Zur Erinnerung: Im April 1950 lässt Konrad Adenauer das „Lied der Deutschen“ singen

Clemens Escher: „Deutschland, Deutschland, Du mein alles!“ Die Deutschen auf der Suche nach einer neuen Hymne 1949 – 1952, Leiden/Boston: Ferdinand Schöningh 2017, 364 Seiten.

Am 18. April 1950 ließ der Bundeskanzler in Berlin bei einer Rede im Titania-Palast die dritte Strophe des Liedes der Deutschen singen – und löste damit einen Eklat gegenüber den alliierten Stadtkommandanten und der SPD aus. Das Grundgesetz hatte zwar die Bundesfarben bestimmt, nicht aber die künftige Nationalhymne. Sehr zum Missfallen Konrad Adenauers war bei bestimmten Veranstaltungen schon einmal „Wir sind die Einwohner von Trizonesien“ oder „Heidewitzka, Herr Kapitän“ gespielt worden. Eine Lösung in der Hymnenfrage musste also her.

Eine Dissertation, die an der Technischen Universität Berlin entstanden ist, zeichnet nach, wie kompliziert sich in der jungen Bundesrepublik die Suche nach einer Nationalhymne gestaltete. Der Parlamentarische Rat hatte diese Frage offengelassen und selbst auf das Studentenlied „Ich hab mich ergeben“ aus der Einigungsbewegung des anfänglichen neunzehnten Jahrhunderts zurückgegriffen. Bekanntlich wollte der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, eine gänzlich neue Hymne schaffen. Die  von Rudolf Alexander Schröder gestaltete, auch im Kommersbuch zu findende Neuschöpfung „Land des Glaubens, deutsches Land“ fiel bei der Bevölkerung allerdings durch. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sich die Gruppe der Lehrer noch verhältnismäßig viel mit diesem neuen Hymnenvorschlag beschäftigte und Heuss einiges dafür tat, die Schulen in der Hymnenfrage pädagogisch in die Pflicht zu nehmen. Weniger bekannt ist, dass die Bundesbürger in der Folge selber dichteten. Mehr als sechshundert Hymnenvorschläge gingen im Bundespräsidialamt ein.

Der Umgang mit nationalen Symbolen ist ein wichtiger Indikator für die Identitätskultur eines Landes und den Zustand seines staatsbürgerlichen Denkens. Insofern ist es lohnend, die damalige Hymnendebatte aus kulturgeschichtlicher Sicht nachzuzeichnen. Clemens Escher, als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig, hat die Eingaben an den Bundespräsidenten oder andere staatliche Stellen ausgewertet und in kategorisierbare Topoi zusammengefasst. Auf diese Weise wird sichtbar, welche Themen die Staatsbürger in den Anfangsjahren der Nachkriegsdemokratie bewegten. Es geht um Nähe oder Distanz zu den Erfahrungen von Weimar, um Schuld und Verdrängung nach Ende des Nationalsozialismus, um den Verlust der ostdeutschen Gebiete und Vertreibung, um Antikommunismus und Föderalismus, um Friedenssehnsucht und Wiederbewaffnung, um das Verhältnis der Generationen und Geschlechter oder um das Verhältnis von Nation und Religion.

Manches kommt nicht überraschend. Doch zeigt die detaillierte Auswertung der Briefe, wie sich bereits in den Anfangsjahren der Nachkriegsdemokratie Themen und Entwicklungen ankündigen, die erst später in der öffentlichen Debatte an Fahrt gewinnen sollten. Hier nur zwei Beispiele, etwa Deutschland als neues Missionsland: Religion spielte eine wichtige Rolle, mit den erlittenen Verlusten umzugehen und den Wiederaufbau zu bewältigen: „Neues Deutschland nun erwache, / schauet hoch zum Himmel empor, / Glaubet alle Gott den Gerechten, / Er ist unsre Rechte Hand: / ‚Gott beschütze, Gott behüte, unser Volk und Vaterland‘!“ Doch zeigen sich auch bereits Abbrüche einer gefestigten konfessionellen Tradition. Ruth Digmas aus Freiburg verglich die Herausforderungen im neuen Staat mit der Missionsarbeit des Paulus in Athen.

Oder man versuchte, die Gefahr eines neuerlichen Nationalismus durch föderale und europäische Töne einzuhegen – so etwa Hans Heiland aus Bergisch Gladbach, wenn er dichtete: „Brüderlich loyal vereinigt sind mit ihrer Eigenart, / Uns’re schönen deutschen Länder rechtmäßig zum Bundesstaat. / Gib O Herr uns Allerwege: Mut und Kraft zu edler Tat, / Daß die Herzen höher schlagen, blühe deutscher Bundesstaat.“ Der Heidelberger Karl Heinz schlug vor: „Deutschland als ein Teil Europas / Steht für die Gesamtheit ein / Deutschland will die Volksversöhnung / Aber gleichberechtigt sein.“

Am Ende siegte dann doch das Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben, das der erste Bundespräsident angesichts der Gebietsverluste als „Irredenta-Hymne“ verworfen hatte. 1952 einigten sich Bundespräsident und Bundeskanzler auf diese Lösung im Hymnenstreit. Nur am Rande: Es gab auch Vorschläge, die geographischen Grenzen, die Hoffmann von Fallersleben gezogen hatte, anzupassen – Karl Müller aus Baden-Baden wollte hinfort singen „Von der Ems bis an die Memel, von dem Bodensee zum Belt“, ein Bürger aus Esslingen von der „Saar bis an die Memel“ oder Georg Mißbach aus Sinsheim: „Von dem Rhein bis an die Memel / Von der Zugspitz bis zum Belt“. Die Memel blieb in der Regel bestehen, Maas, Belt oder Etsch wurden ausgetauscht – nach einer Allensbachumfrage von 1954 waren die geographischen Kenntnisse der Bundesbürger beim Fluss im Osten im Gegensatz zu den drei anderen Gewässern am besten; fünfundvierzig Prozent konnten ihn richtig einordnen.

Franz Hagemeier aus Hamburg-Altona war nur eine Stimme, die sich für das Lied der Deutschen stark machte; er schrieb an den Deutschen Bundestag: „Hoffmanns Ruf und Geisteshaltung ward durch jene kriegslüsternen und überheblichen Bürgerlichen geschändet. Zur Ehrenrettung des großen Revolutionärs und Republikaners müssen wir immer wieder darauf hinweisen, daß er ein furchtloser, unbeugsamer und leidenschaftlicher Kämpfer für die Rechte des Volkes gegen Fürsten und Adlige war.“

Escher bietet einen gut lesbaren, sprachlich ansprechenden Einblick in die kollektive Gemütslage der Deutschen in den Aufbaujahren, auch wenn sich der Autor nicht ganz von bundesrepublikanischem Schulwissen freimachen kann. So schimmert zwischen den Zeilen immer mal wieder eine allzu vorschnelle Gleichsetzung von Nationalismus und Nationalstaat oder ein unkritisches Verständnis von Säkularisierung und Modernisierung durch. Auch ist fraglich, ob Eingaben, die dem Parlamentarischen Rat Zurückhaltung in der Hymnenfrage auferlegen wollten, wirklich zuvorderst „postnational“ motiviert waren; möglicherweise stand im Gegenteil eher die Sorge hinter derartigen Äußerungen, die Teilung der Nation könnte vorschnell zementiert werden.

Am Ende diagnostiziert der Historiker eine „Epochenverschleppung“, die sich bis heute bemerkbar mache: „Während Restauration ein statischer Terminus ist, handelt es sich bei der Epochenverschleppung um eine anthropologische Grundkonstante von großer Kraft. So ist es heutzutage beliebt, die Bundesrepublik bis zum Annus mirabilis 1989 als ein gelobtes Land zu sehen – was sie vollgestopft von atomaren Sprengköpfen und einer innerdeutschen Grenze niemals sein konnte“ (S. 275).  Der Band ordnet sich damit in den Forschungstrend ein, in der Ideengeschichte der Bundesrepublik stärker Kontinuitäten als eine „Stunde Null“ auszumachen. Es sei um „Wiederaufbau“ nicht „Neuaufbau“ gegangen. Der Alleinvertretungsanspruch, so Escher, des westdeutschen Teilstaates „bestand auch gegenüber der Geschichte“ (S. 273). Zwar konnte man nicht bruchlos an das Frühere anknüpfen, doch warf man auch nicht alle Mythen von vornherein über Bord – das zeigt der Hymnenstreit sehr deutlich. Für Escher ging die Epochenverschleppung, die sich in starken Bezügen auf eine imaginierte Welt äußerte (beispielhaft erwähnt er die Heimatfilme der Fünfzigerjahre) mit einem Hang zur Entschleunigung einher Man sehnte sich nach Beruhigung und Komplexitätsvermeidung. Der Aufbau eines immer engmaschiger gewordenen Sozialstaates findet hier seine Wurzeln. All dies änderte sich dann mit den Debatten der Sechzigerjahre … – aber das ist ein anderes Kapitel.

Einen kurzen Ausblick wagt Escher am Ende doch noch: Auch aus den Jahren von 1972 bis 1990 gibt es zahlreiche Bürgerbriefe zur Hymnenfrage. Vielleicht werden auch diese einmal wissenschaftlich sorgfältig ausgewertet. Ein Brief an die frei gewählte Volkskammer der DDR dient Escher als Beleg, dass der Versuch, „Geschichte von unten“ zu schreiben, auch seine deutlichen Grenzen hat – vorgeschlagen wurde folgende Mischfassung einer Hymne des wiedervereinigten Deutschlands: „Einigkeit und Recht und Freiheit / Und der Zukunft zugewandt / Danach lasst uns alle streben / Dienend unser’m Vaterland.“ Am Ende entschieden sich Bundespräsident und Bundeskanzler dann doch wieder für das „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne, allerdings verkürzt allein auf die dritte Strophe.

Schlaglicht: Sommerferien oder Lehrerarbeitszeit – Schäubles Kategorienfehler

https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Sommerferien-verkuerzen-Soeder-widerspricht-Schaeuble-id57241811.html

Die Äußerungen des Bundestagspräsidenten in der „Augsburger Allgemeinen“ reizen zu einer Stellungnahme und dürfen so nicht stehenbleiben: Sollen die Sommerferien verkürzt werden? Ein Kollege hat das Interview Wolfgang Schäubles gestern schlicht und einfach als „Frechheit“ bezeichnet. Zu Recht. In anderen Fällen würde man die Äußerungen des Bundestagspräsidenten als „populistischen“ Unfug bezeichnen. Ach nein, Populismus – im Sinne grober, mutwilliger Vereinfachungen der politischen Debatte – gibt es ja in den Volksparteien per definitionem gar nicht.

Die Schulen sind geschlossen. Damit ist aber nicht die Dienstpflicht für Lehrkräfte aufgehoben, diese sind seit Beginn der Schutzmaßnahmen vollständig im Einsatz und haben unter hohem persönlichen Einsatz in kürzester Zeit E-Learning-Modelle installiert. Die persönliche Beratung der Schüler via Internet, die Entwicklung neuer Methoden und Lernformate für das onlinegestützte „Homelearning“, individuelles Feedback, die pädagogische Begleitung der Schüler in Videokonferenzen oder via Telefon ist zeitaufwendig … Auch die Zusammenarbeit im Kollegium ging onlinegestützt weiter, Gleiches gilt für die Schulleitungen. Hinzu kommt der erhöhte Zeitaufwand, der jetzt noch für Abschlussprüfungen mit kleinen Lerngruppen, vermehrten Nachprüfungsterminen, erhöhten Sicherheitsauflagen, Umsetzung von Hygieneplänen usw. entsteht.

Wer eine gesamte Berufsgruppe auf diese Weise öffentlich angreift, scheint auf die Wählerstimmen aus der Lehrerschaft bei der nächsten Wahl keinen Wert zu legen. Leider bleibt Söders Entgegnung, der alles dafür tut, Kanzlerkandidat zu werden, halbherzig und erweckt gleichfalls ein schiefes Bild. Denn es geht hier nicht allein um Ferien; es geht um den Umgang mit der Arbeitszeit einer ganzen Berufsgruppe des öffentlichen Dienstes. Wer meint, Lehrer sollten in diesem Schuljahr mehr arbeiten, muss dies als Mehrabeit vergüten.

Ich hoffe, dass die Kultusministerien der Länder in dieser Frage hart bleiben und dass die Lehrerverbände solchen Vorhaben der Politik deutlichen Widerstand entgegensetzen. Statt in die Kultushoheit der Länder einzugreifen, sollte der Bundestagspräsident lieber überlegen, wie das Parlament, dem er vorsteht, Pandemievorsorge, Zivilschutz und Katastrophenpläne verbessern kann. Hier werden wir, wenn die Krise durchgestanden ist, genügend politische Versäumnisse aufzuarbeiten haben und notwendige Fragen stellen müssen.

Rezension: Wissenschaft in der Demokratie

Ob Finanzkrise, Migrationsdebatte, Klimadebatte, Coronakrise Das Urteil wissenschaftlicher Experten ist gefragt – sei es in der Politikberatung, in Talkshows, auf Podiumsdiskussionen oder in Experteninterviews. Doch eines kann die Wissenschaft nicht: Einigkeit herstellen und Lösungen vorgeben, die nur noch politisch exekutiert werden müssen. So einfach gestaltet sich das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Medien keineswegs: Wissenschaftliche Erkenntnisse bleiben umstritten, der politische Umgang mit ihnen ebenso und längst nicht alles, was in den Medien als Erkenntnis „der“ Wissenschaft verkauft wird, formuliert tatsächlich einen wissenschaftlichen Konsens. Notwendig bleibt eine funktionierende Öffentlichkeit, in der über die verschiedenen menschlichen Teilpraxen hinweg um den richtigen Umgang mit bestehenden Kontroversen gerungen wird. Diesem Thema widmet sich eine neue Reihe im De Gruyter-Verlag.“

aus einer Rezension zu: Wilfried Hinsch, Daniel Eggers (Hgg.): Öffentliche Vernunft? Die Wissenschaft in der Demokratie, Berlin 2019, 118 Seiten (Rezensent: Axel Bernd Kunze) im Rezensionsportal Socialnet.de:

https://www.socialnet.de/rezensionen/26500.php

Rezension: Inklusive Pädagogik

„Man kann den Eindruck gewinnen, es ist ein wenig stiller um die Frage nach Inklusion geworden. Die erste Euphorie scheint geschwunden, ein stärkerer Realismus hat eingesetzt. Einen ähnlichen Anspruch erhebt auch die vorliegende Einführung zu einer inklusiven Pädagogik, wie Ulrich Heimlich in seinem Vorwort schreibt: „Vielmehr war es mir stets ein Anliegen, die begleiteten Einrichtungen zu besuchen und die alltäglichen Nöte und Sorgen der praktisch pädagogisch Tätigen vor Ort kennenzulernen. Dies hilft meiner Erfahrung nach, einen realistischen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Integration bzw. Inklusion zu werfen“ (S. 5). Ein weiteres Anliegen des Verfassers ist es, die sonderpädagogische Fachkompetenz als notwendige Bedingung für pädagogische Qualität in der Inklusionsdebatte zu Gehör zu bringen.“

aus einer Rezension zu: Ulrich Heimlich: Inklusive Pädagogik. Eine Einführung, Stuttgart: W. Kohlhammer 2019, 326 Seiten (Rezensent: Axel Bernd Kunze) im Rezensionsportal Socialnet.de:

https://www.socialnet.de/rezensionen/26356.php

Rezension: Archive und Demokratie

Helge Kleifeld: Archive und Demokratie. Demokratische Defizite der öffentlichen Archive im politischen System der Bundesrepublik Deutschland (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mönchengladbach; 1), Essen (Ruhr): akadpress 2018, 301 Seiten.

„Wissenschaftlern und Bürgern und sie betreiben selbst Forschungs- und Bildungsarbeit. Ins breitere Blickfeld der Öffentlichkeit treten sie oft erst dann, wenn Vorwürfe der Aktenvernichtung die Runden machen oder sich verschiedene Institutionen um politisch brisante Nachlässe streiten. Der vorliegende Band verweist beispielsweise auf die Aktenvernichtung im Bundeskanzleramt beim Regierungswechsel 1998, auf die Löschung des E-Mail-Kontos des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Stefan Mappus, und um das Gerangel um den Nachlass Helmut Kohls zwischen dessen Erben, der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Bundesarchiv.

Die jüngere Geschichte der Demokratie in Deutschland zeigt, wie das politische System unter einen „Partizipationsdruck“ geraten ist. Dieser hat unter anderem im Informationsfreiheitsgesetz von 2005 Ausdruck gefunden; dieses regelt den Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von Bundesbehörden. Die Archive in Trägerschaft des Bundes und der Länder haben mit dieser Entwicklung nicht Schritt gehalten, so Helge Kleifeld in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation, mit der er 2018 an der Universität Marburg promoviert wurde.“ (Axel Bernd Kunze)

Die vollständige Rezension aus Heft 3/2019 der Zeitschrift „AMOS international“ ist online zugänglich.

Recht auf Bildung in der Erzieherausbildung

Wie lässt sich das Recht auf Bildung als Querschnittsthema in der Erzieherausbildung einführen? Welche Rolle spielen Menschenrechtsfragen in der Ausbildung Pädagogischer Fachkräfte?

Axel Bernd Kunze: Jedermann hat das Recht auf Bildung (Art. 26 Abs. 1 AEMR 1948). Das Recht auf Bildung als Querschnittsthema innerhalb der Erzieherausbildung:

abrufbar über das Wissenschaftsportal Academia

Surrexit Christus, spes mea. Alleluja!

Allen Lesern und Leserinnen meines Weblogs wünsche ich gute, gesegnete Ostertage. Vielleicht können die folgenden Gedanken ein paar Akzente für die Osterzeit setzen. Herlichen Dank, dass Sie mein Weblog regelmäßig verfolgen. Bleiben Sie wohlbehütet in dieser herausfordernden Zeit. Ihr Axel Bernd Kunze

Petrus und Johannes am leeren Grab (Joh 20, 1 – 9)

Wir kennen diese Bilder, wenn Gerichtsprozesse mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Der Angeklagte will nicht erkannt werden. Er zieht sich die Jacke über den Kopf. Oder sein Anwalt hält dem Angeklagten einen aufgeschlagenen Aktenordner vors Gesicht.

Wer sein Gesicht zeigt, macht sich angreifbar. Wer etwas zu verbergen hat, muss sich verhüllen – sei es aus Scham oder Angst, aus Unsicherheit oder Verletzbarkeit. Auch das noch so schönste Kleid oder Gewand dient letztlich doch nur dazu, unsere Blöße zu bedecken.

Vor diesem Hintergrund lässt ein Detail im Osterevangelium aufmerken.

Was an Weihnachten geschehen ist, lässt sich leicht in Szene setzen: sei es als Krippendarstellung oder Weihnachtsspiel. Das kleine Kind in der Krippe, liebevoll betrachtet von Maria und Josef, Ochs und Esel daneben, umgeben von Schafen und den frommen Hirten – dieses Weihnachtsbild rührt immer wieder neu unser Herz.

Was an Ostern geschehen ist, lässt sich weniger gut darstellen. Das leere Grab wirkt nicht so reizvoll wie eine Krippenlandschaft. Und es trifft auch gar nicht den Kern des Ostergeschehens.

Denn Ostern ist kein bloßer Moment der Weltgeschichte, der sich so einfach abbilden ließe. Wenn wir dem Zeugnis des Neuen Testaments trauen, geht es an Ostern um eine neue Wirklichkeit, die in unsere Welt einbricht. Es geht um starke subjektive Erfahrungen, die nach und nach das Neue und Unfassbare zur Überzeugung haben werden lassen: Jesus lebt!

Die Ostergeschichten der Evangelien sind nicht mit einer Fotographie zu vergleichen. Vielmehr lassen sie die neue Wirklichkeit lebendig werden wie ein Künstler, der ein gutes, vielschichtiges Gemälde gestaltet.

Heute geht es um die frühen Erfahrungen dreier Osterzeugen: Da ist Maria von Magdala; und da sind Petrus und der Lieblingsjünger Jesu, Johannes. Die beiden Apostel laufen zum Grab, als Maria ihnen ganz aufgeregt berichtet, der Leichnam Jesu sei verschwunden. Und was sehen sie, als sie beim Grab ankommen?

Die Antwort des Evangelisten mag uns vielleicht erstaunen: Beschrieben werden die Leinenbinden und das Schweißtuch, in welche der Leichnam eingewickelt worden war. Sie sind nur ein kleines, scheinbar unbedeutendes Detail im vielschichtigen Ostergemälde. Und doch sagen sie eine Menge darüber aus, was an Ostern geschehen ist.

Der Mensch ist verletzbar, er muss seinen Körper schützen – nicht allein vor Kälte oder äußeren Gefahren, sondern auch vor den zudringlichen Blicken anderer. Wir haben es zu Beginn gehört.

Wo die Hülle fällt, die uns umgibt, sind wir bloßgestellt, dem Zugriff der anderen schonungslos preisgegeben. Die Tradition des Kreuzwegs widmet diesem Teil der Passion sogar eine eigene Station: Jesus wird seiner Kleider beraubt. Endgültig wird er zum Gespött der Vorüberziehenden.

Aus Pietät schützen wir selbst den Leichnam noch vor den Blicken anderer und hüllen ihn in das Totenhemd. So geschieht es auch bei Jesus. Der seiner Kleider Beraubte und am Kreuz Gemarterte hat ausgelitten. Sein geschundener Leichnam wird von seinen Getreuen geborgen, in Tücher gehüllt und ins Grab gelegt.

Doch jetzt ist es anders. Die zurückgelassenen Leinenbinden und Tücher zeigen eine neue Wirklichkeit an, die mit Ostern in unsere Welt einbricht. Petrus und Johannes gehören zu den ersten, die das am Ostermorgen erfahren. Das Grab konnte den Gekreuzigten nicht festhalten. Er ist auferstanden in eine ganz neue Wirklichkeit, die alle irdischen Vorstellungen sprengt.

Der Auferstandene hat die Verletzbarkeit irdischer Existenz hinter sich gelassen. Der verklärte, von Osterherrlichkeit erfüllte Leib benötigt keinen Schutz mehr. Er bedarf nicht mehr der Verhüllung. Ostern lässt alle Hüllen fallen. Gottes Herrlichkeit strahlt auf und bricht in unsere Zeit.

Der Jesuit und Kirchenlieddichter Friedrich Spee hat mit seinem Lied Ist das der Leib, Herr Jesu Christ die Herrlichkeit und Unverletzbarkeit des verklärten Auferstehungsleibes poetisch beschrieben:

Der Leib empfindet nimmer Leid,

bleibt unverletzt in Ewigkeit,

gleichwie so viele tausend Jahr

die Sonne leuchtet eben klar.

Petrus und Johannes spüren etwas von dieser neuen Wirklichkeit an diesem Morgen. In der nächsten Zeit begreifen sie nach und nach immer stärker, was an Ostern geschehen ist. Ihr Bild von Ostern wird vielschichtiger und konkreter. Maria von Magdala, die als erste den Auferstandenen sehen darf, hat das Ihrige dazu beigetragen. Schließlich kann Petrus an Pfingsten öffentlich bekennen, wie wir aus der Apostelgeschichte gehört haben: Gott aber hat ihn am dritten Tag auferweckt und hat ihn erscheinen lassen.

Der Kreis der Apostel war alles andere als eine „Supermannschaft“. Immer wieder musste Jesus die Jünger belehren, tadeln, ermahnen, zurechtweisen. Am Ende werden sie zu wichtigen Zeugen der Osterbotschaft – weil sie sich berühren ließen von dieser neuen Wirklichkeit und sich führen ließen vom Geist Gottes.

Lassen auch wir uns von dieser neuen Wirklichkeit ergreifen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch allen frohe und gesegnete Ostern.

Zwischenruf: Der Gottesdienst muss weitergehen – auch ohne öffentliche Versammlung!

„Man redet lang und viel“, so Christian Geyer am 30. März 2020 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [1]. Und verfehlt dann doch, was in herausfordernden Zeiten wie den gegenwärtigen zu sagen wäre. Nicht zum ersten Mal in der aktuellen Krise nimmt der Journalist scharfzüngig, aber durchaus treffend die Stellungnahmen seiner „Kollegen“ aus dem theologischen Feuilleton auseinander.

Aus Infektionsschutzgründen sind öffentliche Versammlungen verboten, auch in Kirchen, nicht aber Gottesdienste an sich. Und diese sollten weiterhin stattfinden, genauso wie das Osterfest in zwei Wochen. Sollte man meinen. Denn nichts gibt mehr Halt als ein Ritus, der auch in Krisenzeiten weitergeführt wird. Nichts entspricht dem sakramentalen Charakter der Kirche mehr als Priester, die stellvertretend und fürbittend den heiligen Dienst vollziehen. Und nichts ist tröstlicher als das Bewusstsein, dass es in der Liturgie eben doch immer um mehr geht als um das, was sich gerade hier und jetzt soziologisch erklären lässt. Gefragt sind jetzt nicht ein pastoralsoziologischer Kult um die Gemeinde, auch keine spirituellen Banalitäten oder niedrigschwelligen Trivialritualisierungen. In Krisenzeiten braucht es nicht spirituelles Toastbrot, sondern geistliches Schwarzbrot.

Vielfach war es die Kirche mit ihrer jahrhundertealten Kontinuität, die in Krisenzeiten Halt und Orientierung zu geben vermochte. Und was hören wir von Theologen jetzt? Da werden von Liturgiewissenschaftlern „Geistermessen“ kritisiert  [2] – als würde nicht jede Messe, und sei der Kreis der Mitfeiernden auch noch so klein, nicht privatissime, sondern gerade in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche gefeiert, der irdischen wie der himmlischen. Da wird gefordert, das Osterfest zu verschieben [3] – als sei der Auferstehungsglaube so etwas wie ein Pfarrfest, das man nur feiern kann, wenn die Gemeinde auch tatsächlich zu Bier und Bratwurst zusammenkommt. Da kommt aus der Schweiz der theologische Vorschlag für ein priesterloses Gedächtnismahl [4] – als sei das Sakrament nur ein kirchenpolitisches Vehikel, mit dem man, die Gunst der Stunde nutzend, die eigene theologische Privatmeinung durchsetzen könne. Da ätzt eine Theologin gegen einen „Retrokatholizismus“ [5] – als wolle man den Gemeinden nicht nur die öffentlichen Gottesdienste, sondern auch noch die private Volksfrömmigkeit nehmen. Und schließlich werden von Theologen, die sonst nicht oft genug fordern können, die Kirche müsse mit der Zeit gehen, im Internet übertragene Gottesdienste skandalisiert [6] – ohne sich vorstellen zu können, dass diese für viele Hochbetagte die letzte Möglichkeit sind, gemeinsame Gottesdienste überhaupt noch wahrzunehmen. Die Päpste früherer Zeiten hatten weniger Berührungsängste mit neuer Medientechnik und haben diese sehr offensiv für ihre Zwecke eingesetzt.

„Ihr macht uns die Kirche kaputt …“ [7] – möchte man da ausrufen, wenn dieser Buchtitel nicht schon längst besetzt wäre. Die Vorschläge zeugen weder von religionsgeschichtlichen Kenntnissen noch von pastoraler Sensibilität. Vielen Theologen scheint der Halt abhandengekommen zu sein. Beständige Dekonstruktion als theologisches Lieblingsspiel …

Doch eine Kirche, die gerade jetzt „zeitgemäß“ sein wollte (in Anlehnung an eine Formulierung des schon zitierten Christian Geyers in der Frankfurter Allgemeinen vom 25. März 2020 [8]), braucht anderen theologischen Rat. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, welchen Halt Tradition zu geben vermag: nicht als leere Form, sondern als Tabernakel, als ein Schatzkästlein geistlicher Nahrung, die auch in Zeiten der Dürre sättigt und am Leben erhält. Dies mögen für den einen Formen der Volksfrömmigkeit sein, etwa das Rosenkranz- oder Angelusgebet, für den anderen das Stundengebet  [9], und für den dritten die Mitfeier eines Gottesdienstes im Internet – alles Formen, auch ohne öffentliche Versammlung die kirchliche Verbindung zu pflegen und aus der Kraft der Liturgie zu leben. Hierfür sollten die Bischöfe Hilfestellung geben, wie es ein Erfurter Hirtenbrief mit seinen Vorschlägen zum häuslichen Nachvollzug der Kar- und Osterliturgie versucht. [10]

Es gehört zum juridischen Charakter des römischen Katholizismus, dass Bischöfe nun von der Sonntagspflicht dispensieren – das soll auch so bleiben. Gleichzeitig wäre es aber auch wichtig, die Priester anzuhalten, das gottesdienstliche Leben auch ohne öffentliche Versammlung in den Kirchen weiterzuführen. Kirche ist Heilsanstalt. Und als solche ist sie immer größer als die Gemeinde vor Ort, so wichtig die Kirchengemeinde vor Ort pastoral auch ist.

Mit welch unterschiedlicher Haltung der Coronakrise liturgisch begegnet wird, kann ein Vergleich verschiedener Gottesdienstankündigungen deutlich machen. In meiner Wohnortpfarrei erscheint der wöchentliche Pfarrbrief weiterhin; doch wo sonst immer der kirchliche Kalender mit den Gottesdienstzeiten abgedruckt wurde, steht nur noch der dürre Hinweis „Wegen der Corona-Krise müssen alle Gottesdienste bis einschließlich Sonntag, 19. April entfallen.“ – … müssen jetzt alle Gottesdienste „entfallen“!? Oder gilt dies nicht vielmehr nur für die öffentliche Mitfeier!?

Zwei Beispiele wie es auch anders geht: Der Verfasser ist häufig im nordenglischen Durham zu Gast. Die dortige römisch-katholische Pfarrei St. Cuthbert führt weiterhin alle Eucharistiefeiern auf, und zwar als „No Public Mass“. [11] Offensichtlich ist den englischen Priestern nicht bewusst, welchen liturgischen und geistlichen Flurschaden sie damit nach Ansicht deutscher Theologieprofessoren anrichten. Und im Rundbrief des Rektorats Canisianum der Priesterbruderschaft St. Petrus in Saarlouis liest sich die gegenwärtige Situation folgendermaßen: Auch hier wird die volle Messordnung abgedruckt – mit dem Hinweis: „Bitte berücksichtigen Sie die Bestimmungen des Bistums Trier, ob die Hl. Messen mit Beteiligung der Gläubigen gefeiert werden können.“ Ein klares Signal: Das liturgische Leben der Kirche geht weiter – auch in Zeiten der Krise.

An deren Ende wird sich zeigen, ob der gemeinsame Gottesdienst vermisst wurde oder nicht. Hoffen wir, dass er vermisst wird – weil es um die Verehrung Gottes geht. Wäre es anders, sollte dieses ein alarmierender Weckruf an die kirchlich Verantwortlichen sein.

[1] Christian Geyer: Man redet lang und viel. Der Kirchenreformdiskurs verfehlt die Debatte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 76 v. 30.03.2020, S. 11.

[2] Albert Gerhards, Benedikt Kranemann, Stephan Winter: Privatmessen passen nicht zum heutigen Verständnis von Eucharistie, in: katholisch.de, 18.03.2020, https://www.katholisch.de/artikel/24874-privatmessen-passen-nicht-zum-heutigen-verstaendnis-von-eucharistie.

[3] Clemens Leonhard: Ostern doch noch verschieben?, in: feinschwarz.net. Theologisches Feuilleton, 30.03.2020, https://www.feinschwarz.net/ostern-doch-noch-verschieben/.

[4] Daniel Bogner: Diese Krise wird auch die Kirche verändern, in: katholisch.de, 26.03.2020, https://www.katholisch.de/artikel/24963-diese-krise-wird-auch-die-kirche-veraendern.

[5] Julia Knop: „Ein Retrokatholizismus, der gerade fröhliche Urständ feiert“ – Julia Knop warnt vor kirchlichen Rückschritten angesichts Corona, in: Theologische Schlaglichter auf Corona, 26.03.2020, https://theologie-aktuell.uni-erfurt.de/warnung-vor-retrokatholizismus-knop/.

[6] Vgl. Johannes Loy: Winzige Gemeinde im Dom – dafür eine große im Netz, in: Westfälische Nachrichten, 20.03.2020, https://www.wn.de/Muensterland/4174192-Internet-Gottesdienste-Winzige-Gemeinde-im-Dom-dafuer-eine-grosse-im-Netz.

[7] Daniel Bogner: Ihr macht uns die Kirche kaputt … … doch wir lassen das nicht zu!, Freiburg i. Brsg. 2019.

[8] Christian Geyer: Jetzt ganz zeitgemäß. Die Messe ohne Volk, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 72 v. 25.03.2020, S. N 3.

[9] Wer mag kann auch dies via Internet in Gemeinschaft tun, etwa über den Livestream des Erzbischöflichen Priesterseminars Salzburg (t1p.de/priesterseminarsalzburg), über den täglich die Laudes und die Vesper „gestreamt“ werden.

[10] Kar- und Ostertage anders, bewusster erleben als sonst. Brief von Bischof Ulrich Neymeyr an die katholischen Christen in Vorbereitung auf Ostern (30.03.2020), in: https://www.bistum-erfurt.de/presse_archiv/nachrichtenarchiv/detail/kar_und_ostertage_anders_bewusster_erleben_als_sonst/.

[11] https://www.stcuthberts-durham.org.uk/archives/274.

 


Anmerkung der Redaktion

Der vorliegende Beitrag wurde als Leserbrief zum zitierten Beitrag von Clemens Leonhard (30.03.2020) vom Debattenportal „feinschwarz.net – Theologisches Feuilleton“ für eine Veröffentlichung abgelehnt. Früher stand ein Feuilleton einmal für den streitbaren Meinungskampf: Gekämpft wurde mit dem scharfen Schwert des freien Wortes um das bessere Argument. Und es gab Zeiten – aber es sind nicht die unsrigen – da übersetzte man Polemik noch mit Streitkunst – oder wie es die „Fliegenden Blätter“ einmal ausgedrückt haben: „Was ist Polemik? Eine öffentliche und moralische Balgerei zwischen zwei gebildeten Menschen, wobei statt Blut Tinte fließt.“ Aber ein solcher Streit hat in der Theologie gegenwärtig keine Heimat mehr. Auf Dauer bekommt dies einer Disziplin nicht. Streit belebt; alles schon von vornherein besser zu wissen, verödet die Debattenkultur. Es gibt „Banalitäten“, auch in der Kirche oder der Theologie. Dies ist nicht zu ändern. Darüber nicht reden zu wollen, schafft das Phänomen aber nicht aus der Welt. Über die Wertung könnte man sich dann immer noch streiten – ja, „könnte“, wenn es denn gewollt wäre. Bei „feinschwarz“ ist dies offenbar nicht der Fall, auch wenn es im Impressum heißt, man wolle „pluralen und pluralitätsfähigen Diskussionen“ Raum geben. Die Antwort der Redaktion erweckte den Eindruck, man wüsste schon im Voraus, welche Vorschläge „bedenkenswert“ seien – und welche besser gar nicht erst das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollten. Das könnte man auch als „Vor-Urteil“ bezeichnen, ist aber leider kein Einzelfall. Häufig ist innerhalb der theologischen Debatte zu beobachten, wie etikettiert, aber nicht mehr argumentiert und analysiert wird. Ein Feuilleton, das ohne Debatte und ohne Streitkultur auskommen will, ist intellektuell kalter Kaffee und verzichtbar. Ob etwas „bedenkenswert“ ist oder nicht (das gilt selbstverständlich auch für die Position des Verfassers dieser Zeilen) entscheidet sich erst in der offen geführten Debatte. Wir sollten uns wieder an das Wort Voltaires erinnern: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, daß Sie sie äußern dürfen.“

Rezension: „Shrinking Spaces“

„Shrinking Spaces“: ein Begriff, der bisher vor allem in der Politik und Entwicklungszusammenarbeit verwendet wurde. Gemeint sind schrumpfende zivilgesellschaftliche Handlungsspielräume in autokratischen Staaten. Zunehmend wird dieser Begriff aber auch für den europäischen Kontext verwendet. Zwei Beispiele: So sind seit dem „Ausländische-Agenten-Gesetz“ 2012 in Russland Nichtregierungsorganisationen, die Mittel aus dem Ausland erhalten, verpflichtet, sich registrieren zu lassen. Oder in der Türkei wurden nach dem Militärputsch von 2016 mehr als 1.400 zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen. In Deutschland ist der Begriff im Zusammenhang von Befürchtungen adaptiert worden, zunehmender „Rechtspopulismus“ könne auf Dauer demokratische Freiheitsräume beschneiden und gesellschaftliche Exklusionstendenzen befördern. (Axel Bernd Kunze)

Reiner Becker, Irina Bohn, Tina Dürr-Oberlik, Beate Küpper, Tino Reinfrank (Hrsg.): Shrinking Spaces, Frankfurt am Main: Wochenschau 2019, 176 Seiten (= Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit, 01/2019).

Eine Besprechung finden Sie hier:
www.socialnet.de/rezensionen/26013.php

Das vorliegende Heft zeigt, wie Bildung und Kultur zum Kampfplatz um Diskurshegemonie und Lagerbildung werden können. Eine klare Struktur des Themenheftes ist bei alldem aber nicht zwingend erkennbar. Vieles hat man schon an anderer Stelle in ähnlicher Form gelesen. Es gehe um „Mosaiksteine“ ohne den Anspruch, ein vollständiges Bild liefern zu wollen, schreiben die verantwortlichen Redaktionsmitglieder einleitend in ihrem Editorial. Dies wird man sagen können, aber auch nicht mehr. Denn die einzelnen Beiträge des Themenheftes entfernen sich mitunter recht weit vom Konzept „Shrinking Spaces“. Hinzu kommt einmal mehr eine Schwäche ähnlicher Publikationen und Debattenbeiträge: Was unter „Populismus“ bzw. „Rechtspopulismus“ auf der einen oder „Zivilgesellschaft“  bzw. „Gesellschaft“ auf der anderen Seite verstanden wird, wird nicht sauber definiert.  (Axel Bernd Kunze)

Welche Lehren werden wir pädagogisch aus der Coronakrise ziehen?

Wird die derzeitige Krise, die zum notfallmäßigen „Home schooling“ zwingt, eine Digitalisierungseuphorie befördern oder am Ende doch eine rasche digitale Ernüchterung nach sich ziehen – vielleicht schneller als seinerzeit bei den Sprachlaboren und beim Programmierten Lernen? Das ist gegenwärtig noch nicht ausgemacht. Lernen mit digitalen Medien ist noch keineswegs Bildung. Jetzt mögen schnelle und wirksame Krisenhelfer via Internet gefragt sein. Für Bildungserlebnisse braucht es dauerhaft aber kein lernpraktisches Toastbrot, sondern pädagogisches Schwarzbrot.

„Krisenzeiten sind Zeiten, in denen interessierte Kreise gerne versuchen, aus der Not Profit zu schlagen. Dieser Profit kann materieller oder ideologischer Natur sein. Im Falle der Corona-Krise gerieren sich die bekannten Befürworter der „Digitalisierung von Bildung“ als solche ideologischen und materiellen Krisengewinnler. Nun scheint endlich bewiesen, wie dringlich die Umstellung von Schule und Hochschule auf digital gestütztes Lehren und Lernen sei. Und seitens der Politik entblödet man sich nicht, dies auch noch zu forcieren.“

Zum Weiterlesen:

Jochen Krautz: Zur Erinnerung: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht. Warum digitales Lernen auch in Krisenzeiten nur ein Notstopfen bleibt, in: https://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/zur-erinnerung-bildendes-lernen-braucht-schule-und-unterricht.html (2. April 2020).