskongress eines DFG-Projektes zum „Recht auf Bildung“ selbst erlebt. Dass ein literarisches Erlebnis persönlichkeitsbildende oder charakterformende Kraft besitzt, spielte für den führenden Bildungsforscher auf dem Podium keine Rolle. Hauptsache der Schüler oder Student kann eine Aufgabe funktional lösen. Die schon zitierte „Problemlösekompetenz“ ist das neue Zauberwort.

Die Tarifparteien des Öffentlichen Dienstes der Länder haben in einer Protokollerklärung ausdrücklich festgehalten, dass der Bachelor kein wissenschaftlicher Hochschulabschluss sei. Die Angleichung des Bachelorabschlusses an Abschlüsse einer Vollzeitberufsschule zeigt sich nicht allein im Tarifgefüge, sondern auch im Deutschen Qualifikationsrahmen. Dieser stellt für Stufe 6, den Bachelor oder die Fachschule, Kompetenzniveau II, die Reorganisation des Wissens, in den Vordergrund. Die anderen Niveaustufen I (Reproduktion) und III (Transfer) sind lediglich angemessen zu berücksichtigen. Vorrangig geht es um die Lösung vorgegebener Probleme. Man kann es auch anders sagen: Aus dem gestaltenden, selbstbestimmten Subjekt wird ein Lerner, der „funktioniert“. Bildung, also bezogen auf das mündige Subjekt, geht es jedoch darum, dass der Lernende sich die Probleme selber stellt. Im Bildungsprozess lernt das Subjekt, selbständig sachliche und sittliche Geltungsansprüche zu setzen.

Der Kopenhagenprozess geht davon aus, dass ein bestimmtes Kompetenzniveau auf zwei verschiedenen Wegen methodisch erreichbar sei: akademisch oder berufsbildend. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Wissensformen, einmal hermeneutisch-reflexiv, das andere Mal handlungsorientiert, wird politisch ignoriert. Die Grenzen zwischen Berufs- und Hochschule verschwimmen. Die Kompetenzen, die durch Abschlüsse an Fach-, Meister- oder Technikerschulen erworben werden, sind denen des universitären Bachelors gleichgestellt. Aufstiegskammerprüfungen nennen sich „Bachelor professional“, mitunter können Bachelorabschlüsse – in Kooperation mit Hochschulen – auch direkt an beruflichen Schulen erworben werden. Nahezu folgerichtig hat Bundesbildungsministerin Wanka, selber Hochschullehrerin, im Februar 2014 angekündigt, die Universitäten zunehmend für Nichtabiturienten zu öffnen.

2.2 Steuerung habitueller Dispositionen

Mit der Umstellung auf Kompetenz ist ein weiterer, nicht unbedeutender Umbruch vonstattengegangen: Gesteuert werden, wie Weinerts Kompetenzdefinition deutlich macht, nicht nur Kenntnisse oder Fähigkeiten, sondern auch Einstellungen und Haltungen. Die Kontroverse um die Bildungsplanreform 2015/16 in Baden-Württemberg hat gezeigt, welcher Sprengsatz hier verborgen liegt. Das eigentliche Problem ist keinesfalls der Umgang mit „sexueller Vielfalt“ in der Schule – sondern ein pädagogisches: Die vorliegenden Bildungsplanentwürfe versuchen an vielen Stellen sehr weitreichend, auf die persönlichen Einstellungen und Überzeugungen der Lernenden durchzugreifen. Ein Unterricht aber, der versucht, die künftige Persönlichkeit des Schülers bereits vorwegzunehmen, verletzt dessen Personwürde.

Dies geschieht überall dort, wo die Einstellung des Einzelnen dem Gelernten gegenüber zu einer operationalisierbaren, steuerbaren und von außen überprüfbaren Größe werden soll – dies meint schließlich Kompetenz. Der Schüler soll die Unterrichtsanforderungen nicht nur gut, sondern auch noch gern erfüllen – und zwar nicht „irgendwie“: Der Umgang mit dem Unterrichtsstoff soll „offen“, „neugierig“ oder „interessiert“ erfolgen. So heißt es im Entwurf für das Fach Geschichte in der Orientierungsstufe: [12] „Schülerinnen und Schüler haben ein Interesse an den Arbeitsweisen des Faches Geschichte“ – oder: „Schülerinnen und Schüler sind neugierig auf Unbekanntes, Fremdes, Vergangenes.“ – oder: „Die Schülerinnen und Schüler haben Interesse an anderen Kulturen und deren historischen Wurzeln in Gegenwart und Vergangenheit und setzen sich sowohl tolerant als auch kritisch mit ihnen auseinander (Alterität, Vielfalt der Einen Welt).“ Die Deutung des Gelernten wird nicht mehr dem denkenden Nachvollzug des Schülers überantwortet, sondern vom Bildungsplan bereits vorab festgelegt: Die faktische Vielfalt an Kulturen, die in der Beschäftigung mit historischen Fragen deutlich wird, wird auf eine ganz bestimmte Deutung zugeschnitten und soll ausdrücklich als „Vielfalt der Einen Welt“ betrachtet werden.

Zahllose weitere Beispiele ließen sich finden. Heike Schmoll hat in einem Leitartikel allein für die fünfte und sechste Klasse zweihundertzwei Einstellungen gezählt, die vom Bildungsplan vorgegeben werden. Für die Bildungsjournalistin der F.A.Z. handelt es sich dann auch um einen „Gesinnungslehrplan“. [13] Schule darf und muss bestimmte fachliche Leistungen abprüfen. Die Persönlichkeit des Schülers – seine Einstellungen, Interessen, seine Bereitschaft oder seine Motivation – spielen im erzieherischen Umgang eine Rolle, müssen aber unverfügbar bleiben und dürfen nicht zum Gegenstand schulischer Leistungsmessung werden – zumal erzwungene, durch Noten sanktionierte Werturteile moralisch von vornherein wertlos sind. Ein Unterricht, der die Schüler nicht zur denkenden Auseinandersetzung und zum eigenständigen Werten anregen will, überwältigt, manipuliert oder indoktriniert. Am Ende stünden nicht Schüler, die vermeintlich „richtig“ denken, sondern Demokraten, die es überhaupt verlernt haben, selbständig zu denken.

2.3 Anwendungsorientierung

Kompetenzen sind anwendungsbezogen und immer vom Lernenden aus zu formulieren. In der Hochschule gewinnen Kompetenzen neuerdings Gestalt in sogenannten Modulhandbüchern. Im Bemühen, alle berufsrelevanten Wissensbestände eins zu eins abzubilden, geraten diese nicht selten zu enggefassten Katalogen, die didaktisch wenig Freiraum lassen. Es gibt weiterhin sehr engagierte Hochschullehrer, keine Frage. Zu beobachten ist aber auch, dass trotz gegenteiliger politischer Rhetorik die Lehre durch die aktuellen Studienreformen nicht zwingend gestärkt wird. Reputation und Berufszufriedenheit ziehen viele Hochschullehrer aus der Forschung – und dies umso mehr, je weiter sich die Lehre vom akademischen Anspruch der Universität entfernt. Der Student bekommt am Ende austauschbare Massenware, hinter der die einzelne Forscherpersönlichkeit immer weniger sichtbar wird.

Berufsqualifizierende Inhalte werden leichthin als gegeben vermittelt, aber nicht mehr auf ihre Geltung hin befragt. Der eigenständige Vergleich unterschiedlicher Theorien fällt aus, wo die zu vermittelnden Inhalte eng auf aktuelle Anforderungen – nicht selten auch Moden – zugeschnitten werden. Mein eigenes Fach – die Lehrerausbildung – gehört zu jenen Disziplinen, die unter PISA und Bologna deutlich berufsqualifizierende Züge angenommen haben. Oft sind es die reformpädagogischen Traditionen, die unter den Tisch fallen. So wie die Universität auf die heute favorisierte kompetenzorientierte Unterrichtsplanung vorbereiten will, zeigen Studenten oftmals keine Bereitschaft mehr, sich mit Alternativen weiter zu beschäftigen.

Man mag dies alles Professionalisierung und die Demokratisierung von „Wissensproduktion“ nennen. Auf Dauer wird dies für Kultur, gesellschaftliche Debatte und Leistungsfähigkeit des Landes nicht folgenlos bleiben. Johannes Masing – kein Pädagoge, sondern ein Verfassungsrichter – wies in der F.A.Z. vom 29. Dezember 2011 darauf hin, dass kurzatmige Qualifizierung und Informationsbeschaffung nicht genügten: „Wir müssen nicht nur wissen, sondern verstehen – und dabei auch verstehen, dass wir oft entscheiden müssen, ohne zu wissen. Nur das kann uns auch zu verantwortlichem Handeln befreien.“ Akademische Berufe verlangen ein hohes Maß an Freiheit im Denken und Handeln, Eigenverantwortung und sittlicher Reflexion, Entscheidungsfähigkeit und Führungsstärke, sprachlichem Differenzierungsvermögen und gedanklicher Klarheit: Eigenschaften, die nicht in wenigen Mastersemestern draufgesattelt werden können. Masing ist skeptisch, ob die zeitlich verdichteten, konsekutiven Studiengänge entsprechend tragfähig sein werden – und fragt: „[…] braucht ein Arzt, ein Anwalt, ein Richter, ein Lehrer oder ein Bankier nicht eine Grundlage, die ihn mit geistiger Nahrung versieht und ihn in die Lage versetzt, ein berufliches Ethos über Jahrzehnte der Berufstätigkeit durchzuhalten.“ [14]

3. Abschließende Überlegungen zur Bildungsaufgabe studentischer Korporationen

Bildung ist mehr als Wissen oder kurzatmige Qualifizierung. Wer verantwortlich und selbstbestimmt handeln will, muss in der Lage sein, das eigene Wissen zu beurteilen, und er muss bereit sein, nach der Bedeutsamkeit dieses Urteils für sein eigenes Handeln zu fragen. Eine Bildungspraxis, die den Menschen dem Bürger opfert, hätte nicht mehr die Kraft, die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und die Einzelnen zur gemeinsamen Vorsorge auf eine noch unbekannte Zukunft hin zu befähigen. Strategisch, effizient, mit perfekten Lebensläufen – so beschreibt Klaus Wehrle unter dem Titel „Die Perfektionierer“ die neue Bachelorgeneration: „Wie Unternehmensberater durchleuchten Studierende ihre Ausbildung.“ [15] Am Ende stehen für Wehrle nicht Persönlichkeiten, sondern uniformierte Bewerber, denen es an Originalität und Einzigartigkeit, Kreativität und Risikofreude, Mitgefühl und Menschenkenntnis fehle. Sollte diese Prognose stimmen, wäre es für Studentenverbindungen umso wichtiger, ihre Mitglieder zu eigenständigen, reifen, verantwortungsfähigen Persönlichkeiten heranzubilden – nicht als strategischer Karrierevorteil (das kann es dann auch sein, aber sekundär), sondern als Ausdruck einer humanen Haltung, die dem Einzelnen Großes zutraut und davon überzeugt ist, dass nur so auch der Gesellschaft am besten gedient ist.

Die Aufgabe, „Ich“ zu sagen – zu entscheiden, wer ich sein will und wie ich leben will –, diese Aufgabe kann niemand dem Einzelnen abnehmen. Anpassung, Uniformierung oder Manipulation wären andernfalls die Folge. Befähigung zur Selbstbestimmung ist nur als Aufforderung zur Selbsttätigkeit denkbar. Studentische Korporationen können ihren Mitgliedern wertvolle Handlungsfähigkeiten vermitteln, die für eine aktive Rolle in Staat, Gesellschaft und Beruf unverzichtbar sind. Sie vermitteln gehaltvolle soziale Erfahrungen und können dem Einzelnen Hilfestellung geben, diese geistig zu verarbeiten. Dabei geht es um mehr als Wissen oder formale Fähigkeiten. Aus dem Gelernten soll vielmehr eine akademische Haltung werden: in der schöpferischen Auseinandersetzung mit kulturellen Werten und Traditionen, mit Sitte und Brauchtum, durch die Einübung gemeinsamer Regeln und das Ringen um gemeinsame Überzeugungen und durch Einbindung in eine gelebte Verantwortungsgemeinschaft, die durch das Tragen der Farben auch nach außen gezeigt wird. Für die Gesellschaft erfüllen solche Verantwortungsgemeinschaften eine zunehmend wichtiger werdende Rolle als kulturethisches Gedächtnis.

Studentische Korporationen werden auf absehbare Zeit „unzeitgemäß“ bleiben, aber sie werden Zukunft haben, wenn sie jungen Menschen das bieten, was ein stark auf gesellschaftliche Zwecke hin finalisiertes Hochschulsystem immer weniger bietet: eine Bildungsgemeinschaft, die groß vom Einzelnen denkt, die das Individuum zur Selbsttätigkeit freisetzen und – anders als die Bolognareformen – nicht betreuen will, die zum Selbstdenken herausfordert und die den Mut zum eigenen Gedanken weckt, die um die höchsten Ziele und Inhalte des Lebens ringt, die um den Ernst des Daseins weiß und jene Kräfte stärkt, die notwendig sind, sich dem unproduktiven Gruppendenken und dem Zwang zum politisch korrekten „Vor-Urteil“ zu widersetzen. Hier liegt dann auch eine entscheidende demokratiepädagogische Spitze akademischer Bildung: Denn – so der anfangs zitierte Norbert Bolz – „[n]ichts fürchtet die Regierung einer modernen Massendemokratie nämlich mehr als einen selbständig denkenden Menschen.“ [16]

Dies alles ist ein anspruchsvolles Programm und verlangt, den Einzelnen im Rahmen des Lebensbundes zu fördern, ihn aber auch zu fordern. Es geht um den Schutz vor geistig-intellektuellem Kontrollverlust. Und es geht um aktive Teilhabe am sozialen Leben, die Solidarität stiftet gegen Macht wie Ohnmacht. Freiheit können wir nicht für uns allein leben, wir brauchen einander, um frei zu sein. Wir schulden daher aber auch einander die Freiheit – verbunden mit dem pädagogischen Auftrag, den anderen immer wieder zur Freiheit zu ermuntern und zu ermutigen. Eine solche Freiheit ist kein fester Besitz, sie muss immer wieder neu errungen und mit Leben gefüllt werden. Und sie darf gegen alle Angst des Daseins auch gefeiert werden, so wie es in zahllosen Studentenliedern geschieht.

Bei alldem möge Ernst Moritz Arndt auch heute noch Recht behalten, mit dem, was er „Über den deutschen Studentenstaat“ geschrieben hat: „Wer diese höchste Zeit des Daseins, diese deutsche Studentenzeit durchlebt und durchgespielt und durchgefühlt hat, wer in ihr gleichsam alle Schatten eines dämmernden Vorlebens und alle Masken einer beschränkteren und mühevolleren Zukunft in verkleideten Scherzen und mutwilligen Parodien durchgemacht hat, der nimmt in das ärmere Bürgerleben, dem er nachher heimfällt, und dem er seinen gebührlichen Zins abtragen muss, einen solchen Reichtum von Anschauungen und Phantasien hinüber, der ihn nie ganz zu einer chinesischen Puppe und zu einem hohlen und zierlichen Lückenbüßer und Rückenbücker der Vorzimmer werden lässt.“ [17]

Möge es Ihrem Bund auch künftig gelingen, jungen Menschen immer wieder solche Erfahrungen zu vermitteln und ein solches Rüstzeug mit auf den akademischen Weg zu geben. In diesem Sinne darf ich Ihnen zu Ihrem Stiftungsfest meine herzlichsten Glück- und Segenswünsche aussprechen, verbunden mit dem Wunsch: Vivat, crescat, floreat!

 

[1] Ernst Moritz Arndt: Über den deutschen Studentenstaat, Köln 1921, S. 41. 47.

[2] Ernst Moritz Arndt: Fragmente über Menschenbildung, Langensalza 1904, S. 176.

[3] Ernst Moritz Arndt (1921), S. 45.

[4] Norbert Bolz: Freimut, in: Ders. (Hg.): Wer hat Angst vor der Philosophie? Eine Einführung in Philosophie, München 2012, S. 9 – 24, hier: 9.

[5] Norbert Bolz (2012), S. 12.

[6] Vgl. Volker Ladenthin: Was ist „Bildung“? Systematische Überlegungen zu einem aktuellen Begriff, in: Evangelische Theologie 63 (2003), S. 237 – 260.

[7] Dieter Lenzen: Bildung statt Bologna!, Berlin 2014, S. 34.

[8] Franz Emanuel Weinert: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Ders. (Hg.): Leistungsmessung in Schulen, Weinheim/Basel, S. 17 – 31, hier: 27 f.

[9] Katrin Hummel: Und plötzlich ist der Olli schlau, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 24/2014 v. 15. Juni 2014, S. 43 f.; Thomas Vitzthum/Céline Lauer: Abitur für alle!, in: Welt am Sonntag, Nr. 24/2014 v. 15. Juni 2014, S. 13 – 17.

[10] Zit. nach: Thomas Vitzthum/Céline Lauer (2014), S. 17.

[11] Zit. nach: Katrin Hummel (2014), S. 43.

[12] Im Folgenden zitiert aus der 2013 vom Landesinstitut für Schulentwicklung herausgegebenen Arbeitsfassung zur Erprobung der Bildungsplanreform 2015.

[13] Heike Schmoll: Der Gesinnungslehrplan, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 20/2014 v. 24. Januar 2014, S. 1.

[14] Beide Zitate: Johannes Masing: Wissen und Verstehen, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 303/2011 v. 29. Dezember 2011, S. 7.

[15] Klaus Wehrle: Die Perfektionierer. Warum der Optimierungswahn uns schadet – und wer wirklich davon profitiert, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 87.

[16] Norbert Bolz (2012), S. 19.

[17] Ernst Moritz Arndt (1921), S. 15.

Neuerscheinung: Bildung braucht Religion

Das Gemeinwesen kommt nicht ohne einen sinnstiftenden Bezug aus. Das verlangt entsprechende Bildung. Der religiöse Horizont des Christentums hierzulande schwindet. Welche Rolle spielt Religion für das öffentliche Bildungssystem? Dieser Frage geht Axel Bernd Kunze in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ nach:

Axel Bernd Kunze: Bildung braucht Religion, in: Christ in der Gegenwart 69 (2017), Heft 41 v. 8. Oktober 2017, S. 453 f.

Der Verfasser, Privatdozent für Erziehungswissenschaft und Dr. theol., Schulleiter, lehrt Ethik der Sozialen Arbeit in München und Heilbronn.

Neuerscheinung: Überlegungen zum rechten Maß in der bildungsethischen Debatte

„Kunze plädiert demgegenüber für eine bildungsethische Reflexion bildungsbezogener sozialer Praktiken mit einem ‚rechten Maß‘, insofern als verschiedene Leitprinzipien, z. B. faire Chancen-, Bedürfnis-, Befähigungs- oder Leistungsgerechtigkeit, reflektiert und so miteinander verbunden werden sollten, dass dem einzelnen Menschen faire Chancen zur Bildung gesichert, ihm gleichzeitig aber auch denkbar weite Spielräume eröffnet werden sollen, diese zur Bildung in Freiheit selbsttätig zu nutzen und auszufüllen. Zu dieser Freiheit zu befähigen, bliebe die vorrangige Aufgabe jeder Schule, auch und gerade die des Gymnasiums.“ (Susanne Lin-Klitzing, Bildungsgerechtigkeit und Gymnasium, Bad Heilbrunn 2017, S. 14).

Axel Bernd Kunze: Bildungsgerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit. Überlegungen zum rechten Maß in der bildungsethischen Debatte, in: Susanne Lin-Klitzing, David Di Fuccia, Thomas Gaube (Hgg.): Bildungsgerechtigkeit und Gymnasium (Gymnasium – Bildung – Gesellschaft), Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2017, S. 58 – 77.