Buchvorstellung

Die Lippische Landeszeitung stellt in ihrer Ausgabe vom 22. März 2016 den für Sommer geplanten Sammelband des Lassalle-Kreises vor:

Manfred Blänkner, Axel Bernd Kunze (Hgg.): Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute, Bonn: J. H. Dietz 2016.

Der Band soll im Sommer 2016 erscheinen. Die Lippische Landeszeitung zitiert beispielhaft die beiden Biographien des Bamberger Justizreferendars Willy Aron, der bereits im Mai 1933 von den Nationalsozialisten ermordet wurde, und des niedersächsischen Ministerpräsidenten Georg Diederichs.

Der Beitrag ist in der Onlineausgabe hier zu finden.

 

Gesegnete Kar- und Ostertage

Liebe Leserinnen und Leser meines Weblogs,

von Herzen wünsche ich Ihnen allen gesegnete Kar- und Ostertage sowie gute Erholung für die komemnden Osterfeiertage, hoffentlich bei frühlingshaftem Wetter.

Ich freue mich, wenn Sie mein Weblog auch weiterhin interessiert verfolgen.

Mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen

Ihr Axel Bernd Kunze

PS: Gern weise ich Sie auf folgende Neuerscheinung hin: Axel Bernd Kunze, Sieghafter Übergang vom Tod zum Leben [Christi Himmelfahrt], in: WortGottesFeiern an allen Sonn- und Feiertagen 13 (2016), H. 3, S. 417 – 432.

Mut zur Freiheit im Denken, Reden und Handeln

Blicken wir zurück: Am 4. Oktober 1957 schoss die Sowjetunion den ersten künstlichen Erdsatelliten namens „Sputnik“ ins All. Im Westen sprach man vom „Sputnikschock“. Dieser löste in den USA und anderen westlichen Ländern eine breite Bildungsdebatte aus. Man wollte gegenüber den kommunistischen Staaten nicht ins Hintertreffen geraten.

„PISA-Schock“ ruft neuerliche Bildungsdebatte hervor
Vor fünfzehn Jahren stand Deutschland erneut unter Schock: Die Rede vom „PISA-Schock“ machte die Runde – eine Wortschöpfung, die bewusst an den „Sputnikschock“ anknüpfte. Die internationalen Schulleistungsvergleichsstudien erschütterten das Zutrauen der politischen wie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit in die Leistungsfähigkeit des eigenen Bildungswesens. „Bildungspanik“ [1] angesichts zunehmender internationaler Konkurrenz griff um sich. Ob zu Recht oder zu Unrecht, soll an dieser Stelle nicht näher verhandelt werden. Deutschland steckt seitdem in einer neuerlichen Bildungsreformdebatte. Die Modularisierung des Studiums und berufsbildenden Unterrichts, die Betonung von Kompetenzen in schulischen und akademischen Curricula, die Forcierung von Ganztagsschulen und Elementarbildung oder der Trend vom drei- zum zweigliedrigen Schulwesen sowie die Einführung zentraler Abschlussprüfungen sind nur einige Früchte davon. Die Reformen sind eingebettet in internationale Prozesse, die unser nationales Schul- und Hochschulsystem in kurzer Zeit deutlich verändert haben. [2] PISA, ein Programm der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), ist nicht allein ein Instrument empirischer Bildungsforschung; durch seine Orientierung am Literacykonzept und die Betonung outputorientierter Standards – weg von Ziel-, hin zu Kompetenzformulierungen – wirken die Studien selbst stark normierend auf die einzelnen Bildungssysteme. Der 2000 verabschiedete Lissabonprozess, der die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union erhöhen soll, verpflichtet die europäischen Bildungssysteme auf das gesellschaftliche Leitbild einer „Wissensgesellschaft“. Der Bolognaprozess hat sich einen einheitlichen europäischen Hochschulraum mit konsekutiven Studiengängen zum Ziel gesetzt. Der Kopenhagenprozess strebt an, berufliche und akademische Abschlüsse in Europa durch einen Europäischen Qualifikationsrahmen, der acht Niveaustufen unterscheidet, vergleichbar zu machen.
Die verschiedenen Reformprozesse gingen einher mit einem Ausbau der empirischen Bildungsforschung. Bildungssysteme werden in der Folge beständig miteinander verglichen, im Blick auf Bildungsergebnisse und Bildungserträge, Bildungsinvestitionen und Bildungsbeteiligung, Bildungszugänge und Bildungsverläufe, Qualitätsinstrumente und Leistungsstandards. Parallel hat sich in den vergangenen Jahren eine eigenständige Sozialethik der Bildung entwickelt. Keine sozialethische Stellungnahme kommt heute mehr ohne Verweis auf Bildung, Bildungs¬gerechtigkeit oder ein Recht auf Bildung aus, was die Ökumenische Sozialinitiative von 2014 einmal mehr bestätigt. [3]

Bildung begründet sich von der Freiheit des Einzelnen her
In der Folge erscheint Bildung primär als Instrument wirtschafts- oder sozialpolitischer Steuerung. Das gutgemeinte Anliegen einer vorsorgenden Bildungssozialpolitik verkehrt sich leicht in eine Rhetorik der Anpassung: Bildung soll auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, das Gesundheitssystem entlasten, den demographischen Wandel abfedern und anderes mehr. Dabei gerät nicht selten aus dem Blick, dass die pädagogischen Folgen bestimmter bildungspolitischer Maßnahmen oder Umsteuerungen oft weniger eindeutig sind, als empirische Studien dies suggerieren; das gilt beispielsweise für Rufe nach mehr Ganztagsbildung, längerem gemeinsamen Lernen oder Inklusion.
Es macht die Würde des Menschen aus, dass dieser sich selbst bestimmen muss. Er muss selber entscheiden, wie er leben und handeln will. Allerdings muss der Mensch den Gebrauch seiner Freiheit, seinen Vernunft- und Sprachgebrauch, seine Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zunehmend kultivieren, von klein auf. Bildung ist hierfür eine unverzichtbare Voraussetzung. Und umgekehrt gilt: Würden wir dem Menschen nicht von Geburt an bereits Freiheit, Vernunftfähigkeit und einen eigenen Willen zusprechen, könnte von Bildungs- und Erziehungsfähigkeit sinnvoll gar nicht gesprochen werden.
Zwar erfüllt das Bildungssystem immer auch gesellschaftliche Funktionen, doch muss sich zeigen lassen, dass ihre Erfüllung der Erweiterung der Selbstbestimmungs- und Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen dient. Gute Bildungspolitik wird sich dann auch wirtschaftlich oder sozialstaatlich auszahlen, doch geht es dabei um nachgeordnete Bildungszwecke. Ein Recht auf Bildung begründet sich nicht primär durch die politischen, beruflichen oder sozialen Anforderungen moderner, wissensbasierter Gesellschaften und die daraus abgeleiteten Teilhabeansprüche, wiewohl Bildung für eine aktive Rolle in Staat und Gesellschaft unverzichtbar bleibt. Ein Recht auf Bildung dient zuallererst als Schutz vor geistig-intellektuellem Kontrollverlust; es bewahrt den Einzelnen davor, manipuliert, indoktriniert oder geformt zu werden. [4] Der Einzelne zum Autor seines eigenen, unvertretbaren Lebens werden können. Es geht um eine humane Haltung, die dem Einzelnen Großes zutraut und davon überzeugt ist, dass nur so auch dem Gemeinwesen am besten gedient ist.

Bildung ist Menschenrecht
„Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. […] Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche Schulen überall genügend gesorgt werden. […] Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben ausbilden zu lassen.“ So formuliert die Paulskirchenverfassung von 1848 in ihrem Artikel VI. Rund ein Jahrhundert später – unter dem Eindruck der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts – wird das Recht auf Bildung dann erstmals mit Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (AEMR 1948) im internationalen Menschenrechtsregime explizit festgeschrieben. Mit dem Sozialpakt von 1966 wurde es bindendes Recht, in der Folge findet es sich in allen großen Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen.
Gemeint ist nicht einfach ein Recht, „gebildet zu sein“ – was immer auch darunter verstanden werden mag. Denn „Bildung“ kann nicht vom Staat bereitgestellt werden. Ohne Bildungsanstrengung des Einzelnen gibt es keine Bildung. Das Recht auf Bildung sichert vielmehr jene Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, ohne die Bildungsprozesse gar nicht denkbar wären. Dabei lassen sich drei Kernbereiche unterscheiden, die sich so bereits in der Menschenrechtserklärung von 1948 finden, in der späteren Auslegung aber weiter entfaltet und differenziert wurden. Der Staat muss das Recht auf Bildung achten, vor Verletzungen durch Dritte schützen und positiv Leistungen zu dessen Verwirklichung bereitstellen. Er wird in die Pflicht genommen, für eine hinreichende Beteiligung an Bildung zu sorgen (Recht auf Bildung) sowie dem Einzelnen ein bestimmtes Maß an Beteiligungsmöglichkeiten durch Bildung zu sichern (Recht durch Bildung). Schließlich tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu, der sich so nicht bei allen einzelnen Menschenrechten findet: Bildung ist ein interaktives Recht, das sich nur in einer pädagogischen Beziehung verwirklichen lässt. Die verschiedenen Akteure, die am pädagogischen Prozess beteiligt sind (Lernende und ihre Eltern, Lehrende und Bildungsträger), müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen, Bedürfnisse und Zuständigkeiten einzubringen (Recht in der Bildung).
Vorrangig besteht ein allgemeines Recht auf unentgeltliche Grundschul- und Grundbildung, darüber hinaus ein individuelles Recht auf den Besuch weiterführender Schulen, auf Berufsbildung und – den Fähigkeiten des Einzelnen entsprechend – auf Zugang zur Hochschule (Art. 26 Abs. 1 AEMR 1948). Vier Strukturmerkmale dienen im heutigen Menschenrechtsdiskurs dazu, das Recht auf Bildung handhabbar zu machen: Bildungsangebote müssen verfügbar, wirtschaftlich wie körperlich zugänglich sein sowie sich für Lernende mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen als annehmbar und unter sich verändernden Lebensbedingungen als adaptierbar erweisen.
Bildung soll nicht für menschenrechtswidrige Zwecke missbraucht werden – eine Gefahr, die 1948 politisch deutlich vor Augen stand. Bildung – so betonen die verschiedenen Menschenrechtsdokumente – soll daher Menschenrechtsbildung und umfassende Persönlichkeitsbildung sein (Art. 26. Abs. 2 AEMR 1948). Der Mensch soll alle Saiten seiner Persönlichkeit zum Klingen bringen können, daher verbietet sich eine zu frühe Spezialisierung oder Einseitigkeit. Nur wenn Heranwachsende die Möglichkeit zu umfassender Persönlichkeitsbildung haben, werden sie später eigenständig und selbstbestimmt entscheiden können, welche Fähigkeiten sie ausbauen oder vervollkommnen wollen.
Die Menschenrechte bleiben auf Förderung durch pädagogisches Handeln angewiesen: Der Einzelne soll die Menschenrechte kennen, er soll erkennen, dass alle anderen die Menschenrechte im selben Umfang besitzen, und er soll befähigt werden, die Menschenrechte der anderen zu achten und zu schützen. Auf diese Weise soll eine präventive Kultur der Menschenrechte befördert werden. Werte entwickeln sich in einem Klima, in dem Werte auch gelebt werden. Und so geschieht Menschenrechtsbildung überall dort, wo das Leben innerhalb der Schul- oder Bildungsgemeinschaft durch respektvollen Umgang geprägt ist, wo jeder seine Meinung frei äußern darf und ernstgenommen wird und niemand Angst haben muss, gedemütigt zu werden. Doch bleiben die Menschenrechte säkulares Recht. Sie müssen ausgelegt, angewandt und weiterentwickelt werden; im Konfliktfall müssen unterschiedliche menschenrechtlich begründete Ansprüche zum Ausgleich gebracht werden. Hierfür bedarf es entsprechender Kompetenzen zur ethischen Urteils- und Entscheidungsfindung. Auch bleiben die Menschenrechte auf ein gesellschaftliches Ethos angewiesen, das den Willen zum Recht stützt. Die Motivation, das Recht der anderen zu achten, kann rechtsimmanent nicht garantiert werden. Menschenrechtsbildung kann ethische und religiöse Bildung (verstanden in einem weiten Sinne) nicht ersetzen.
Dem Staat fällt kein Bildungsmonopol zu. Das Menschenrecht schützt die Freiheit des Einzelnen, Bildung und Erziehung in privater Form zu bestimmen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Erstverantwortlichkeit der Eltern für die Erziehung ihrer Kinder (Art. 26 Abs. 3 AEMR 1948). Das Elternrecht sichert dem Kind sein Recht, vornehmlich durch die eigenen Eltern erzogen zu werden und nicht durch Formen öffentlicher kollektiver Erziehung. Im Bildungsbereich muss die Religions-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit geschützt sein. Damit Eltern und Lernende auch wirksame Wahlmöglichkeiten besitzen, müssen private Träger das Recht haben, eigene Bildungseinrichtungen mit spezifischem Profil zu gründen. Die notwendige Disziplin darf nur mit menschenwürdigen Mitteln gesichert werden. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht muss im Raum der Schule genauso gewahrt sein, wie geistiger Zwang und Überwältigung ausgeschlossen werden müssen. Schüler sollen nicht bestimmte Dinge für wahr halten, weil der Lehrer dies vorschreibt, sondern die Freiheit haben, das Gelernte selbsttätig zu prüfen und zu beurteilen. Zugleich kann nur derjenige zur Freiheit befähigen, der selber pädagogische Freiheit genießt. Lehrer müssen materiell, strukturell und rechtlich hinreichend abgesichert sein. Und sie müssen das Recht haben, Koalitionen zu bilden und ihre Interessen selbständig zu vertreten. – Kurz und gut: Das Recht auf Bildung sichert dem Einzelnen jene unverzichtbare Freiheit im Denken und Handeln, ohne die politische Teilhabe, wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Wohlfahrt nicht denkbar sind.

Der Staat bedarf der Freisetzung der Einzelnen
Vergangenes Jahr feierten wir das zweihundertjährige Jubiläum der Urburschenschaft. Die Idee der Burschenschaft wurde geboren aus der Sehnsucht nach dem größeren Vaterland, dem einen Deutschland, und seiner inneren Freiheit. Spezifisch für die deutsche Nationalstaatswerdung ist eine enge Verflechtung des staatstheoretischen Diskurses mit dem bildungstheoretischen. Zunächst war die deutsche Nation nur im geistigen Bereich zu haben, wie es Friedrich Schiller in seiner Prosaskizze „Deutsche Größe“ in Worte gefasst hat: „[…] und wenn auch das Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. […] Sie ist eine sittliche Größe / sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.“ [5] Die deutsche Kulturnation war entstanden; die Bildungsidee geriet nach dem Untergang des Alten Reiches gleichsam zur „Fortsetzung der Reichsidee mit anderen Mitteln“.
Im neuzeitlichen Verständnis ist der Staat nicht mehr etwas Selbstzweckhaftes, sondern bedarf selbst der Legitimation. Diese kann genauso wenig teleologisch aus einem vorgegebenen, hierarchisch geordneten Staatsganzen hergeleitet werden, wie eine unmittelbare Identität zwischen den Zwecken des Staates und jenen seiner Glieder anzunehmen ist. Vielmehr gründet der neuzeitliche Staat in einer gemeinschaftlichen Ordnung, die von den Einzelnen in freier Wechselwirkung und im freien Zusammenwirken mit anderen selbst geschaffen wurde. Hierfür braucht es Bildung. Der moderne Staat kann „seinen Zweck nur durch eine Befreiung seiner Bürger zu selbsttätigen Menschen erreichen“ [6] . Größere Wirksamkeit und eine höhere Produktivität wird der Staat dann erlangen, wenn die Einzelnen in der Lage sind, mannigfaltig miteinander zu handeln und zu kommunizieren, wenn das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte nicht unterbunden und wenn die Freiheit der Bürger nicht vom Staat absorbiert wird. Wilhelm von Humboldt hat dieses Grundprinzip moderner Staatlichkeit in seiner Ideenschrift „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ [7] auf eine Weise entfaltet, die bis heute nicht übertroffen wurde: Zwar bleibt der Staat auf die Resultate bürgerlichen Schaffens und gesellschaftlicher Tüchtigkeit angewiesen; nur so kann er sich, beispielsweise über Steuern und Abgaben, jene Mittel aneignen, die er für die Erfüllung seiner Regierungsaufgaben benötigt. Dieses abstrakte Allgemeininteresse des Staates kann aber nicht das schöpferische, spontane und produktive Wechselspiel zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen ersetzen. Der Mensch darf nicht dem Bürger geopfert werden. Denn überall dort, wo es darum geht, sittliche Zwecke zu setzen, kann nur die Tätigkeit der Menschen selbst in diesem Sinne produktiv genannt werden. Dies gilt beispielsweise für ethische Überzeugungen, das religiöse Bekenntnis, den Willen zur Partner- und Elternschaft – oder auch für den Bereich der Bildung: Für den Prozess der Subjektwerdung und Selbstbestimmung des Einzelnen gibt es kein Original, an dem Maß genommen werden könnte; das Moment der Unbestimmtheit begleitet den neuzeitlichen Menschen in allen Phasen seiner Existenz, wenn die Freisetzung des Einzelnen nicht wiederum in affirmative Freiheit umschlagen soll, selbst wenn es die bloße Affirmation der eigenen Person und des eigenen Selbstbildes sein sollte. [8]

Akademische Freiheit ist bleibender burschenschaftlicher Auftrag
Das Streben nach Freiheit steht am Beginn des modernen Rechts- und Verfassungsstaates. So ist auch die weitere Geschichte der Burschenschaft untrennbar verwoben sowohl mit dem Ringen um nationale Einheit als auch mit dem Kampf um akademische Freiheit. Haben sich die Aufgaben der Burschenschaft heute, fünfundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, erledigt? Ich meine, nicht. Freiheit ist kein fester Besitz, sie muss immer wieder neu errungen und mit Leben gefüllt werden. Gerade die akademische Freiheit hat es heute schwer.
Für die neuhumanistischen Reformer realisierte sich der aufklärerische Anspruch der Universität in der Einrichtung des Seminars und der Seminararbeit, zuerst realisiert an der Universität Halle, durch Reskript Friedrich Wilhelms II. 1787 als Teil des preußischen Bildungssystems festgeschrieben: „Das Kollegienhören trat zurück, und das eigene forschende Arbeiten der Studenten unter dem Motto der Selbsttätigkeit trat hervor. Sofern Vorlesungen gehalten wurden, sollten sie […] nicht fertige Erkenntnisse vermitteln, sondern den Erkenntnisvorgang selbst darstellen und auf diese Weise die denkerische Aktivität der Hörer stimulieren.“ [9] Die Seminararbeit ist angesichts berufsqualifizierender Studiengänge, vermeintlicher Professionalisierung und kompetenzorientierter Prüfungen deutlich zurückgedrängt worden. Die heute üblichen Modulhandbücher schreiben fest, was der Student für seine berufliche Tätigkeit funktional benötigt; der eigenständige Vergleich unterschiedlicher Theorieangebote, die Beschäftigung mit historischen Hintergründen oder das selbständige Formulieren von Problemen fallen nicht selten aus. Und so fragt Winfried Böhm provokativ, „ob nicht möglicherweise die Kultur des Seminars bzw. seine Abschaffung ein Kriterium dafür sein könnte, in wie weit die deutsche Universitätsidee noch lebendig und konkret weiter wirkt oder ob sie inzwischen der vagen Fata Morgana Globalisierung geopfert und – wenn ja, um welchen Preis – auf den Meeresboden der Geschichte versenkt worden ist.“ [10] Stattdessen breitet sich ein Geist der Lethargie, Anpassung und Leidenschaftslosigkeit aus [11] , der keine Fragen mehr stellt, dem Konvention genügt und der mühelos noch die eigenen Gesten des Widerspruchs in reibungsloses Funktionieren übersetzt.
Norbert Bolz geißelt das geistige Klima der heutigen Universität äußerst scharf: Am „typischen Campus-Phänomen der Politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des heterodoxen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen.“ [12] Forschende Neugier aber ist etwas anderes als die Exekution bereits im Voraus feststehender politischer „Vor-Urteile“. Wissenschaftliche Streitfragen werden immer häufiger moralisiert oder zu ästhetischen Geschmacksurteilen herabgestuft. Erst zu Beginn des vergangenen Jahres hat der Verfasser ein Manuskript für einen Sammelband zurückgezogen, nachdem die Herausgeber substantielle, sprachpolitisch motivierte Eingriffe in Sprachgestalt und Aussagen des Textes verlangt hatten. Zwang zur Gleichförmigkeit aber ist der Tod individueller Freiheit, mit ihr erstirbt die gesellschaftliche Debatte und auch die Bildung. Daher sollte es eigentlich Widerspruch hervorrufen, wenn eine Universität „Tipps zum geschlechtergerechten Formulieren“ [13] unter der (auch noch orthographisch falschen) Parole ausgibt „die selbe Sprache sprechen“ – das zitierte Beispiel ist kein Einzelfall in der akademischen Landschaft.
Die Universitäten haben sich auf dramatische Weise verändert. Es hat noch nicht einmal eine Professorengeneration gebraucht, zweihundert Jahre deutscher Universitätstradition aufzugeben. Nur vereinzelt regten sich innerhalb der Professorenschaft warnende Stimmen, die unter den eigenen Kollegen ohne Widerhall blieben; zu nennen wären hier Marius Reiser, der aus Protest auf seinen Lehrstuhl verzichtete, Arnd Morkel, Peter Brenner oder Norbert Bolz. [14] Nahezu widerspruchslos hat sich die Universität mit Einführung des Bachelor ihres akademischen Charakters berauben lassen. Man hat nicht gesehen oder sehen wollen, was die Tarifparteien des Öffentlichen Dienstes der Länder, die eigenen Dienstherren also, in einer Protokollerklärung ausdrücklich festgehalten haben: Der Bachelor ist kein wissenschaftlicher Hochschulabschluss, folgerichtig kann er inzwischen auch im berufsbildenden Schulwesen erworben werden. Die Angleichung des Bachelorabschlusses an Abschlüsse einer Vollzeitberufsschule zeigt sich nicht allein im Tarifgefüge, sondern auch im Deutschen Qualifikationsrahmen. Dieser stellt für Stufe 6, den Bachelor oder die Fachschule, Kompetenzniveau II, die Reorganisation des Wissens, in den Vordergrund. Die anderen Niveaustufen I (Reproduktion) und III (Transfer) sind lediglich angemessen zu berücksichtigen. Leitbild ist nicht mehr das gestaltende, selbstbestimmte Subjekt, sondern der Lerner, der sich an vorgegebenen Problemschemata abarbeitet. Erst jetzt hört man im Kollegenkreis, wenn die Mikrophone abgeschaltet sind, dass es vor zehn Jahren noch eine realistische Chance gegeben hätte, den akademischen Charakter der Universität zu wahren; es hätte sich nur eine Hand voll Entscheidungsträger bemannen müssen. Profiteure sind jene Professoren, die lieber Berufsausbilder oder schulische Lehrer als akademische Vorbilder und Forscher sein wollen.
Der heutigen Universität ist ein Verständnis des Akademischen verloren gegangen. Die Folgen davon werden wir gesellschaftlich noch zu spüren bekommen, durch nachlassende Innovationsfähigkeit genauso wie eine Verflachung des öffentlichen Diskurses. Die Herausforderungen, vor denen wir angesichts beschleunigter Kommunikationsprozesse, globaler Vernetzung, begrenzter Ressourcen sowie daraus resultierender Unsicherheiten und Verwundbarkeiten stehen, werden nicht durch ein „immer Mehr“ an Information, funktionaler Qualifizierung und kompetenzorientiertem Training zu bewältigen sein. Diese Herausforderungen zu bestehen, bedarf es eines tiefergehenden Fachwissens auf der einen sowie hermeneutischer Fähigkeiten, geistiger Unabhängigkeit und intellektueller Weite auf der anderen Seite. Diese Eigenschaften zu wecken und in der jungen Generation auf Dauer zu stellen, war einst Aufgabe der Universität. Welcher Institution diese Aufgabe künftig anheimfallen wird, ist heute noch nicht absehbar. Der akademische Geist wird überwintern, so die Hoffnung – aber möglicherweise außerhalb der Universität.
Das burschenschaftliche Erbe verpflichtet uns, jungen Menschen von diesem akademischen Geist mitzugeben, in ihnen den Mut zum eigenen Gedanken zu wecken und sie zur Freiheit im Denken, Reden und Handeln zu bestärken – dies alles nicht als Karrierevorteil (das mag es auch sein, aber sekundär), sondern als Ausdruck einer humanen Haltung, die dem Einzelnen Großes zutraut und die davon überzeugt ist, dass nur so auch dem Gemeinwesen am besten gedient ist. Halten wir den Mut zur individuellen Freiheit wach.

Der Beitrag entstand 2015 aus Anlass des Jubiläumsjahres zur Gründung der Jenaer Urburschenschaft vor zweihundert Jahren.

[1] H. Bude: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, München 2011.
[2] Vgl. L. A. Pongratz: Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin. Eine Kritik der Bildungsreform, Paderborn 2009.
[3] „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Welt“: http://www.sozialinitiative-kirchen.de.
[4] Vgl. ausführlich A. B. Kunze: Freiheit im Denken und Handeln. Eine pädagogisch-ethische und sozialethische Grundlegung des Rechts auf Bildung, Bielefeld 2012.
[5] F. Schiller: Deutsche Größe [1801], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, 2. Bd., Teil 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799 – 1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß (Text), hg. v. N. Oellers, Weimar 1983, S. 431 – 436, hier: 431.
[6] D. Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim/München ³2003, S. 59.
[7] W. von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [1792], in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Band 1, herausgegeben von A. Flitner u. K. Giel, Darmstadt 2002, S. 56 – 233.
[8] Vgl. Benner 2003, S. 52 – 55.
[9] W. Böhm: Über Universitäten in deutschem Sinn, in: Pädagogische Rundschau 65 (2011), S. 519 – 527, hier: 525.
[10] Ebd., S. 526.
[11] Vgl. C. Florian: Warum unsere Studenten so angepasst sind, Reinbek b. Hamburg 2014.
[12] N. Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht, München 2010, S. 101.
[13] http://www.uni-bamberg.de/frauenbeauftragte/grundlagen/sprachregelungen.
[14] Vgl. M. Reiser: Bologna: Anfang und Ende der Universität, Bonn 2010; Arnd Morkel: Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung, Darmstadt 2000.

Erwanderte Bildungsgeschichte

Der Rheinsteig ist ein bekannter, mit dem „Deutschen Wandersiegel Premiumweg“ ausgezeichneter Fernwanderweg, der von Bonn nach Wiesbaden führt. Der landschaftlich reizvolle Weg führt u. a. durch den Rheingau, eine auch bildungs- wie studentengeschichtlich interessante Region.

So kommt der Weg in Rüdesheim mit seinem Niederwalddenkmal vorbei. Das am 27. September 1883 eingeweihte Denkmal trägt die Widmung: „Zum Andenken an die Einmüthige siegreiche Erhebung des Deutschen Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870 – 1871“. An seinen Seiten finden sich Namen der Schlachten des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Das Denkmal, das unter anderem die fünf Strophen des Liedes „Die Wacht am Rhein“ trägt, gipfelt in der Germania, welche die Kaiserkrone in der Hand hält. Die Symbolfigur Deutschlands blickt nach Süden in den Rheingau: „Der Krieg ist beendet. Germania überschaut das deutsche Vaterland, dessen schönster Vordergrund der gerettete Rheingau ist“ (L. Tittel: Das Niederwalddenkmal 1871 – 1883, Hildesheim 1979, S. 79). Der Rheingau ist eine wichtige Kulturlandschaft, die vor allem durch seinen Riesling weltbekannt ist.

Weiter geht es u. a. über Hallgarten, Kloster Eberbach, eine der ältesten und bedeutendsten Zisterzen Deutschlands, und Kiedrich nach Schlangenbad an der Hessischen Bäderstraße. Hallgarten im Rheingau wurde vor allem als eine der Keimzellen der Frankfurter Nationalversammlung bekannt. Der liberale Politiker Johann Adam von Itzstein, Oppositionsführer in der Zweiten Kammer der Badischen Ständeversammlung, initiierte ab 1832 auf seinem Weingut den sogenannten Hallgartenkreis, in dem über Alternativen zum bestehenden Deutschen Bund beraten wurde. Zu den bekanntesten Mitgliedern gehörten Robert Blum, Ehrenmitglied der Leipziger Burschenschaft Germania, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Heinrich von Gagern oder Friedrich Hecker. Man kann sich gut vorstellen, wie in weinseliger Atmosphäre politische Ideen für die Zukunft Deutschlands gesponnen wurden …

Von Schlagenbad geht es vorbei am „Grauen Stein“ nach Frauenstein. Damit ist das Stadtgebiet Wiesbadens erreicht, sein Ende findet der Rheinsteig schließlich am Schloss Biebrich.

DFG-Projekt „Das Menschenrecht auf Bildung“

Im Rezensionsportal Socialnet.de sind die beiden Teilstudien des DFG-Projekts „Das Menschenrecht auf Bildung: Anthropologisch-ethische Grundlegung und Kriterien der politischen Umsetzung“ besprochen worden (Rezensent ist in beiden Fällen Professor Dr. Thomas Schumacher vom Fachbereich Soziale Arbeit der Katholischen Stiftungsfachhochschule München):

http://www.socialnet.de/rezensionen/14234.php

http://www.socialnet.de/rezensionen/18885.php

Das Forschungsprojekt wurde zwischen 2006 und 2010 in Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Christliche Soziallehre und Allgemeine Religionssoziologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, später dem Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem Forschungsinstitut für Philosophie Hannover durchgeführt.

Welche Bildung wollen wir?

Deutschland als Bildungsstandort – heute und morgen

„Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung – nicht Wissenschaft, nicht die Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat.“ – so beginnt Hartmut von Hentig sein leidenschaftliches Plädoyer für einen Gegenstand, der einige Zeit nach Erscheinen seines Essays in der öffentlichen Debatte tatsächlich zum sogenannten – wie man manchmal hört – „Megathema“ geworden ist. Wenn man die Bildungsdebatte verfolgt, kann man jedoch den Eindruck gewinnen, die Orientierungslosigkeit fange damit erst recht an. Mitunter ist zu hören, Bildung sei im Grunde ein „Containerwort“, in das jeder alles hineinpacken kann, was er später gern darin finden möchte. Wer sich an der Bildungsdebatte beteiligt, kann ein gemeinsames Verständnis von Bildung jedenfalls nicht unbedingt voraussetzen. Ich möchte daher zunächst (1.) deutlich machen, von welchem Bildungsverständnis ich bei meinen Überlegungen ausgehe. Daran anschließend möchte ich im Anschluß an das vorangegangene Referat drei Bereiche der gegenwärtigen Bildungsdebatte ansprechen, in denen der Bildungsstandort Deutschland meiner Meinung nach vor zentralen Weichenstellungen steht: Plädieren möchte ich (2.) für eine Pluralität an Bildungsangeboten, (3.) ein wertgebundenes Bildungsverständnis sowie (4.) eine starke Wissenschaftsorientierung unseres Bildungssystems.

(1) Bildung – wovon sprechen wir?

Bildung ist zunächst und in erster Linie von einem pädagogischen Verständnis aus zu bestimmen. Von Bildung zu sprechen, führt geradezu in den Kernbereich pädagogischen Denkens und Handelns. Der Mensch ist weder vollständig durch seine Natur festgelegt noch wird er allein durch Sozialisation bestimmt. Er ist vielmehr entwicklungsfähig und weltoffen. Dies ermöglicht dem einzelnen ein Handeln, das über zweckorientiertes, instinktgebundenes oder fremdgesteuertes Verhalten hinausgeht; ein Handeln, das vernunftorientiert, sinngebunden und vom Willen und Entschluß des Subjekts abhängig ist. Ein solches Handeln muß aber erlernt und ausgestaltet werden. Der Mensch ist immer beides zugleich: bildungsbedürftig aufgrund seiner dialektischen Existenz zwischen Unspezialisiertheit und Weltoffenheit und bildungsfähig durch seine planende, wertende und urteilende Vernunft.
Selbstverantwortliches Handeln erwächst aus Geltungsansprüchen, die ein Fremder an den Handelnden oder dieser an sich selbst stellt. Mit jedem Geltungsanspruch ist eine Aufforderung zum Lernen verbunden, insofern sich der einzelne ihm gegenüber verhalten muß. Er muß ihn gedanklich einholen, er kann ihn verwerfen oder akzeptieren. Bildung meint genau diese Fähigkeit des Menschen, sich selbstbestimmt, selbstverantwortlich und schöpferisch mit sachlichen oder sittlichen Geltungsansprüchen auseinandersetzen zu können. Der einzelne eignet sich im Bildungsprozeß die kulturelle Welt an, erschließt sich diese für sein eigenes lernendes Ich und wird durch die faktischen Werte, die ihm dabei begegnen zum Urteilen herausgefordert. Bildung ist Selbstgestaltung der eigenen Person und prägt einen aktiven Lebensstil aus. Wer sich bildet, soll sein Leben nicht einfach nur ertragen oder erdulden. Der sich Bildende soll selbständig und eigenverantwortlich Stellung nehmen können. Und – daran muß die Bildungspolitik in Zeiten wie den unsrigen nicht selten erinnert werden – Bildung ist nicht beliebig zu beschleunigen: Bildung ohne Freiheit und Muße wäre vielmehr Abrichtung.
Zu allen Zeiten sieht sich der Mensch vor die Bildungsaufgabe gestellt, auch wenn diese jeweils nur in einem konkreten geschichtlichen Kontext bestimmt und ausgefüllt werden kann. Ist die Idee der Bildsamkeit des Menschen in diesem Sinn auch überzeitlich, hat sich Bildung als pädagogischer Begriff dennoch nicht zufällig zugleich mit der neuzeitlichen Aufklärung herausgebildet, zu einem Zeitpunkt also, da Handlungsregeln nicht mehr aus teleologischen Konzepten abgeleitet werden können, sondern vom einzelnen selbsttätig gefunden werden müssen. Bildung wird zum modernen Integrationsbegriff, der den Verlust des bis dahin geschlossenen praktischen Zirkels und das Aufbrechen der bisher bestimmenden Lebenstotalität kompensiert sowie weiterhin die Allgemeingültigkeit pädagogischen Handelns angesichts eines fehlenden kollektiven Ethos garantieren soll.
Durch Bildung gewinnt der einzelne einen vertieften Zugang zu sich selbst sowie zu seiner Mit- und Umwelt; sein Leben wird beziehungsreicher, was ein gewichtiger Grund dafür ist, daß Bildung nicht zuletzt als Lebensgenuß, Freude und Bereicherung der eigenen Existenz erfahren werden kann. Viele Bildungsteilnehmer, die oft einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Freizeit für Weiterbildung, einen höheren Bildungsabschluß oder ähnliches opfern, werden dies bestätigen können. Gerade dieser Zusammenhang könnte meines Erachtens noch stärker als bisher als Motivationsfaktor betont und innerhalb der pädagogischen Arbeit genutzt werden.
Der Mensch ist kraft der ihm aufgegebenen Freiheit Werk seiner selbst. Diese Freiheit anzunehmen und zu verwirklichen, fordert ihm ständig Entscheidungen ab. Diese begründet und selbstverantwortlich vollziehen zu können, setzt Orientierungswissen und die Kompetenz voraus, mit Kontingenz und Differenz, mit widersprüchlichen Rollenkonzepten und divergierenden Erwartungen umgehen zu können. Bildung – ausdrücklich nicht: Wissen – ist heute in einer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert und spezialisiert, pluralisiert und beschleunigt zur entscheidenden Ressource für die Verwirklichung eigener substantieller Freiheit geworden. Wenn die Lebenschancen des einzelnen aber immer stärker vom Zugang zu Bildung abhängen, bedeutet dies zugleich, daß Bildung heute – in stärkerem Maße als zu früheren Zeiten – zentraler Teil der Sozialen Frage ist. Nicht zuletzt die Debatte um die sogenannte „Unterschicht“ hat das im vergangenen Jahr einmal mehr gezeigt. Wer nicht gelernt hat, mit der Vielfalt an Angeboten und Meinungen, die tagtäglich auf ihn einstürmen, umzugehen, über den wird sehr leicht entschieden – aber eben von anderen.

(2) Für eine Pluralität an Bildungsangeboten!

Die Bildungschancen sind unter den einzelnen Individuen höchst ungleich verteilt. Die Ursachen können beispielsweise in der eigenen persönlichen Konstitution, im familiären Kontext, in der sozialen Herkunft oder auch der vorangegangenen eigenen Bildungsbiographie zu suchen sein. Ein Bildungssystem, das sich an der Idee eines individuellen Rechts auf Bildung orientiert und das – schon aus gesundem gesellschaftlichem Eigeninteresse – alle Bildungspotentiale bestmöglich ausschöpfen will, muß bestrebt sein Bildungsbenachteiligungen möglichst weitgehend zu kompensieren. Ohne haushaltspolitische Umschichtungen wird ein solches Bildungssystem ehrlicherweise nicht zu haben sein.
Allerdings sind nicht alle Ungleichheiten selbst bei bester pädagogischer Förderung zu kompensieren, beispielsweise aufgrund bestimmter psychischer oder physischer Voraussetzungen. Daher steht dem Ziel, ungleiche Ausgangsbedingungen für Bildungsbeteiligung abzubauen, die Verpflichtung zur Seite, jedem durch geeignete Institutionen und Bildungsangebote zu helfen, seine Potentiale entsprechend seinen individuellen Voraussetzungen bestmöglich entwickeln und nutzen zu können. Dies gilt auch für die Förderung bestimmter herausgehobener Begabungen – nicht auf Kosten anderer Begabungen, sondern im Sinne eines verantwortlichen Forderns und Förderns, das die Aktivierung der persönlichen Potentiale durch geeignete Problemstellungen herausfordert und zugleich mit der Fähigkeit zur sozialen Kooperation verbindet. Wo ein pädagogisch verantworteter Leistungsgedanke schwindet, greifen sehr schnell andere Selektionsmechanismen, die auf individuelle ökonomische oder soziale Ausgangsbedingungen Bezug nehmen.
Das Gesagte setzt begabungsgerechte Förderangebote und – darin gebe ich dem Referenten nachdrücklich recht – Instrumente zur Bildungsberatung voraus. Eine strukturelle Uniformierung unseres Bildungssystems – sei es ein einziges Schulmodell für alle oder die Einheitshochschule für alle – wäre meines Erachtens allerdings eine falsche Antwort. Unterschiedliche Begabungen bestmöglich zu fördern und unterschiedlichen Lernbedürfnissen gerecht zu werden, setzt ein auf allen Ebenen plurales und in sich vielfältig differenziertes, aber durchlässiges Bildungssystem voraus, einschließlich der Möglichkeit, bestimmte Bildungsangebote in späteren Lebensphasen – beispielsweise berufsbegleitend oder durch Fernstudienangebote – nachholen zu können. Insgesamt scheint mir aber die Schulstrukturfrage innerhalb der gegenwärtigen Bildungsdebatte deutlich überbewertet zu werden.
Zu den elementaren Bildungsvollzügen, die für die Verwirklichung individueller Autonomie von entscheidender Bedeutung sind, zählt auch die Elementarbildung. Nachhaltige Bildungseffekte sind aber nur dann zu erzielen, wenn diese nicht mit Betreuung verwechselt wird und zielgenaue Angebote für Kinder mit besonderem Förderbedarf entwickelt werden. Die vom Referenten angemahnte Verzahnung mit dem Primarbereich möchte ich dabei ausdrücklich unterstreichen. Ob eine vollständige Akademisierung des Kindergartenbereichs hierfür notwendig ist, wie politisch mitunter gefordert, bleibt für mich jedoch nicht allein aus finanziellen Gründen fraglich. Am Rande gesagt: Die quantitative Ausweitung akademischer Qualifikationen wird in vielen Bereichen weniger zu einer qualitativen Aufwertung als faktisch vielmehr zu einer Absenkung der Akademikergehälter führen – mit unbeabsichtigten Folgewirkungen in anderen Bereichen, beispielsweise der Familien-, Sozial-, Steuer- oder Arbeitsmarktpolitik.
Wissenschaftspropädeutisch ausgerichtete Oberstufenangebote und tertiäre Bildungswege beispielsweise erfüllen andere Bildungsbedürfnisse als duale Bildungswege – zum Beispiel durch das höhere Maß an Selbständigkeit, das sie verlangen. Eine qualitativ hochwertige Ausbildung ist daher für den einzelnen nicht in jedem Fall ohne weiteres durch ein Studium zu ersetzen oder umgekehrt. Überdies garantiert eine zunehmende Vereinheitlichung oder internationale Anpassung von Bildungsangeboten nicht in jedem Fall auch ein wirkliches Mehr an Flexibilität, Mobilität und Durchlässigkeit. Die großangelegte Umstrukturierung des Hochschulsystems erweist sich vielfach eher als bürokratisches Monstrum, das für Lehrende wie Lernende neue Freiheitsbeschränkungen aufbaut statt solche abzubauen.

(3) Für ein wertgebundenes Bildungsverständnis!

In einem pluralen Bildungssystem ist ein Wettbewerb um die pädagogische Qualität von Bildungsangeboten durchaus wünschenswert. Allerdings ist Bildung nicht in allem unter Marktbedingungen zu organisieren, wenn bestimmte Bildungsgüter die einzelnen erst einmal zur verantwortlichen und selbstbestimmten Teilnahme an ökonomischen, politischen oder gesellschaftlichen Prozessen – und damit auch an Marktprozessen – befähigen sollen.
„Unser Produkt ist gute Bildung“, wirbt eine Berliner Schule für sich. Doch kann dies so einfach gelingen? – Das Recht auf Bildung ist zu lesen als ein Recht auf qualitätvolle Bildungsvollzüge, die jedem einzelnen die Chance bieten, sich die sachlichen Anforderungen, die tatsächlich notwendigen Inhalte und Kompetenzen, in einem solchen Maß anzueignen, wie er diese für ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben in einem ganz bestimmten sozialen Kontext benötigt. Dies setzt voraus, daß Lehrerbildung, Andragogik und Vermittlung dann auch auf einem so hohen fachlichen wie didaktischen und methodischen Niveau angesetzt sind, daß ein angemessener Bildungserfolg erwartet werden kann.
Allerdings entbindet das den einzelnen keineswegs von der moralischen Verantwortung, sich aktiv am Bildungsvollzug zu beteiligen. Inwieweit sich der einzelne diese Verantwortung im Einzelfall zurechnen lassen muß, bleibt Gegenstand moralischer und pädagogischer Reflexion. Bildung ist keine Ware, die sich beliebig „produzieren“ läßt. Einen anderen Eindruck zu erwecken, wäre sowohl unrealistisch als auch pädagogisch wenig verantwortlich. Bildung ist ein Entfaltungsvorgang der inneren Entwicklungspotentiale des Subjekts. Ihr aktiver Vollzug kann didaktisch, methodisch und erzieherisch angeleitet und durch den Dozenten oder Lehrer angestoßen werden. Der Bildungs- und Erkenntnisakt muß aber immer im einzelnen Subjekt – im Teilnehmer oder Schüler – stattfinden (weshalb es dann den Erwachsenenbildner im strengen Wortsinn auch gar nicht geben kann).
Der einzelne sollte darin unterstützt werden, seiner Verantwortung gegenüber den Bildungsansprüchen, die andere an ihn oder er selbst an sich richtet, gerecht zu werden und diese weiterzuentwickeln. Die Verantwortung des sich Bildenden erschöpft sich nicht allein im aktiven Mittun des einzelnen bei den angezielten Lernprozessen. Darüber hinaus muß der einzelne im Bildungsgeschehen als sittliches Subjekt herausgefordert werden, sich zu den Wissens- und Kompetenzinhalten in ein wertendes Verhältnis zu setzen. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Bildung und anderen Formen der Wissensaneignung, nicht in der falschen Entgegensetzung von Berufs- und Allgemeinbildung. Erst dann können Wissenseinheiten zu Bildungsinhalten werden. Und erst dann und nur dann wird der einzelne zum „Bildungsmanager in eigener Sache“ oder zum „Makler der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen“ werden können – ein Punkt, der mir besonders wichtig ist und den ich noch etwas weiter ausführen möchte.
Zu jedem Bildungsprozeß gehört es entscheidend hinzu, den einzelnen aufzufordern, eine eigenständige sittliche Haltung einzunehmen – eine Aufgabe, die beide Seiten herausfordert: den sich Bildenden wie den Pädagogen. Lehrer oder Eltern kennen Entgegnungen jener Art, wonach ein Museumsbesuch „langweilig“ oder die Lektüre eines bestimmten Buches „voll ätzend“ sei. Sich mit derart knappen Antworten zu begnügen, mag ein einfacher und auf den ersten Blick sehr bequemer Weg sein; ihrer Bildungsaufgabe werden Erziehende damit keinesfalls hinreichend gerecht. Ein Grund, warum es dem deutschen Schulsystem zu wenig gelingt, „Kinder und Jugendliche so zu fördern, daß sie bis an die Grenzen ihres jeweiligen persönlichen Leistungspotentials vorstoßen können“, ist meines Erachtens auch darin zu suchen, daß Lehrer und Eltern sich zu wenig trauen, Kindern und Jugendlichen gegenüber auf Einlösung der Wertfrage zu bestehen und pädagogische Führung im wohlverstanden Sinne zu beanspruchen. Lehrer bräuchten hierfür auch mehr pädagogisches Vertrauen seitens der Eltern und Schulverwaltungen, als dies gegenwärtig vielfach der Fall ist.
Die Lokalzeitung meiner Heimatstadt hat vor kurzem anläßlich der Einführung von Studienbeiträgen Abiturienten nach ihren Studienplänen befragt. Bei den Antworten fällt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eines ins Auge: Nicht das Interesse an einem bestimmten Fach oder ein spezifisches Berufsziel sind das, worüber die Jugendlichen im Blick auf die vor ihnen liegende Studienentscheidung sprechen, sondern die Möglichkeit, zu Hause wohnen bleiben zu können, die Höhe der Studiengebühren in einem Bundesland oder die möglichen Karriereaussichten. Die Antworten weisen meines Erachtens auf zweierlei hin: zum einen auf Fehlsteuerungseffekte, die aus den Studienbeiträgen resultieren; zum anderen aber auch auf eine Orientierungslosigkeit, die aus der Vernachlässigung der erzieherischen Seite von Bildung rührt. Alle Befragten werden vermutlich den formalen Bildungstitel Abitur – also die Allgemeine Hochschulreife – erreichen. Die Schüler scheinen aber nicht in der Lage zu sein, sich für ein bestimmtes Fach zu begeistern oder sich selbst ein fachlich motiviertes Berufsziel zu setzen, für das es sich lohnt, auch über Jahre hinweg Anstrengung, Leistung und Opfer zu bringen – also sich zu dem in der Schule Gelernten in ein subjektiv bestimmendes Verhältnis zu setzen.
Die Erwartungen der Schüler entsprechen einer Bildungsrhetorik, die zwar von Bildung spricht, aber allein Wissensvermittlung oder formale Bildungstitel meint – oft mit der Folge, daß Verantwortung und notwendiges Eigenengagement der sich Bildenden unterschätzt und Fehlerfolge zunehmend den Lehrern und Dozenten angelastet werden. Bildung und Qualifikation sind nicht einfach „zwei unterschiedliche Arten der Aneignung und der Vermittlung von Methoden und Inhalten“. Richtig ist: Wer selbstverantwortlich handeln will, muß ein sachlich fundiertes Verhältnis zu sich selbst sowie zu seiner Mit- und Umwelt entwickeln – häufig zusammengefaßt als Selbst-, Sozial-, Sach- und Methodenkompetenz. Doch ist der Mensch mehr als nur ein „Kompetenzbündel“. Dies gilt für die Schule genauso wie für die Weiterbildung, auch wenn sich Bildungsorte, Unterrichtsformen und Methoden notwendigerweise unterscheiden müssen. In allen Lebensphasen bedürfen die verschiedenen Kompetenzen der Zentrierung auf das eigenverantwortlich und selbstbestimmt handelnde Subjekt – eine Aufgabe, die nicht allein nach Konzepten lebenslangen Lernens verlangt, sondern nach lebensbegleitender Bildung. Denn es geht darum, die in jedem einzelnen angelegte Fähigkeit zur Verantwortung in tatsächlich wahrgenommene Verantwortungsfähigkeit zu vermitteln. „Vermitteln“ meint dabei nicht einfach nur lehren oder „beibringen“, sondern bedeutet, die Potentiale des einzelnen zu entbinden, seine in ihm angelegten Fähigkeiten zu wecken und zum Wirken kommen zu lassen.

(4) Für eine starke Wissenschaftsorientierung des Bildungssystems!

Ein letztlich auf Wissen verkürztes, instrumentelles Bildungsverständnis greift nicht nur im Blick auf die durch Bildung angestrebte Selbstbestimmung des Menschen zu kurz. Auch gesellschaftlich kann ein solches Bildungsverständnis nicht genügen: Denn Innovationsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit erreichen wir nicht, indem wir bei der Vermittlung von Inhalten und Kompetenzen stehenbleiben, sondern nur dann, wenn die einzelnen sich diese schöpferisch aneignen und kreativ weiterentwickeln. Hätten wir nur noch Schüler und Studierende, die sich bloß Wissen aneignen und das auch noch möglichst zügig, statt sich im umfassenden Sinne zu bilden, dann wären wir schnell bei einer Gesellschaft angelangt, die nur noch zu kopieren, Plagiate herzustellen oder allenfalls Bestehendes zu verbessern, aber nicht mehr Alternativen zu antizipieren und wirklich Neues zu entwickeln, zu entdecken und zu erforschen in der Lage wäre. Die formale Akademikerquote zu erhöhen und das tertiäre System auf schnelle Berufsqualifizierung umzustellen, wird den Bildungsstand in Deutschland und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht erhöhen. Vermeintlich effiziente Bildung kann sich in einer Wettbewerbssituation als ausgesprochen ineffizient erweisen.
Gerade die Studieneingangsphase sollte für die Herausbildung wissenschaftlicher Interessen sowie einer Grundhaltung wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens nicht unterschätzt werden. Hierzu gehören beispielsweise: das Streben nach Wahrheit; der Wille zur Objektivität; das Bemühen um gedankliche und sprachliche Präzision; die Fähigkeit, auch unbequeme Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen; das Vermögen, den eigenen Standpunkt in Zweifel zu ziehen oder das Interesse, eigenständige und weiterführende Fragestellungen zu entwickeln. Dies alles kann nicht erst in späteren Semestern gleichsam „draufgesattelt“ und nachgeholt werden. Dies alles sind auch nicht allein Fragen, die nur diejenigen betreffen, die dauerhaft in der Wissenschaft verbleiben wollen.
Deutschland hat durchaus Grund, auf seine universitäre Tradition stolz zu sein – es ist nicht das Schlechteste, was unsere Geschichte hier zu bieten hat. Demgegenüber sollte es mehr als nachdenklich stimmen, wie gering heute der Wert eines wissenschaftlichen Studiums für zahlreiche Berufe veranschlagt wird, wie leichtfertig universitäre Lehre und Forschung gegeneinander ausgespielt werden und wie schnell Wissenschaftlichkeit mit Praxisferne gleichgesetzt wird. Das Klima der gegenwärtigen Hochschulreformen läßt für die künftige geistige Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft wenig Gutes erahnen. Lehrende wie Lernende, „für die Kultur nur ein Wissensstoff ist, können Kultur nicht tradieren“. Dabei ist zu bedenken, daß bestimmte Fähigkeiten auch kollektiv verloren gehen können. Wissenschaftliche Studiengänge erfüllen innerhalb des Bildungssystems eine andere Aufgabe als stärker praxisbezogene und können nicht einfach ohne Substanzverlust durch letztere ersetzt werden. Nicht berufsqualifizierende Studiengänge sind in erster Linie entscheidend, sondern beschäftigungssichernde und begabungsangemessene Bildungsangebote, nicht ein uniformes, sondern ein differenziertes und durchlässiges Hochschulwesen.
Wer allein auf die Ausbildung schnell verwertbarer Berufsfertigkeiten, die Vermittlung eines „handwerklichen“ Instrumentariums und die Aneignung praxistauglicher Wissensbestände setzt, wird nicht bis zur Substanz der Kultur- und Geistesinhalte vordringen. Die Pflege einer wissenschaftlichen Kultur hat nicht nur einen Wert für den inneren Kreis einer jeden Fachdisziplin: Jede Wissenschaft besitzt eine kulturelle Bedeutung, die über ihren eigenen Bereich hinausweist. Eine Gesellschaft, die allzu leichtfertig auf die breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Gegenständen unseres Geisteslebens, der Kultur und der Natur meint verzichten zu können, wird an Humanität, Kreativität, schöpferischer Kraft und geistiger Vitalität verlieren. Deutschland ist gerade um seiner Wettbewerbsfähigkeit willen auf eine starke Wissenschaftsorientierung seines Bildungssystems angewiesen – hierzu gehört die Wissenschaftsorientierung unseres Schulsystems ebenso wie eine hochwertige Wissenschaftspropädeutik auf dem Weg zur Hochschulreife und nicht zuletzt wissenschaftlich starke und gut ausgestattete Universitäten.

(5) Schlußwort

Ich komme zum Schluß: Kernziel von Bildung ist die Ermächtigung des Individuums zu einem selbstbestimmten Leben – ein Ziel, das aber auch gesellschaftlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Dem privaten Nutzen von Bildung stehen zugleich hohe externe, öffentliche Effekte gegenüber. Mitbestimmung, die produktive Beteiligung am Gemeinwesen und der aktive Einsatz für das Gemeinwohl, die für eine demokratische Gesellschaft zentral sind, setzen gerade jene Selbständigkeit im Denken und Handeln voraus, die ohne Bildung nicht zu erreichen sein wird. Nicht zuletzt deshalb bedarf Bildung der Freiheit und Vielfalt.
Bildung bereitet lebenslang auf das Leben vor, indem sie gerade nicht auf das Leben vorbereitet. Das mag paradox klingen: Bildung ist stets schöpferisch und geht immer über Gewohnheit, Konvention und Routine hinaus. Bildung, die ohne kritische Distanz gegenüber äußeren Vorgaben, nichtpädagogischen Ansprüchen und gesellschaftlichen Erwartungen, ohne Widerständigkeit und ohne den Mut zum Widerspruch auskommen will, verdient diesen Namen letztlich nicht mehr.
Warum es aber sinnvoll ist, sich zu bilden, verlangt eine Antwort, die sich nicht allein auf bloße Zweckmäßigkeit gründet, sondern aus Sinnressourcen schöpft, die über notwendige Funktionsüberlegungen hinausgehen. Um diesen Lebenssinn muß sich jede einzelne Person selbst mühen, über ihn darf niemand anderes verfügen. Auch kann niemand dafür garantieren, daß die individuelle Suche nach Sinn gelingt. Der Staat und die einzelnen Bildungsträger können nur die Rahmenbedingungen setzen, daß der einzelne Räume und Möglichkeitsbedingungen vorfindet, die ihm eine solche Sinnsuche ermöglichen.

Der Beitrag basisert auf einem Korreferat zu Prof. Dr. Klaus Hurrelmann vor der „Fachgruppe Anbieter“ im „Forum DistancE-Learning“ am 16. April 2007 im Forum Berufsbildung in Berlin-Kreuzberg.

Ein satirisches Feuerwerk wider den politisch korrekten pädagogischen Zeitgeist

Harald Martensteins Kolumnen in der Wochenzeitung „Die Zeit“ oder im Berliner „Tagesspiegel“ gehören für viele Lehrer zur wöchentlichen Pflichtlektüre … Pointiert und scharfzüngig spießt Martenstein dabei auch immer wieder bildungspolitische Themen auf. Der Kolumnist kämpft für eine Schule, die zur Freiheit im Denken und Handeln erzieht, die den Einzelnen fördert, aber auch fordert und nicht jeder Mode des pädagogischen Zeitgeistes hinterher läuft. Dabei scheut Martenstein den Konflikt nicht; so legte er sich vor noch nicht allzu langer Zeit mit den Vertretern der Genderwissenschaften an. Sein Roman „Schwarzes Gold aus Warnemünde“ aus dem Vorjahr erzählt vordergründig die fiktive Geschichte einer DDR, die durch Ölfunde plötzlich reich geworden ist und dadurch überlebt hat; in Wirklichkeit aber handelt es sich um eine bitterböse Abrechnung mit Entwicklungen unserer freiheitlichen Gesellschaft, die zunehmend an Halt und Freigeist verliert.

Wie nicht anders zu erwarten, war auch Martensteins Hauptvortrag auf dem bundesweiten Gymnasialtag des Deutschen Philologenverbandes, des Philologenverbandes Baden-Württemberg und des Verbandes Bildungsmedien Anfang März im Stuttgarter Haus der Wirtschaft ein satirisches Feuerwerk wider die politische Korrektheit in Schule und Lehrerbildung – sprachlich wie denkerisch ein Genuss. Wenn Bildungsforscher und Bildungsreformer von Bildung redeten, sei das mitunter so, als wenn Nordkorea mehr Meinungsfreiheit fordere – sprich: Viele Bildungsreformen liefen am Ende auf „weniger Bildung“ hinaus, nicht selten mit der Begründung, dies schaffe mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit. Eine wundersame Vermehrung höherer Bildungsabschlüsse durch Niveauabsenkung im Abitur nütze am Ende weder dem Arbeitsmarkt noch dem Schüler. Der Kolumnist und Romanautor verteidigte das Sitzenbleiben und das gegliederte Schulsystem, verneinte das „Turboabitur“, das auf den minderjährigen Hochschulabsolventen zulaufe, beharrte darauf, dass Schule auch Leistung einfordern müsse, und er lobte die Lehrer: Dass er heute vom Schreiben leben könne und vieles mehr, habe er seinen Lehrern zu verdanken, und zwar sowohl denen, die er als Schüler geliebt, wie auch denen, die er gehasst habe. Schule dürfe sich, so Martensteins Plädoyer, nicht allzu einseitig an der Lebenswelt der Schüler orientieren: „Dann dürfte im Deutschunterricht des Gymnasiums nur noch das Buch ‚Die besten Flirt-Tipps für Jungs und Mädchen‘ gelesen werden.“ Schule sollte ihren Schülern vielmehr neue geistige Horizonte erschließen und sie über ihr momentanes Erleben hinausführen. Der langanhaltende Beifall zeigte, dass der Berliner Journalist dem Publikum aus der Seele gesprochen hatte.

Begleitet wurden die Vorträge und Workshops des Kongresses, zu dem ich als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Philologenverbandes eingeladen worden war, durch eine Bildungsmedienausstellung, auf der Verlage und andere Mediendienstleister ihre Neuheiten vorstellten. Beim Stehempfang in der Mittagspause gab es darüber hinaus zahlreiche Gelegenheiten, sich mit Kollegen und Verbandsvertretern über aktuelle bildungs- und schulpolitische Entwicklungen in Baden-Württemberg auszutauschen. So wurde beispielsweise darüber diskutiert, wie die Schule auf die aktuellen integrations- und damit verbundenen religionspolitischen Herausforderungen reagieren soll.

F.A.Z.-Leitartikel löst Leserbriefdiskussion über sozialethische Grundsatzfragen aus

Am 1. Februar 2016 hat Reinhard Bingener im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen unter der Überschrift „Zweifach in Verantwortung“ das Verhalten der Kirchen angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrise kommentiert. Im ersten Teil seines Kommentars würdigt er, wie die Kirchen durch ehrenamtliches Engagement und finanzielle Soforthilfe auf diese Krise reagieren. Im zweiten Teil geht er kritisch auf die sozialethische Beurteilung dieser Krise ein – und schreibt dabei wörtlich: „[…] jeder Vorschlag wurde umgehend als Verstoß gegen christliche Moralvorstellungen denunziert. Beide Kirchen gehörten damit zu jenen Kräften im Land, die dazu beigetragen haben, dass über Monate eine Debatte darüber verweigert wurde, wie man sogenannte Pull-Effekte noch rechtzeitig abstellen kann, um nicht in jene Existenzkrise der EU zu geraten, in die man sich inzwischen vollends hineinmanövriert hat.“

Der Leitartikel hat eine außergewöhnlich lange, sehr grundsätzliche Leserbriefdiskussion nach sich gezogen, die zentrale Konfliktlinien der sozialethischen Debatte offenlegt, über die selten derart freimütig gestritten wird.

Am 4. Februar 2016 veröffentlichte die F.A.Z. zwei Leserbriefe zu dem genannten Leitartikel, die sich kritisch mit dem Verhalten der Kirchen auseinandersetzten. Beide Leserbriefe treffen sich im Verweis auf den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, der in der aktuellen Debatte zu Tage trete. In der Zuschrift von Dr. Dagmar Wendler heißt es u. a.: „Die Haltung der Bischöfe ist auch deshalb erstaunlich, weil die unausweichliche zunehmende Islamisierung in Deutschland und Europa nicht das Christentum fördern wird.“

Am 8. Februar 2016 folgte noch einmal ein weiterer Leserbrief von Dr. Dr. h. c. Wilhelm Hüffmeier, dieses Mal mit anderer Stoßrichtung: Der Schreiber hält die Vorwürfe gegen die Kirchen für unberechtigt, springt vor allem dem Ratsvorsitzenden der EKD bei und verweist auf dessen Beitrag in der F.A.Z. vom 7. Dezember 2015. Hüffmeier stellt vor dem Hintergrund der Barmer Erklärung die Aufgabe des Staates derjenigen der Kirche gegenüber: „Demnach hat der Staat ‚nach göttlicher Anordnung die Aufgabe … für Recht und Frieden zu sorgen‘. Die Kirche hingegen hat die Pflicht, den Staat ‚an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten‘ zu erinnern.“

Hüffmeiers Leserbrief widersprach am 15. Februar 2016 Professor em. Dr. Johannes Fischer aus Zwingenberg: „Wer mit der Nächstenliebe moralischen Druck aufbaut, hat von ihr nichts begriffen.“ Der Leserbrief betont den Widerfahrnischarakter jeder Nächstenliebe und wendet sich gegen die Position der Kirchen, Nächstenliebe fälschlicherweise zum sozialethischen Prinzip aufzubauen. Zwingenbergs Argumentation läuft am Ende auf eine Kritik am Prinzip einer „Option für die Armen“ hinaus, das den größeren Teil der sozialethischen Debatte beherrscht: „Leider kennzeichnet dieser prinzipielle Charakter diejenige Ethik, die von höchsten kirchlichen Repräsentanten für das Reden und Handeln ‚der Kirchen‘ formuliert wird (so als wären ‚die Kirchen‘ die ethischen Subjekte und nicht die Menschen, die ihnen angehören). Das Prinzip heißt dann ‚Option für die Schwachen‘, und hieraus wird als Maxime für das Reden und Handeln ‚der Kirchen‘ abgeleitet, dass man den Flüchtlingen helfen muss. Freilich, wer ihnen mit dieser Begründung hilft, der hilft ihnen gerade nicht aus Nächstenliebe, das heißt in Ansehung ihrer Not, sondern eben aus Prinzip.“

Am 3. März – einen Monat später – folgte noch einmal ein Leserbrief mit ähnlicher Stoßrichtung, dieses Mal von Professor Dr. Klaus-Peter Martens. Das christliche Ethos der Nächstenliebe – so Martens – werde begrenzt durch den Bezug „wie dich selbst“: „Die Liebe reicht zwar bis zur gänzlichen Preisgabe seiner Selbst, aber das Gebot nur bis zur Grenze des Selbsterhalts.“ Sozialethisch gewendet, heißt das: Die staatliche Fürsorge findet für Martens ihre Grenze an der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Stabilität des Gemeinwesens.

Die Debatte muss weitergeführt werden – um der Sache willen. Denn es besteht die Gefahr, dass sich christlich vielleicht gutgemeinte Anliegen am Ende ins Gegenteil verkehren. Sehr pessimistisch hat dies der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg am 2. März 2016 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen in einer Replik auf den Münchner Soziologen Armin Nassehi zusammengefasst: „Geht es noch lange fort mit der Politik faktisch offener Grenzen, so wird die christdemokratische Kanzlerin gerade nicht die gewesen sein, die den Boden dafür bereitet hat, dass die Bundesrepublik ihren Status als Einwanderungsland anerkennt. Sie wird dann diejenige gewesen sein, die die Bedingungen der Möglichkeit dieser Anerkennung aufs Spiel gesetzt, vielleicht zerstört hat.“