Zwischenruf: Landeskunde im Fremdsprachenunterricht

19. September 2022. Auch in unserem Land wehten die Fahnen vor den öffentlichen Gebäuden auf halbmast: eine Hommage an Königin Elisabeth II., die an jenem Montag im September zu Grabe getragen wurde, nach einer außergewöhnlich langen Regentschaft. Am 6. Februar 1952 hatte sie den Thron bestiegen. Die meisten von uns haben damals noch gar nicht gelebt. Die öffentliche Trauer, die unser Land zeigte, hebt hervor, welche Bedeutung der englischen Monarchie auch hierzulande beigemessen wird; wie stark die Verbundenheit mit dem Vereinigten Königreich – auch nach dem Brexit – weiterhin ist.

Die Projektwoche, die wir heute beschließen und die an unserer Fachschule schon eine längere Tradition besitzt, ist in diesem Schuljahr der Landeskunde Großbritanniens gewidmet.

Ein beliebter rhetorischer Kniff von Grußwortgebern ist der Griff in den Zitatenschatz. Erlauben Sie mir, dass auch ich davon Gebrauch mache. Und Zitate über England gibt es viele. Nicht alle davon sind allerdings schmeichelhaft: „Bekanntlich sind die Sprachen, namentlich in grammatischer Hinsicht, desto vollkommener, je älter sie sind, und werden stufenweise immer schlechter, vom hohen Sanskrit an bis zum englischen Jargon herab, diesem aus Lappen heterogener Stoffe zusammengeflickten Gedankenkleide“, spöttelte der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer in einem Kapitel „Über Sprache und Worte“. Aber es gibt auch andere Stimmen, etwa Montesquieu, der über die Engländer bemerkte: „Von allen Völkern der Welt hat es (England) am besten verstanden, drei große Dinge sich zunutze zu machen: die Religion, den Handel und die Freiheit.“ Nun gut, sein Zeitgenosse Voltaire sah dies ein wenig anders: „Die Engländer haben zweiundvierzig Religionen, aber nur zwei Saucen.“ Aber auch das gehört zum englischen Wesen, jedenfalls für den amerikanischen Publizisten und Geschäftsmann Franklin Jones: „Die Briten haben ein besonderes Talent, auch in einer nicht vorhandenen Krise gelassen zu bleiben.“

Wer auch immer von den Zitierten Recht hat: Sie können sich gleich selbst ein Bild an den Ständen und Präsentationen unserer Schülerinnen und Schüler aus dem Oberkurs machen. Ganz sicher ist auch in diesem Jahr wieder etwas Kulinarisches dabei – und Sie können erleben, dass die englische Küche mehr als nur zwei Saucen zu bieten hat. Und eines gehört auch zu jedem Thema dazu: Beschreibungen und Beschriftungen in englischer Sprache, die hoffentlich mehr sind als ein bloßer Jargon.

Und damit kommen wir zur didaktischen Bedeutung der Projektwoche. „Landeskundliche Informationen dienen […] als Vehikel zur Sprachvermittlung“, heißt es in Wikipedia. Richtig: Eine englische Projektwoche ist Teil des Fremdsprachenunterrichts. Informationen sollen in der Zielsprache des Landes recherchiert, begleitende Texte in der Zielsprache formuliert werden. Englisch ist in der Erzieherausbildung zwar kein maßgebliches Fach, aber in einer „Weltgesellschaft der Bildung“ dennoch wichtig. Aber Landeskunde ist trotzdem nicht einfach nur ein „Vehikel zur Sprachvermittlung“.

Schüler und Schülerinnen sollen sich nicht nur funktional eine Sprache aneignen, sondern dem Gelernten auch eine Bedeutung zumessen, das Gelernte selber werten und eine persönliche Haltung dazu einnehmen. Und das heißt: Sie sollen sich auch mit der Kultur auseinandersetzen, die hinter einer Sprache steht und die sich nicht allein in grammatikalischen Strukturen erschöpft. Für Geert Hofstede sind es vier Dimensionen, an denen die Besonderheiten einer anderen Kultur deutlich werden: Symbole, Helden, Rituale und Werte. Und bei diesen vier Punkten geht es nicht allein um Politik und Wirtschaft, Geographie oder Geschichte eines Landes, sondern auch um „Alltagskunde“ und „Leutekunde“, wie es Ulrich Zeuner von der Technischen Universität Dresden formuliert: „Alltagskultur spielt eine überragende Rolle bei der Themenfindung. Alltagserfahrungen und universale Lebensbedürfnisse (Essen, Wohnen, Liebe, Streit …) sollen die Brücke vom Eigenen zum Fremden bilden. […] Ausgehend von eigenen Lebenserfahrungen finden die Lernenden so leichter Zugang in die fremde Lebenswelt der anderen Kultur.“

Darüber hinaus vermittelt die Projektwoche Kompetenzen in Projektarbeit, ästhetischer Gestaltung und Präsentationsmethoden, die für den pädagogischen Beruf wichtig sind.

[…]

Und Dank gebührt Ihnen, die Sie gekommen sind, die Ausstellung zu besuchen. Dies ist für unsere Schülerinnen und Schüler im Oberkurs ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung und eine zentrale Würdigung dessen, was sie geleistet haben.

Erlauben Sie mir zum Abschluss noch ein Zitat eines Zeitgenossen, das ich Ihnen auf den Rundgang mitgeben möchte – aus der Feder des deutschen Malers und Schriftstellers Erhard Blanck: „Frankreich hat über zweihundert Käsesorten, Deutschland über zweihundert Brotarten, Italien sicher auch zweihundert Nudelarten. England hat dafür nur eine feine englische Art.“ Und diese dürfen Sie jetzt erleben. Viel Freude und viel Vergnügen dabei!

(aus einem Grußwort der Schulleitung zur Ausstellungseröffnung am Ende einer Englisch- und Kunstprojektwoche)

Rezension: Theologische Rundschau würdigt „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“

Der Tübinger Theologe Detlef Metz würdigt in der THEOLOGISCHEN RUNDSCHAU den Band „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“ (von Alexander Dietz, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze und Ludger Schwienhorst-Schönberger; Leipzig 2020), von der Theologischen Literaturzeitung im September 2020 als „Buch des Monats“ ausgezeichnet, als ein „mutiges“ und „wichtiges“ Buch. Die Migrationskrise von 2015 dauert fort, neue Bedrohungen durch eine autoritäre Coronastimmung im Land oder einen militanten Klimaaktivismus sind hinzugekommen. Metz schreibt: „Kritischer sollten mir die Kritischen sein, in Anlehnung an Karl Barths Diktum. Die Beiträge wurzeln in einer Sorge um das demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Gemeinwesen. Dieses sehen die Autoren gefährdet, insofern die Politk von als politische Akteure wirkenden, mit erheblichem moralischem Impetus auftretenden, zivilgesellschaftlichen Gruppen in bestimmte Richtungen gedrängt wird – Gruppen, die selbst nicht demokratisch legitimiert sind, aber Macht ausüben und den öffentlichen Diskurs bestimmen“ (S. 592).

Detlef Metz (Rez.): Rezension zu „Alexander Dietz, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze, Ludger Schwienhorst-Schönberger: Wiederentdeckung des Staates in der Theologie, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020“, in: Theologische Rundschau 87 (2022), H. 4, S. 585 – 593.

Zum Weiterdenken und Weiterlesen: Wie können die geistig-moralischen Grundlagen des Kulturstaates gesichert werden?

Die folgenden Gedanken basieren auf den beiden genannten Titeln, die zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik empfohlen werden:

Axel Bernd Kunze: Befähigung zur Freiheit. Beiträge zum Wesen und zur Aufgabe von Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, München 2013.

Axel Bernd Kunze: Bildung und Religion. Die geistigen Grundlagen des Kulturstaates. Mit einem Geleitwort von Bernd Ahrbeck, Berlin 2022.

 

Akademische Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, etwa studentische Verbindungen,können auf ihre Weise dazu beitragen, die geistig-moralischen Grundlagen des Kulturstaates zu sichern. Dabei wird zunächst etwas zum vorausgesetzten Bildungs- und Gemeinschaftsverständnis zu sagen sein. Am Ende steht noch einmal ein Blick auf den Zusammenhang von Bildung und Religion: (1.) Was ist unter Bildung zu verstehen?; (2.) Welche Rolle spielt die Gemeinschaft?; (3.) Welche Rolle spielen Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften für den Kulturstaat?; (4.) Was verbindet Bildung und Religion?

Was ist unter Bildung zu verstehen?

Der Mensch ist weder durch seine Natur noch die sozialen Einflüsse eindeutig festgelegt. Soll der Mensch nicht zum Objekt fremder Zwecke oder Interessen werden, muss er sich selbst zu dem machen, der er in den Grenzen der Natur und des Rechts sein will – er muss sich selbst bestimmen: ein Vorgang, der als Bildung bezeichnet wird. Und dies ist nur in Freiheit möglich. Selbstbestimmung kann unterstützt und begleitet, nicht aber gesteuert werden – oder sie wäre gerade nicht mehr Selbstbestimmung. Es geht um Aufforderung zur Selbsttätigkeit.

Bildung ermöglicht dem Einzelnen, über seinen jeweiligen Status quo hinauszuwachsen. Bildung eröffnet Alternativen und Freiräume, ermöglicht eben auch Abweichung und Widerspruch. Der Einzelne muss die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aber auch für sich ergreifen, werten und sich zwischen ihnen entscheiden, wenn er verantwortlich und selbständig handeln will und nicht von anderen abhängig bleiben will. Wir können uns im Letzten nur selbst bilden, wir können nicht durch andere „gebildet werden“. Bildung zielt auf die Freisetzung des Einzelnen. Ernst Moritz Arndt hat den notwendigen Zusammenhang von Bildung und Freiheit in seiner (wenig rezipierten) Bildungstheorie deutlich auf den Punkt gebracht:

„Man kann in einer gewissen Bedeutung wohl der Beste und doch sehr beschränkt sein. Der Gebildetste zeigt eben darin seines Lebens Regel, daß er nichts zur Regel macht. […] Das Gesetz macht Knechte; sobald man aus dem Freiesten ein Gesetz macht, ist das freie Leben dahin, und ohne freies Leben will ich keine Gesellschaft, denn in ihr will ich ja eben vergessen, daß ich ein Knecht bin. Man mache also keine Gesetze aus Regeln, die nur so lange gut sind, als man nicht recht sagen kann, was sie sind. Die Guten und Gebildeten müssen die Zuversicht haben, sich selbst Maß und Regel sein zu können.“ [1]

Ideengeschichtlich sind der Deutsche Idealismus und seine Vorstellung akademischer Freiheit ein wichtiger Wurzelgrund unserer freiheitlichen Demokratie – bis heute. Die Universität hat der studierenden Jugend ein „Entwicklungsmoratorium“ zur Verfügung gestellt: eine Zeit, in der sich der Einzelne nicht allein auf die Ausübung eines bestimmten Berufes vorbereiten sollte, sondern auf eine umfassende, aktive Rolle in Staat und Gesellschaft.

Dabei bereitet das Studium nicht einfach auf eine bereits fertige Zukunft vor. Vielmehr soll der Einzelne dazu befähigt werden, diese Zukunft erst im Verein mit anderen hervorzubringen. Was Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit bedeuten, lässt sich nicht einfach aus ein für alle Mal gültigen Normen und Regeln ableiten, sondern muss immer wieder von neuem gesucht und angestrebt werden – im gemeinsamen Ringen um die höchsten Ziele und Inhalte des Lebens. Dies setzt selbständige Persönlichkeiten voraus, die gelernt haben, frei zu denken und frei zu handeln und für das einzustehen, was sie als gut und richtig erkannt haben.

Doch ist Bildung kein zwangsläufig ablaufender Prozess. Sich zu bilden, wird weder durch vollkommene Ungebundenheit noch durch bloße Beliebigkeit gelingen. Befähigung zur Selbstbestimmung setzt bestimmte Standards im sozialen Umgang voraus. In diesem Sinne sind Bildungsinstitutionen normativ, aber unter dem Zwang zur Selbstbeschränkung; sie dürfen ihre Mitglieder nicht normieren und auf bestimmte Zwecke festlegen wollen. Ein Bildungsgang soll dazu befähigen, die „Welt selber zu denken“, ein subjektiv bestimmtes Verhältnis zu jenen Selbst-, Fremd- und Weltentwürfen zu entwickeln, in die wir unweigerlich immer schon verstrickt sind.

Welche Rolle spielt die Gemeinschaft?

Und hier setzt die Aufgabe gegenseitiger Erziehung an: Eine Gemeinschaft kann den Einzelnen dabei unterstützen, seine Freiheit zunehmend zu kultivieren und eine eigenständige Haltung zum Gelernten aufzubauen. Sie kann ihm Möglichkeiten aufzeigen, wie das Gelernte zu einem gelingenden Leben beitragen kann und wie mit ihm verantwortlich und gemeinwohlförderlich umzugehen ist. Sie kann den Einzelnen fördern – und zwar, indem sie den Einzelnen herausfordert, über das bisher Erreichte hinauszuwachsen. Wenn dem Einzelnen die Forderung und Herausforderung, sich anzustrengen, verweigert wird, fehlt ihm eine wesentliche Bedingung dafür, zu entdecken, was in ihm steckt und seine Persönlichkeit zunehmend eigenständiger in der Bewältigung der Herausforderung zu entwickeln. [2]

Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, etwa studentische Korporationen, vermitteln gehaltvolle soziale Erfahrungen und können dem Einzelnen Hilfestellung geben, diese geistig zu verarbeiten. Dies gilt auch für religiöse Themen, etwa durch die Teilnahme an Gottesdiensten und Kasualien, durch die Auseinandersetzung mit Sinn-, Wert- und religiösen Fragen, durch die Begegnung mit kulturethischen, christlich geprägten Traditionen. Dabei geht es um mehr als Wissen oder formale Fähigkeiten: Es geht um die Ausbildung einer subjektiv bestimmten Haltung, eines individuellen Charakters, kurz: Es geht um Persönlichkeitsbildung.

Bildung kann nicht selbst Sinn schaffen. Doch setzt Bildung, soll der Einzelne nicht bloß ein Funktionär der bestehenden Verhältnisse oder der In­teressen der Gemeinschaft sein, die Überzeugung voraus, dass es im menschlichen Leben etwas geben sollte, das über die Mittel der bloßen Daseinserhaltung hinausgeht. Andernfalls würde das Bewusstsein des Subjekts auf das Überlebensinteresse des Kollektivs reduziert. Eine Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft kann dem Einzelnen eine feste Wertegemeinschaft bieten – und damit jenen Raum, in dem die Sinnfrage gestellt und gemeinsam um Antworten gerungen werden kann. Die persönliche Antwort auf die Sinnfrage muss allerdings jeder selbst geben. [3]

Werte können nur in einem Klima wachsen, das selbst durch Werte geprägt ist. Durch umfassende Charakterbildung, politisch-ethische Bildungsarbeit und durch Einführung in den erreichten Stand der Kultur und deren Wertigkeit kann jenes staatsbürgerliche Ethos wachsen, das für die Demokratie unverzichtbar ist. Hierzu gehören beispielsweise das Streben nach Wahrheit, der Wille zur Objektivität, das Bemühen um gedankliche und sprachliche Präzision, die Fähigkeit, auch unbequeme Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, das Vermögen, den eigenen Standpunkt in Zweifel zu ziehen, oder das Interesse, eigenständige und weiterführende Fragestellungen zu entwickeln.

Diese Haltungen auszubilden, ist nicht allein für jene wichtig, die dauerhaft in der Wissenschaft verbleiben wollen, sondern nicht zuletzt für alle Berufe, die ein hohes Maß an Verantwortung, Entscheidungsfähigkeit und Führungsstärke verlangen.

Alles in allem haben weltanschaulich orientierte, wertgebundene Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, die sich dem gegenwärtigen Trend zu einer „massendemokratischen Neujustierung der [sic!] Verhältnisses von Einzelnem und Gruppe“ [4] widersetzen, stattdessen aber auf starke Prinzipien bei gleichzeitiger Hochschätzung individueller Freiheit bauen, innerhalb der gegenwärtigen Bildungslandschaft einen schweren Stand. Wertgeschätzt werden nicht mehr die individuelle Persönlichkeit, sondern der Rhythmus der Gruppe, nicht mehr die Freiheit der eigenen Meinung, sondern der „Teamgeist“, nicht mehr die individuelle Leistung, sondern die Gruppenzugehörigkeit.

An der Universität zeigen sich die Folgen sehr: „Die Wissenschaft ist längst in den Dienst des Gruppenkults getreten: Und an dem typischen Campus-Phänomen der Politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des heterodoxen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen.“ [5] Eine Reaktion auf diese Entwicklungen innerhalb der akademischen Diskurskultur stellt das im Februar 2021 gegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit dar, das sich gegen zunehmende „Cancel Culture“ und Löschkultur an deutschen Universitäten wendet – im Gründungsmanifest heißt es:

„Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll. Wir müssen vermehrt Versuche zur Kenntnis nehmen, der Freiheit von Forschung und Lehre wissenschaftsfremde Grenzen schon im Vorfeld der Schranken des geltenden Rechts zu setzen. Einzelne beanspruchen vor dem Hintergrund ihrer Weltanschauung und ihrer politischen Ziele, festlegen zu können, welche Fragestellungen, Themen und Argumente verwerflich sind. Damit wird der Versuch unternommen, Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren. Wer nicht mitspielt, muss damit rechnen, diskreditiert zu werden. Auf diese Weise wird ein Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.“ [6]

Eine ähnliche Situation ist auch in weiteren akademischen, nicht zuletzt politik-, wissenschaftsnahen oder pädagogischen Berufen spürbar: „Vorwürfe von Benachteiligung und Unmenschlichkeit, stehen allgegenwärtig im Raum, pauschale Anklagen, die sich dem Abgleich mit der Realität nur selten stellen.“ [7] Abweichende Positionen werden in einem solchen Diskursklima zunehmend moralisch stigmatisiert. Differenzen sollen nicht mehr im argumentativen Ringen und im wissenschaftlichen Streit ausgetragen, sondern aus der wissenschaftlichen Arena ausgeschlossen werden. Administrative oder politische Vorgaben aus Wissenschaftsministerien und Rektoraten greifen immer häufiger in die Wissenschaftsfreiheit des einzelnen Forschers ein. Problematische Inhalte sollen durch Warnhinweise gekennzeichnet werden, Seminarinhalte oder Literaturlisten quotiert werden, missliebige Zeitschriften aus Bibliotheken entfernt werden. Mitunter sind es ganze Fachgesellschaften, die Zensurmaßnahmen gegen abweichende Kollegen oder Positionen  ergreifen. [8]

Eine „Cancel culture“ oder Löschkultur, wie sie an angelsächsischen Hochschulen schon länger zu beobachten ist, wird mittlerweile auch in Deutschland nicht mehr geleugnet. 2019 erklärte der Deutsche Hochschulverband (DHV):

„Die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis lebt vom leidenschaftlichen, heftigen und kontroversen Ringen um Thesen, Fakten, Argumente und Beweise. An Universitäten muss daher jede Studentin und jeder Student sowie jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler seine Forschungsergebnisse, Thesen undAnsichten ohne Angst zur Diskussion stellen können. Das Grundgesetz bindet die Freiheit der Lehre lediglich an die Treue zur Verfassung. Darüber hinausgehende Denk- oder Sprechverbotegibt es nicht. Wer die Welt der Universitäten betritt, muss akzeptieren, mit Vorstellungenkonfrontiert zu werden, die den eigenen zuwiderlaufen. Zur Verkündung vermeintlich absoluterWahrheiten taugen Universitäten nicht. Widersprechende Meinungen müssen respektiert undausgehalten werden. Differenzen zu Andersdenkenden sind im argumentativen Streitauszutragen – nicht mit Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt.“ [9]

Wo der freie, plurale, ergebnisoffene, streitbare wissenschaftliche Diskurs, das freie Lehren, Forschen und Publizieren unterbunden werden, ist die Freiheit der Wissenschaft – und damit ein zentrales Grundrecht – in Gefahr. Es geht aber nicht allein um offene Zensur der Wissenschaft, sondern  um eine Zensur durch Wissenschaft; und kollegiale Repression kann mitunter noch repressiver sein als solche von außen, weil sie unter dem Radar rechtlicher Absicherungen durchläuft und juristisch schwer greifbar zu machen ist.

Welche Rolle spielen Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften für den Kulturstaat?

Bernd Ahrbeck beginnt seinen Band „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“ mit folgender Diagnose: „Die Gesellschaft ändert sich gravierend, in einer Geschwindigkeit und Richtung, die noch vor einem Jahrzehnt unvorstellbar war. Grundfeste der bürgerlichen Ordnung werden infrage gestellt: Nicht nur punktuell, wie es im Laufe der Zeit immer wieder und teils mit erfrischender Wirkung geschah. Nunmehr kumulieren einzelne, ursprünglich separierte Anliegen zu einer Bewegung, die sich machtvoll in Szene setzt und zunehmend an Einfluss gewinnt. Sie strebt einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel an, ein neues kulturelles Selbstverständnis, das mit dem bisherigen an entscheidenden Stellen bricht.“ [10]

Feste Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften werden in einem solchen Debattenklima vorerst „unzeitgemäß“ bleiben, Studentenverbindungen mit Lebensbundprinzip können davon ein Lied singen. Sie werden aber Zukunft haben, wenn sie Studenten das bieten, was die gegenwärtige Universität und ein zunehmend auf finalisierte Zwecke ausgerichtetes Bildungssystem möglicherweise immer weniger bieten: jenes „Entwicklungsmoratorium“, von dem schon die Rede war und welches das Studium einmal kennzeichnete – einen Zeitraum der Persönlichkeitsreifung und des Verantwortungslernens. Hierfür braucht es eine Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft, die groß vom Einzelnen denkt, die das Individuum zur Selbsttätigkeit freisetzen und nicht betreuen will, die zum Selbstdenken herausfordert und die den Mut zum eigenen Gedanken weckt, die um den Ernst des Daseins weiß (und daher auch religiöse Fragen nicht ausspart) und jene Kräfte stärkt, die notwendig sind, sich dem Zwang zum unproduktiven Gruppendenken zu widersetzen.

Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften kommt in einem gesellschaftlichen und akademischen Klima, wie vorstehend beschrieben, eine zunehmend wichtiger werdende Rolle als kulturethisches Gedächtnis zu. Norbert Bolz spricht – im Anschluss an den Philosophen Odo Marquard – vom notwendigen Mut zur bürgerlichen Lebensführung, den wachzuhalten heute dringend geboten sei: „Denn zu nichts braucht man heute mehr Mut als zur Wahrnehmung des Positiven. Und damit erweist sich der Bürger auch als der letzte Träger der Aufklärung, der das ‚sapere aude‘ in eine Lebenspraxis der Freiheit umsetzt. Kants Mut zum Selberdenken konkretisiert sich heute als Mut zur Bürgerlichkeit. So hat Odo Marquard den Begriff Zivilcourage übersetzt. Es gibt noch Ritterlichkeit, auch wenn es keine Ritter mehr gibt. Und es gibt noch Bürgerlichkeit, auch wenn es keine bürgerliche Gesellschaft mehr geben sollte.“ [11]

Und – so ließe sich anfügen – es wird das Ideal akademischer Bildung und Freiheit weiterhin geben, solange es Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften gibt, die sich ihrer Wurzeln, ihrer Aufgabe und ihrer Verantwortung bewusst bleiben, die sich der Funktionalisierung menschlicher Intentionalität widersetzen sowie eine Vorstellung von der Größe des Individuums und seiner Sehnsucht nach Freiheit lebendig erhalten.

Denn Freiheitsbewusstsein ist kein fester Besitz. Freiheit muss immer wieder neu errungen und gelebt werden. Dies gelingt allerdings wiederum nur unter dem Wagnis der Freiheit,: Einerseits braucht es im freiheitlichen Gemeinwesen die leidenschaftliche Debatte um den Stellenwert von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, es braucht eine Vorstellung von Gemeinschaft und nationaler Zugehörigkeit, es braucht den engagierten Einsatz für das Recht und einen gesellschaftlichen Grundkonsens, es braucht den Willen zum Kompromiss und zur Kooperation. Doch zugleich muss der  freiheitliche Staat darauf vertrauen, dass eine Gesellschaft auch Nichtengagement, Gleichgültigkeit oder Indifferenz verträgt. Eine Gesellschaft, in der es all dies nicht mehr geben würde und geben dürfte, wäre eine uniformierte, totalitäre und kontrollkonforme Gesellschaft, könnte sich aber nicht mehr freiheitlich nennen.

Bei alldem erfüllen Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften eine zentrale politische Funktion: Diese können ihren Mitgliedern wertvolle Handlungsfähigkeiten vermitteln, die für eine aktive Rolle in Staat, Beruf und Gesellschaft unverzichtbar sind. Umfassende Persönlichkeitsbildung, politisch-ethische Bildungsarbeit und interdisziplinäre „Brückenschläge“ sowie die Einführung in eine bildungsbezogene Kultur und deren Wertigkeit leisten hierzu einen unverzichtbaren Beitrag. Eine habituell disponierte Handlungsbereitschaft zu erzeugen, kann allerdings nicht ihr Ziel sein.

Denn Gemeinschaften, die versuchten, eine solche „Mission“ zu verfolgen, überwältigen, statt zur denkenden Auseinandersetzung anzuregen. Sie würden damit aber gerade das verfehlen, worauf der demokratische Verfassungsstaat unverzichtbar angewiesen bleibt: die Befähigung zum Vollzug von Freiheit. Und gerade diese ist es, die das Spezifikum des demokratischen Rechtsstaates ausmacht (eine an sozialer Gerechtigkeit oder Gleichheit orientierte Politik ist auch in anderen politischen Ordnungen denkbar, wie nicht zuletzt das politische System des anderen deutschen „Teilstaates“, dessen Geschichte 1990 endete, gezeigt hat).

Die Ordnung des freiheitlichen Rechts- und Kulturstaates verpflichtet – sei es in Schule oder Hochschule – auf einen Bildungsauftrag (und umgekehrt auch zum deutlichen Widerspruch, wenn dagegen verstoßen wird), der Einsichts-, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit weckt, nicht aber den Einzelnen auf eine bestimmte Sicht oder Haltung verpflichtet. Dies wäre indoktrinär, übergriffig, manipulativ und würde dem Kontroversitätsgebot widersprechen, wonach politisch oder gesellschaftliche Kontroversen nicht didaktisch retuschiert werden dürfen. Es geht im Bildungsprozess nicht um die Steuerung bestimmter Einsichten, sondern um Ausbildung in Prinzipien, welche die eigenständige ethische Urteilsbildung leiten können. Gelingen wird dies nur, wenn Heranwachsende und Studenten im Raum der Bildung Evidenzerfahrungen machen können, die zu verbindlicher (nicht: endgültigen), selbsttätig geprüfter Einsicht führen. Und dies gilt dann auch für den Bildungsraum, den eine Korporation ihren Mitgliedern eröffnen sollte.

Was verbindet Bildung und Religion?

Pädagogisches Handeln – so schon Johann Friedrich Herbart [12] – bestimmt sich durch ein motivloses Wohlwollen am anderen, der stets als Selbstzweck und unverfügbare Person zu achten ist. Wer pädagogisch handelt, ist interessiert am Prozess der Subjektwerdung des anderen; er möchte, dass der andere seine Freiheit zunehmend kultiviert und sein „Menschtum“ verwirklicht, ohne vorab bestimmen zu wollen, wie der andere sich in diesem Prozess selbst bestimmt. Bildungs- und Erziehungsgemeinschafen müssen sich immer wieder prüfen, ob sie diesem hohen Anspruch gerecht werden.

Die Idee des Pädagogischen bindet die Mitglieder einer Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft und „steht in Kontrast zu den Allmachtsphantasien und Machbarkeitsvorstellungen. Es bedeutet Engagement bei gleichzeitiger Unbestimmtheit, Nähe bei gleichzeitiger Distanz, Führung bei gleichzeitiger Selbstüberantwortung.“ [13] Teilhabe statt Herrschaft, Richtung statt Sinnleere, Verbindlichkeit statt Beliebigkeit: An diesen Charakterzügen erweist sich die Verbindlichkeit, aber auch Widerstandskraft einer bildenden Gemeinschaft  und ihre Nähe zu – in einem weiten, nicht konfessionellen Sinne verstanden – religiösen Fragen, in der freiwilligen Bindung an etwas, das unmittelbar angeht. Denn „der freie Geist verletzt nicht nur das Tabu der Exzellenz, sondern auch das Tabu der Transzendenz. Sein Mut zur Wahrheit sprengt den Funktionalismus, die ausweglose Immanenz der sozialen Systeme. Und wenn man sieht, wie die ‚Weltgesellschaft‘ jedes Wort des Widerstands, jede Geste des Protests mühelos ins eigene Funktionieren einbaut, muss man zu dem Schluss kommen: Transzendenz ist heute der einzige subversive Begriff. Die konkrete Utopie jedes Außenseiters ist der systematische Paradigmenwechsel. Der freie Geist jedoch zielt auf die Metanoia des Einzelnen. Kehre um, du musst dein Leben ändern – oder doch wenigstens: dein Denken.“ [14]

Religion und Bildung setzen Freiheit voraus und sind nur als zweckfreie Prozesse denkbar. Wer erzieht soll gerecht handeln, nicht aus Gerechtigkeit, also um einer bestimmten Idee willen. Pädagogische Führung ist kein Herrschaftsverhältnis, sondern die freiwillige Bindung an den anderen um dessen Freiheit willen. Es geht um ein Vertrauensverhältnis, durch das der Einzelne lernt, sich selbst und seinen Fähigkeiten immer mehr zu vertrauen. Dies setzt ein Zutrauen in die Werturteilsfähigkeit des anderen voraus.

Politisch folgenlos bleibt ein solches Tun nicht. Die freiheitliche Verfassung liefert zwar Orientierungs­maßstäbe; wie deren Ziele aber innerlich verwirklicht werden, bleibt aber Sache der Glieder einer Verfassungsgemeinschaft. Erst aus dem Vorhandensein sich überschneidender, auch konkurrierender Orientierungswerte gewinnt die freiheitliche Verfassungs­ordnung des Staates „Maßstäbe für Verantwortung“ [15] und inhaltliche Erfüllung. Ein die Freiheit seiner Bürger absor­bie­render Staat entspräche nicht dem neuzeitlichen Freiheits­ideal und der Würde des Menschen. Menschenrechtlich ge­schützt ist der individuelle Anspruch, sich frei zu vergemein­schaften und Bildung auch in nichtpolitischer Form bestimmen zu können.

An dieser Stelle verbinden sich politischer Auftrag und pädagogisches Selbstverständnis miteinander: Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften sichern dem Gemeinwesen jenes sozial-moralische Fundament, über das der Rechts- und Verfassungsstaat um der Freiheit willen nur äußerst begrenzt verfügen darf, das aber für dessen Identität und Zusammenhalt unverzichtbar bleibt; sie fördern jene Orientierungswerte, „die das sozialethische Verhalten des Bürgers im Alltag bestimmen.“ [16]  Gerechtigkeit als argumentativ-sittliche Forderung an das gemeinsame Zusammenleben ist keinesfalls voraussetzungslos, sondern bedarf einer wertbezogenen Motivation, der Liebe zur Gerechtigkeit, die pädagogisch geweckt werden muss.

Kehren wir zurück zu Ernst Moritz Arndt. Dieser wusste in seinen schon zitierten „Fragmenten“, wie leicht Bildung verspielt werden kann:

„Bilden heißt ein Bild von etwas machen; einen Menschen bilden heißt ihn zum Bilde von irgend einem Dinge machen. Man könnte sagen, es sei der herrliche Sinn, ihn in allen Dingen zu einem Bilde zu machen, zu einem Muster von Trefflichkeit und Schönheit, wie man von einem schönen Menschen sagt: Es ist ein Bild. Aber selbst, wenn man diesen herrlichen Sinn darin legte, was man nicht tut, wie wollte man es anfangen, dies durch eine willkürliche Absicht zu erreichen? Noch hat keine Erfahrung die Zulässigkeit dieses Verfahrens bestätigt.“ [17]

So kann es also nicht gehen. Arndt fährt daher fort. Sein Naturbegriff – so werden wir heute sagen müssen – „ist ohne Zweifel unzureichend und brüchig“ [18], aber er hätte sich ganz sicher gegen die heute oft zu beobachtende Finalisierung der Bildung für alle öglichen gesellschaftlichen Ziele ausgesprochen, heißen diese nun Integration, Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Antirassismus, Gender oder wie auch immer. Wahre Menschenbildung will den anderen gerade nicht bilden, sondern lässt ihm die Freiheit, sich selbst zu bilden:

„Sich bilden lassen soll man den jungen Menschen, alle Züge der schönen Welt sich frisch in die weiche Tafel einzeichnen lassen; so soll das lustige Reich der Bilder, so das Bild der Bilder, das Leben, in ihm und vor ihm auf- und untergehen. Dies wollen wir Bildung nennen, und die Nichtstörung dieses einfältigen Naturverfahrens heißt uns Menschenbildung im höchsten Sinn.“ [19]

[1] Münch, Wilhelm / Meisner, Heinrich (Hg.): Ernst Moritz Arndts Fragmente über Menschenbildung, nach der Originalsausgabe neu herausgegeben, Langensalza 2004, S. 179.

[2] Vgl. Glück, Alois: Warum wir uns ändern müssen. Wege zu einer zukunftsfähigen Kultur, München 2010, S. 146.

[3] Vgl. ausführlicher Kunze, Axel Bernd: Braucht Religion Bildung? Braucht Bildung Religion?, in: engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 31 (2013), H. 3, S. 225 – 233.

[4] Bolz, Norbert: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht, München 2010, S. 98.

[5] Ebd., S. 101.

[6] Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Manifest [Februar 2021], in: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ [Zugriff: 31.12.2022]. Das Netzwerk besteht aus einem inneren Kreis von Vereinsmitgliedern und einem erweiterten Netzwerk weiterer Sympathisanten. Es organisiert Veranstaltungen zur Wissenschaftsfreiheit, diskutiert mit Politikern (und ist  auch im Lobbyregister des Bundestages eingetragen), verteidigt Kollegen, die öffentlich oder dienstrechtlich unter Druck geraten sind, nimmt im öffentlichen Raum zur Lehr- und Forschungsfreiheit aktiv Stellung und dokumentiert Fälle deutscher „Cancel culture“. Die Liste ist auf den Internetseiten des Netzwerkes öffentlich einsehbar. Dort findet sich auch ein eigener Blog zu Fragen der Wissenschaftsfreiheit, ein Jahrbuch ist gegenwärtig in Planung. Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist ein Zusammenschluss engagierter Wissenschaftler, die sich mit einem zunehmend repressiver werdenden Klima in Wissenschaft und Hochschule nicht abfinden wollen. Der Zusammenschluss ist parteipolitisch und konfessionell neutral. Das bedeutet aber nicht, dass in den eigenen Reihen nicht hart gerungen wird: um das eigene Selbstverständnis von Wissenschaft, um die Grenzen zwischen legitimem Pluralismus und notwendiger Distanzierung von Extremismus, um die Bedingungen redlicher, methodisch kontrollierter Wissenschaft und um das eigene Verständnis von Freiheit.

[7] Ahrbeck, Bernd: Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft, Springe a. D. 2022, S. 9.

[8] Vgl. exemplarisch den Boykottaufruf der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialehtik gegen die Zeitschrift „Die Neue Ordnung“, der vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit als Fall von „Cancel Culture“ bewertet und und in seiner Fallsammlung dokumentiert wird. Dokumentiert in: Emunds, Bernhard (Hg.): Die Neue Ordnung – auch ein Sprachrohr des katholischen Rechtspopulismus. Dokumentation eines Konflikts. Frankfurt am Main, Juli 2019), Frankfurt am Main 2019. Die traditionsreiche Zeitschrift steht für die große und für die „alte“ Bundesrepublik durchaus prägende Tradition dominikanischer, rheinischer Sozialethik.In der Wochenzeitung „Die Tagespost“ wandten sich rund sechzig Wissenschaftler und Publizisten gegen die Stellungnahme der sozialethischen Fachgesellschaft: Substanzieller Dialog statt Stigmatisierung. Empörung über Populismus genügt nicht, Gründe müssen genannt werden. Ein offener Brief zur Verteidigung der Zeitschrift „Die Neue Ordnung“, in:Die Tagespost,13. Juni 2019, S. 27. Vier Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik antworteten mit folgender Replik: Emunds, Bernhard / Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Mandry, Christof: Für substanziellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs, in: Die Tagespost, 4. Juli 2019, S. 27.

[9] Deutsher Hochschulverband: Zur Verteidigung der freien Debattenkultur an Universitäten. Resolution des 69. DHV-Tages 2019 in Berlin [9. April 2019], in: https://www.hochschulverband.de/fileadmin/redaktion/download/pdf/resolutionen/Resolution_Verteidigung_der_Debattenkultur-final.pdf [Zugriff: 31.12.2022].

[10] Ahrbeck: Jahrmarkt der Befindlichkeiten, S. 5.

[11] Bolz: Ungeliebte Freiheit, S. 136 [„Mut zur Bürgerlichkeit“ im Original kursiv hervorgehoben].

[12] Vgl. Herbart, Johann Friedrich: Systematische Pädagogik, eingeleitet, ausgewählt u. interpretiert v. Dietrich Benner, Stuttgart 1986 [erstmals 1808], S. 204 f.; 357 – 359.

[13] Mikhail, Thomas: Bilden und Binden. Zur religiösen Grundstruktur pädagogischen Han­delns, Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 230.

[14] Bolz, Norbert: Freimut, in: Ders. (Hg.): Wer hat Angst vor der Philosophie? Eine Einführung in Philosophie, München 2012, S. 9 – 24, hier: 9.

[15] Häberle, Peter: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, Freiburg i. Brsg. 1981, S. 92.

[16] Ebd., S. 87.

[17] Münch / Meisner: Fragmente über Menschenbildung, S. 10.

[18] Preul, Reiner: Die Bildungslehre Ernst Moritz Arndts, in: Alvermann, Dirk / Garbe, Irmfried (Hg.): Ernst Moritz Arndt. Anstöße und Wirkungen, Köln u. a. 2011, S. 15 – 30, hier: 29.

[19] Münch / Meisner, Fragmente über Menschenbildung, S. 11.

Rezension: „Geräderte Gesellschaft“

Christoph Lövenich rezensiert in „Novo“ und der „Achse des Guten“ die Essaysammlung „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“, herausgegeben von Sandra Kostner und Tanya Lieske (Stuttgart 2022). Für den Rezensenten zeige die Coronakrise, wie säkularisierte Wissenschaft eine quasireligiöse Funktion eingenommen habe – mit gravierenden politischen und gesellschaftlichen Folgen.

Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? Buch versandkostenfrei - Weltbild.de

https://www.achgut.com/artikel/freiheit_unterm_rad

https://www.novo-argumente.com/rezension/geraederte_gesellschaft

Das politische und soziale Vertrauen, das eine aggressive Impfnötigungspolitik gekostet hat, wird für viele noch lange gestört bleiben. Welche Folgen dies nach sich ziehen wird, ist heute noch keineswegs absehbar. Bis heute ist keine Bereitschaft erkennbar, die Coronapolitik aufzuarbeiten. Im Gegenteil. Dies zeigt die jüngster Personalie am Bundesverfassungsgericht: Lars Brocker, Präsident des Verfassungsgerichtshofes in Rheinland-Pfalz, soll nach dem Willen der SPD-Länder neuer Verfassungsrichter werden. Im April 2022 hatte Brocker in der Frankfurter Allgemeinen eine Gewissensentscheidung in der Impffrage verneint und so einem biopolitischen Neokollektivismus das Wort geredet: „Früh als ‚Gewissensentscheidung‘ der Abgeordneten apo­strophiert und gepaart mit der weitgehenden Aufgabe des politischen Führungsanspruchs in dieser zentralen Frage der inneren Sicherheit, bleibt am vorläufigen Ende dieses irrlichternden Weges die Herausforderung unbewältigt, den Ausweg aus der Pandemie zu gestalten.“

Ein solches Grundrechtsverständnis, das bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit – und damit in den innersten Kernbereich der Persönlichkeit – keine Gewissensprobleme erkennen will und Solidarität als Funktionalisierung des Einzelen missversteht, verheißt für künftige Verhandlungen in Karlsruhe nichts Gutes. Einmal mehr zeigt sich, dass ein christlich geprägter Personalismus innerhalb unseres Rechtsstaates einen immer schwereren Stand haben wird. Man dies wohl, wie die „Ampel“ suggeriert, gesellschaftlicher Fortschritt.

Überdies setzt die Personalie die Parteipolitisierung des Bundesverfassungsgerichtes, die mit dem Kanzlerdinner unter Merkel mehr als offensichtlich geworden ist, weiter fort. Brocker ist bisher mehr durch politische als wissenschaftliche Äußerungen aufgefallen.

Zwischenruf: Universitätsgründer hat als Name ausgedient

Meine Alma mater, die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wird aller Wahrscheinlichkeit nach, den Namen ihres Gründers, Kaiser Wilhelms II. verlieren. Dies ergab eine Probeabstimmung im Senat. Die endgültige Abstimmung soll am 5. April 2023 erfolgen. Der Rektor hat das Ergebnis der Probeabstimmung begrüßt und eine zügige Umsetzung der Namensänderung gefordert. Zuletzt hatte sich auch der RCDS gegen Wilhelm II. ausgesprochen und den Namen Edith-Stein-Universität ins Spiel gebracht.

Die Namensänderung, an der kaum noch Zweifel bestehen, ist ein weiterer Belege für den allerorten zu beobachtenden Verlust an Geschichtsbewusstsein. Identität soll nun auch in Münster entsorgt werden, auch wenn der Senatspräsident, Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, betont, die Auseinandersetzung mit derselbigen, „zu der auch Wilhelm II. gehört“, bleibe für die Münsteraner Universität „eine wichtige Aufgabe“. Was nun rauskommt, ist ein gesichtsloser und geschichtsloser Allerweltsname, auch wenn der Präsident des Senats – wenig glaubhaft – beteuert: „Der Namen ‚Unviersität Münster‘ ist keineswegs der kleinste gemeinsame Nenner, sondern ein positiver Vollnahme, hinter dem sich alle Gruppen der Universität versammeln können.“

Wo Geschichte entsorgt wird, bleibt kein Gemeinsames mehr. Der Name zeigt, wie wenig die Mitglieder der Universität noch verbindet. Die Universität wird zu einer austauschbaren Ausbildungsstätte, die am Ende auch kein akademisches Bewusstsein mehr zu prägen und keine Bindung mehr herzustellen vermag – auch wenn sich Alumnibüros noch so sehr darum bemühen werden. Ohne Identität, akademische Haltung und Bindung wird es auf Dauer aber auch kein Renommee mehr geben.