Noch einmal gelesen: Ist die staatliche Schulpflicht alternativlos?

Am 17. August 2019 diskutierte der Landesarbeitskreis Bildungspflicht und lebenslanges Lernen der Jungen Liberalen in Nordrhein-Westfalen auf seiner Sitzung im Jugendgästehaus am Münsteraner Aasee über Bedeutung und Grenzen der Schulpflicht. Diese ist in Deutschland im Gegensatz zu nahezu allen anderen europäischen Ländern äußerst strikt festgeschrieben und lässt keine Ausnahmen zu. Konflikte mit Eltern, die für Homeschooling, Homeeducation oder andere Formen des Lernens außerhalb einer öffentlichen Schule streiten, gibt es immer wieder. Die Hintergründe, Motivlagen und Forderungen der Eltern können sehr unterschiedlich sein, wie Thomas Spiegler in seiner Studie „Home Eduction in Deutschland. Hintergründe – Praxis – Entwicklung“ (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008) aus bildungssoziologischer Perspektive nachzeichnet. An der Expertendiskussion in Münster nahmen Ilka Hoffmann vom Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Thomas Spiegler von der Theologischen Hochschule Friedensau sowie Axel Bernd Kunze, Schulleiter, Bildungsethiker und Erziehungswissenschaftler von der Universität Bonn. Für ihn ist die Schulpflicht aus bildungsethischer Perspektive keinesfalls alternativlos. In seinem Eingangsstatement in Münster plädierte er für eine starke, freiheitlich ausgestaltete Schulaufsicht, die in begründeten Einzelfällen kontrollierte Alternativen zur staatlichen Schulpflicht offenhält. Die Position stützt sich auf eine Studie zum Menschenrecht auf Bildung, die in einem gleichnamigen DFG-Forschungsprojekt entstanden ist:

Dem Staat fällt […] starke Kontroll- und Aufsichtspflicht zu. Ob Kinder später die reale Möglichkeit haben, frei entscheiden zu können, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und am sozialen Leben gleichberechtigt teilzunehmen, kann nicht in das Belieben der Eltern oder auch der Kinder selbst gestellt werden, die aufgrund ihres Alters noch gar nicht in der Lage sind, ihre Zukunft dergestalt zu planen und Entscheidungen dieser Tragweite mit all ihren Konsequenzen – auch für Dritte und die staatliche Gemeinschaft – zu durchdenken. Daher sprechen gewichtige rechtliche und pädagogische Argumente für die Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht, mit deren Hilfe Kinder notfalls ihren Anspruch auf schulische Bildung selbst gegenüber den eigenen Eltern durchsetzen können. Doch auch in diesem Fall bleibt der Staat begründungs­pflichtig.

Wenn Eltern belegen können, dass sie auf andere Weise ihre Kinder pädagogisch besser erziehen können als im Rahmen einer öffentlichen Schule, ist diese Alternative ihnen aus Freiheitsgründen nur schwer abzusprechen. Auch wenn die Ableistung einer Schulpflicht (möglichst bis zum Eintritt der Volljährigkeit) der Regelfall bleiben sollte, müsste es – strenge staatliche Vorgaben vorausgesetzt – Eltern im Einzelfall dennoch möglich sein, die Schulpflicht durch eine Unterrichtspflicht zu ersetzen; die Erreichung der notwendigen Bildungsziele wäre dann über den Weg von Homeschooling oder Privatunterricht sicherzustellen.

Beschulung außerhalb des schulischen Unterrichts könnte in spezifischen Bedarfssituationen eine individuelle Förderung ermöglichen und solche Schüler auffangen, die aus bestimmten Gründen in einer Regelschule nicht beschulbar sind oder dort sozial und emotional überfordert wären […]. Homeschooling könnte dort inkludierend wirken, wo Schulverweigerer oder Schulabbrecher durch das öffentliche Bildungs- und Erziehungssystem nicht mehr sozial adressierbar sind […]. Die Möglichkeit zum Homeschooling – unter strikter staatlicher Aufsicht – offen zu halten, könnte nicht zuletzt aber auch gesellschaftlich und pädagogisch konfliktmindernd und befriedend wirken, wo Eltern politisch oder juristisch gegen die Schulpflicht ihrer Kinder vorgehen und staatliche Zwangsbeschulung andernfalls die letzte Konsequenz wäre.

Allerdings ist unbedingt darauf zu achten, dass nicht allein ein bestimmtes, in Prüfungen abfragbares Wissen von den Eltern garantiert wird (was in einer durch Bildungstitel regulierten Gesellschaft allerdings auch nicht hintenan gestellt werden darf), sondern dass auch weitere pädagogische Mindestbedingungen hinsichtlich der Sozialqualität und persönlichkeits­bildenden Wirkung fruchtbarer Bildungsprozesse nicht unterlaufen werden. Ferner muss auch im Falle von Homeschooling gewährleistet sein, dass der Staat sein Wächteramt gegenüber den Kindern wahrnehmen kann (dieses ist gerade auch dann geboten, wenn Eltern sich zusammenschließen und nicht allein die eigenen Kinder unterrichten).

Außerschulische Unterrichtung ist demnach grundsätzlich nur dann pädagogisch und menschenrechtlich verantwortbar, wenn diese nicht elterlicher Willkür entspringt und wenn die Eltern sich nicht einfach nur dem Angebot der staatlichen Schule verweigern. Anders herum gesagt: Von den Eltern muss einerseits verlangt werden, Auskunft darüber zu geben, wie sie mit den Bildungsansprüchen ihrer Kinder umgehen, und sie müssen andererseits ein gleichwertiges und nachprüfbares pädagogisches Alternativangebot zum Besuch der staatlichen Schule sicherstellen […].

Eine reale Wahlfreiheit sowohl in religiöser und weltanschaulicher als auch pädagogischer Hinsicht wird Lernenden und ihren Eltern nur dann gesichert sein, wenn der Staat im Bildungsbereich kein Monopol, beispielsweise ein Schulmonopol, für sich reklamieren kann. Um ein solches zu verhindern, bedarf es einer gesicherten Gründungsfreiheit für nichtstaatliche Träger. Die Privatschulfreiheit im Besonderen garantiert einen nichtstaatlichen öffentlichen Schulsektor.

Axel Bernd Kunze: Freiheit im Denken und Handeln. Eine pädagogisch-ethische und sozialethische Grundlegung des Rechts auf Bildung, Bielefeld 2012, S. 325 f.

Kolumne: Arme Kirche? – Dies hätte auch Folgen für den Bildungsbereich

In der aktuellen Ausgabe der katholischen Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ setzt sich Axel Bernd Kunze, Schulleiter, Sozialethiker und Erziehungswissenschaftler, aus bildungsethischer Perspektive mit der Forderung nach einer „armen Kirche“ auseinander. Dabei geht es auch um die Kirche als großer, traditionsreicher Bildungsträger – und um eine gesicherte Wahlfreiheit im Bildungssystem. Dort, wo die Kirche als Schulträger auftritt, ist sie ein starker Garant dafür, dass der Staat kein Bildungsmonopol für sich reklamieren kann. Wer eine freiheitliche Gesellschaft und freie Individuen möchte, sollte auch für ein starkes freies Schulwesen eintreten. Hier ein Auszug aus der Kolumne mit dem Titel „Gegen eine falsche Armutsromantik“:

Kirchlicher Besitz ist kein Selbstzweck, wohl aber notwendig für eine Kirche, die sich ihrer Verantwortung als Arbeitgeber, Vertragspartner, Immobilienbesitzer, Kulturträger, Bewahrer von Kunstschätzen, Bildungsträger oder Sozialpartner bewusst ist. Wo etwa die kirchliche Zusatzversorgungskasse wackelt, sollte dies als Warnzeichen verstanden werden.

Die Qualität kirchlicher Dienste steigt nicht, wenn die soziale Absicherung kirchlicher Mitarbeiter sinkt. Ohne Tarifbindung wie im öffentlichen Dienst wären Caritas und Diakonie als Arbeitgeber nicht mehr attraktiv.

Doch steht mehr auf dem Spiel. Unser kooperatives Staat-Kirche-Modell verhindert staatliche Machtkonzentration, führt zu einem Trägerpluralismus und wirkt freiheitsichernd. Wo Kirche als verlässlicher Akteur, etwa im Sozialbereich, ausfällt, muss der Staat die Lücke füllen. Er erhält so mehr steuernden Einfluss auf gesellschaftliche Bereiche oder die private Lebensführung. Eine Umwandlung kirchlicher Rechtstitel, die als Entschädigung für die Säkularisation dienen, müsste sorgfältig verhandelt werden; denn mit staatlichem Zentralismus wäre für die Handlungsfähigkeit der Kirche wenig gewonnen.

Die sozialethische Kolumne in der „Tagespost“ erscheint in Zusammenarbeit mit der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach. Die Kolumne finden Sie online hier:

https://www.ksz.de/aktuelle_nachrichten.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=657&cHash=f978b477df3069493d9eee363f3be8b7

https://www.die-tagespost.de/politik/wirtschaft/Kolumne-Gegen-eine-falsche-Armutsromantik;art314,200688

Neue Rezensionen zur Jugend- und Lehrerbildung

Axel Bernd Kunze bespricht aktuell im Rezensionsportal Socialnet.de folgende Titel zur Jugend- und Lehrerbildung:

https://www.socialnet.de/rezensionen/25259.php

Martin Rothland, Ina Biederbeck: Praxisphasen in der Lehrerbildung im Fokus der Bildungsforschung (Beiträge zur Lehrerbildung und Bildungsforschung; 4), Münster (Westf.)/New York: Waxmann 20018, 226 Seiten.

https://www.socialnet.de/rezensionen/25424.php

Cover

Benno Hafeneger/Katharina Unelbach/Benedikt Widmaier (Hgg.): Rassismuskritische politische Bildung. Theorien – Konzepte – Orientierungen (Non-Formale Politische Bildung; 14), Frankfurt a. M.: Wochenschau 2019, 221 Seiten.

Stipendium der Alfred-Petzelt-Stiftung

Die Alfred-Petzelt-Stiftung für Wissenschaft und Forschung ist eine Stiftung nach bürgerlichem Recht mit Sitz in Karlsruhe; gegründet im Februar 2018. Der Stiftungszweck besteht in der „Förderung von Wissenschaft und Forschung, Bildung und Bildungspolitik im Sinne der Prinzipien systematischer Pädagogik von Alfred Petzelt“. Verwirklicht wird dieser Zweck insbesondere durch wissenschaftliche Arbeiten im Bereich theoretischer Pädagogik, die den systematischen Denkansatz Petzelts weiterführen.

Zum 01.04.2020 vergibt die Alfred-Petzelt-Stiftung zum zweiten Mal ein themengebundenes Promotions­stipendium.

Themen der Dissertation

Das Stipendium ist gebunden an die Bearbeitung einer der folgenden Themenaspekte:

  • Biographie Alfred Petzelts
  • Kommentierte Bibliographie zu Alfred Petzelts Werk
  • Alfred Petzelts „Theorie des Ich“ und ihre Verknüpfung mit aktuellen erziehungs­wissenschaftlichen Diskursen um Subjekt und Subjektivierung

Die Stiftung bietet

  • ein Stipendium in Höhe von 500 € monatlich bei einer Laufzeit von (zunächst) 12 Monaten.
  • Beratung und Förderung durch wissenschaftliche Expertise.
  • die Möglichkeit, im Rahmen der Jahrestagung Vortrags- und Diskussionserfahrungen vor und mit renommierten Fachvertreter/innen zu sammeln.

Die Stiftung erwartet

  • einen zur Promotion berechtigenden Hochschulabschluss in einem einschlägigen Fach.
  • überdurchschnittliche Studienleistungen, die durch ein Empfehlungsschreiben der promo­tionsbetreuenden Person bestätigt werden.
  • eine Skizze des Dissertationsprojekts zu einem der oben genannten Themenaspekte (max. 10 Seiten mit Angaben zu Forschungsstand, Methode, Gliederung, erwartetem Ertrag, Bibliographie und Zeitplan).

Bewerbungsunterlagen mit Projektskizze, Lebenslauf, Em­pfehlungsschreiben sowie Zeugniskopien richten Sie bitte bis zum 31.12.2019 in elektronischer Form (zusammenhängende pdf) an den Vorstand der Alfred-Petzelt-Stiftung (info@alfred-petzelt.de).

 

Rückfragen bitte an den Stiftungsvorsitzenden, PD Dr. Thomas Mikhail (mikhail@kit.edu). Über die Bewilligung des Stipendiums entscheidet der Stiftungsvorstand; der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Frankfurter Arbeitspapier dokumentiert Konflikt um die „Neue Ordnung“

Das Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen dokumentiert in seiner Reihe „Frankfurter Arbeitspapiere zur gesellschaftsethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung“ (FAgsF, Nr. 70) den Konflikt um die Zeitschrift „Die Neue Ordnung“. Der Dokumentation vorangestellt ist eine Einleitung des Institutsdirektors, Bernhard Emunds, die den üblichen Eindruck eines neuen Manichäismus innerhalb der politischen Debatte in Deutschland nicht ganz verbergen kann. Die Zeitschrift hat die sozialethische Debatte innerhalb der „alten“ Bundesrepublik erheblich geprägt. Im März 2019 entzog die Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik, die Vereinigung der deutschsprachigen Lehrstuhlinhaber des Faches, der Zeitschrift das wissenschaftliche Vertrauen. Im Juni bezogen rund sechzig Autoren und Freunde der „Neuen Ordnung“ in der Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ dagegen Stellung und machten deutlich, dass Boykottaufrufe kein Mittel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein sollten. Im Juli reagierte ebenfalls in der „Tagespost“ ein Viererteam aus der Arbeitsgemeinschaft mit einer Entgegnung auf den offenen Brief der sechzig Wissenschaftler und Publizisten.

Das Arbeitspapier ist online abrufbar unter: https://nbi.sankt-georgen.de/assets/documents/2019/fagsf70_internet.pdf