Tagungsdokumentation: Political Correctness und Gendersprache – gesellschaftliche Sensibilisierung, Kitsch oder politische Kampfbegriffe?

Am 20. April 2022 fand im „Haus Erholung „in Mönchengladbach auf Einladung der Kommunalpolitischen Vereinigung Mönchengladbach ein Diskussionsaben unter dem Thema „Political Correctness“ und „Gendersprache“ – gesellschaftliche Sensibilisierung, Kitsch oder „Politischer Kampfbegriff“? statt. Mittlerweile liegt die Tagungsdokumentation in gedruckter Form vor, zusammen mit einem Diskussionsabend zur Frage „Was ist konservativ?“, der am 3. November 2022 ebenfalls im „Haus Erholung“ stattfand:

Axel Bernd Kunze: Vorstellung des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit, in: Arbeitskreis Stadt & Gesellschaft, hg. vom Arbeitskreis „Stadt & Gesellschaft“ der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU, Kreisverband Mönchengladbach, Essen (Ruhr): akadpress 2023, S. 9 f.

Erstveröffentlichung online unter:

Axel Bernd Kunze: Impulsvortrag Gendersprache, in: Arbeitskreis Stadt & Gesellschaft, hg. vom Arbeitskreis „Stadt & Gesellschaft“ der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU, Kreisverband Mönchengladbach, Essen (Ruhr): akadpress 2023, S. 10 – 13.

Erstveröffentlichung unter:

Vortrag: Kompromiss, Gewissen und rote Linien – warum alle drei zusammengehören

Der folgende Beitrag wurde am 17. Dezember 2022 als Vortrag auf einer wissenschaftlichen Tagung an der Universität Trier gehalten.

Freiheit verwirklicht sich im bleibenden Spannungsfeld zwischen der Achtung vor dem Einzelnen und den Interessen der Gemeinschaft. Die ethische Tradition kennt die Unterscheidung zwischen dem guten Willen und der richtigen Tat. Angesichts begrenzter Ressourcen ist das moralische Maximum keineswegs schon das politisch Richtige. Unter der Bedingung stets begrenzter Ressourcen bleibt politisch und ethisch immer wieder zu unterscheiden zwischen grundsätzlichem „Wohl-Wollen“ und abwägendem „Wohl-Tun“. Individual- und Gemeinwohlbelange, kurz- und langfristige Folgen, der mögliche Nutzen und die möglichen Übel verschiedener Handlungsoptionen sind bei einer sorgfältigen Güterabwägung differenziert wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Eine Verantwortungsethik, der dies gelingen soll, kommt nicht ohne die Anwendung ethischer Vorzugsregeln aus – ein sozialethisches Methodenwissen, das allerdings nicht mehr selbstverständlich ist, sondern zunehmend strittig wird, wie Katharina Klöcker in einer Studie zum Vergleich von katholischer und evangelischer Migrationsethik feststellte (vgl. Katharina Klöcker: Differenzierter Konsens in der Ethik am Beispiel der Flüchtlingsfrage, in: zur debatte [2020], H. 4, S. 21 f.).

Vor Jahren haben alle gerufen, Bildung sei das Wichtigste – und alles musste sich dem Thema Bildungsgerechtigkeit unterordnen. In der Coronakrise war auf einmal Gesundheit das Allerwichtigste – und alles muss dem Gesundheitsschutz untergeordnet werden. Und morgen …!? In einer politischen Debatte, die für einzelne Themen immer gleich einen absoluten Vorrang postuliert, bleibt kein Spielraum für differenzierte Abwägungsprozesse. Wo zunehmend moralisierend diskutiert wird (Haltungswissenschaft, Haltungsjournalismus, Haltung zeigen gegen …), da muss man keine ethischen Vorzugsregeln anwenden: Da gibt es nur noch Schwarz und Weiß, absolut Gut und absolut Böse. Die Folgen sind deutlich spürbar: Die Fähigkeit zur differenzierten ethischen Güter- und Übelabwägung kommt abhanden.

Vorzugsregeln verdanken sich der Erkenntnis, dass verantwortliche Urteile einer sorgfältigen Abwägung und differenzierten Begründung bedürfen. Sie verlieren allerdings dort an Bedeutung, wo es vorrangig darum geht, Haltung zu zeigen, statt hart, aber fair über kontroverse Positionen zu streiten und um das bessere Argument zu ringen. Eine affektgeleitete Politik, die sich der vergleichenden Beurteilung und rationalen Abwägung verweigert, verspielt auf Dauer an Kompetenz, Vertrauen und Überzeugungskraft. Im Folgenden soll diskutiert werden, welche Rolle dabei die politische Tugend der Kompromissfähigkeit spielt – unter Rückgriff auf zwei schon ältere, aber keineswegs überholte theologische Stimmen, die sich mit der ethischen Seite des Kompromisses beschäftigt haben.

Die Überlegungen folgen dabei folgender Gedankenkette: Situation – Kompromiss – Gewissen – Rote Linien.

1. Die Situation

Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, seine Existenz bleibt sozialem Wandel unterworfen. Im politischen Raum entstehen immer wieder neue, wechselnde Situationen, die bewältigt werden müssen. Wir erleben dies gegenwärtig sehr stark, wenn von Zeiten multipler Krisen oder auch multipler globaler Krisen die Rede ist.

Die Grundaufgabe der politischen Teilpraxis ist es, das Zusammenleben zu erhalten und zu gestalten. Die politischen Institutionen sollten dabei dazu beitragen, den Wandel im Zusammenleben gestaltbar und berechenbar zu machen. Doch behält politisches Handeln auch bei funktionierenden Institutionen unabweisbar einen deutlich situativen Charakter. Prinzipien, also ethische Auslegungsregeln, und Normen geben dabei Orientierung und entlasten von notwendigen und immer wiederkehrenden Alltagsentscheidungen zugunsten von Entscheidungen bei gravierenden oder neuartigen Konfliktlagen. Eine Norm kann als sittliches Vorzugsurteil verstanden werden, bei dem Werte unter konkreten Handlungsbedingungen abgewogen werden. Die politische Urteilsbildung erfolgt unter Abwägung längerfristig wirkender Wertpräferenzen, der Folgen der jeweiligen Handlungsalternativen für die Zukunft und der gegebenen empirischen Sachverhalte. Was in einer ganz konkreten Situation das Gute und das Bessere ist, lässt sich nicht aus Prinzipien und Normen ableiten; das muss durch Analyse der Situation und ethische Güterabwägung mit Hilfe der Prinzipien und Normen beurteilt werden.

Mit der Situation kommt die pragmatische und strategische Seite politischen Handelns in den Blick: „Politik heißt […] erträgliche Arrangements finden, Interessen miteinander vermitteln, Kompromisse einzufädeln, Verbündete finden, die richtigen Personen als Mitarbeiter wählen, den geeigneten Zeitpunkt wittern, Opposition einkalkulieren, Zustimmung erringen, Mehrheiten zusammenhalten, öffentliche Meinung beeinflussen.“ – so der Eichstätter Politikdidaktiker Bernhard Sutor in seiner Politischen Ethik (Kleine politische Ethik, Bonn 1997, S. 46). Dabei bleiben für politische Situationen, wenn diese einmal gemeinschaftlich als solche gewertet worden sind, konfligierende Problemdefinitionen, Zielsetzungen und Handlungsoptionen bestimmend. Einfach „durchzuregieren“, bleibt eine naive und gefährliche Vorstellung. Es braucht verlässliche Regeln, die miteinander konkurrierenden Interessen und Positionen zu verhandeln sowie in Aushandlung und Abstimmung zu einem Ausgleich zu bringen.

Für politische Zusammenarbeit ist nicht eine Einheitlichkeit in der politischen Meinung notwendig, die auch nur um den Preis der Freiheit möglich wäre, wohl aber eine Einigung im Wollen, politische Lösungen überhaupt anzustreben und gemeinsam auszuhandeln. Politik lebt davon, dass akzeptiert wird, zwischen einem legitimen Interessendissens auf der einen und einem notwendigen Regelkonsens auf der anderen Seite zu unterscheiden. Eine politische Tugend, die für die Wahrnehmung politischer Verantwortung unverzichtbar bleibt, ist Kompromissfähigkeit. Diese soll im Folgenden näher in den Blick genommen werden.

2. Der Kompromiss

Der politische Kompromiss hat nicht immer den besten Ruf. Er gilt mitunter als Kuhhandel, Verrat, Selbstpreisgabe oder faules Fallobst. Ja, es kann faule oder falsche Kompromisse geben. Und falsche „Kompromisslerei“ aus feiger Bequemlichkeit. Tragfähige politische Kompromisse hingegen setzen ethische Anstrengung voraus.

Der Kompromiss kann verstanden werden als eine Form handlungsorientierter Konfliktbearbeitung, bei der widersprüchliche Interessen, Standpunkte oder Positionen konstruktiv bearbeitet und zu einem Ausgleich gebracht werden sollen. Fortbestehende Differenzen werden nicht geleugnet. Doch eröffnet ein Kompromiss den beteiligten Akteuren neue Entscheidungs- und Handlungsspielräume, verlangt ihnen aber nicht ab, die eigene Identität aufzugeben. Der Kompromiss setzt einen Grundkonsens im gesellschaftlichen Ethos voraus: Der Kompromiss respektiert die verschiedenen politischen und weltanschaulichen Überzeugungen, achtet aber zugleich handlungsbezogene Entscheidungen, die auf Basis dessen gefällt werden, was aktuell und unter Beachtung der bestmöglichen Sorgfalt einsehbar ist. Das heißt dann auch: Derartige Entscheidungen sind geschichtlich überholbar und müssen immer wieder neu erarbeitet und verantwortet werden. Die Verfassung gibt hierfür den notwendigen Rahmen, hebt aber nicht die immer wieder notwendige Anstrengung zum Kompromiss auf.

Der Kompromiss ist eine bürgerlich-politische Tugend, die innerhalb der pluralen Gesellschaft ein Analogon zu den Entscheidungsmechanismen politischer Partizipation darstellt und zugleich ein Korrektiv zum Mehrheitsprinzip der Demokratie bildet.

Ich mag mich irren: Aber in der theologischen Ethik bis heute nicht übertroffen, bleibt jene Abhandlung zum Kompromiss, die Helmut Thielicke diesem in seiner „Theologischen Ethik“ gewidmet hat (vgl. Helmut Thielicke: Theologische Ethik, Bd. II: Entfaltung, Teil 1: Mensch und Welt, 5. durchges. u. wesentl. erw. Aufl., Tübingen 1986, S. 67 – 85). Für Thielicke gründet der Kompromiss in der Vorläufigkeit irdischer Existenz und einer zu Ende gehenden, der Vollendung entgegengehenden Welt. Die „Reinheit irdischer Existenz“ stoße unter diesen Vorzeichen immer an die Grenze der zur Verfügung stehenden Mittel und ihrer Eigengesetzlichkeit und mache daher Zugeständnisse an die realen Verhältnisse unumgänglich. Für Thielicke ist daher jede realistische Ethik immer schon eine „Ethik des Kompromisses“. Auch der Christ müsse „coram deo den Zwiespalt aushalten“, der sich aus dem De-facto-Kompromiss im menschlichen Leben und den radikalen Forderungen Gottes ergebe. Diesen Zwiespalt auflösen zu wollen, führe in schwärmerischen Radikalismus oder menschliche Tragik. Wenn es diesen Zwiespalt auszuhalten gilt, sagt das aber auch: Das Wissen um die Vorläufigkeit der Welt und die Notwendigkeit des Kompromisses darf nicht in dem Sinne zu einer Tugend gemacht werden, dass von vornherein ein reduziertes Sollen in Kauf genommen wird. In der Alltagssprache klingt das dann oft so: Letztlich sind wir alle korrumpiert. Und nachts sind eben alle Katzen grau.

Thielickes Position ist theologisch nicht unwidersprochen geblieben. An dieser Stelle nur ein Beispiel: So hat Gerhard Lohfink (vgl. Gesetzeserfüllung und Nachfolge. Zur Radikalität des Ethischen im Matthäusevangelium, in: Helmut Weber [Hg.]: Der ethische Kompromiß, Freiburg i. Brsg. u. a. 1984, S. 15 – 58, hier: 49 f.) seinem Hamburger Kollegen vorgeworfen, den Kompromiss pervertiert zu haben, indem er ihn generalisiert und auf den intrapersonalen Raum ausgeweitet habe. Mit der Folge, dass der Einzelne nach Thielicke praktisch gar nicht mehr anders leben könne, als beständig schlechte Kompromisse einzugehen. Lohfink hingegen will den Kompromiss strikt auf den Bereich pluralistischer Sozialgebilde beschränkt sehen und ansonsten von Güterabwägung sprechen.

Eine katholische Stimme, die sich zeitgleich wie Thielicke mit dem Kompromiss beschäftigte, war der katholische Ethiker Johannes Messner. In seinem Standardwerk zum Naturrecht (vgl. Johannes Messner: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 3., neubearb., wesentl. erw. Aufl., Innsbruck u. a. 1958, S. 721 – 724) bezeichnet er den Kompromiss als „Prüfstein der Demokratie“.

Auch für Messner zeigt sich der demokratische Konsens weniger an der Zustimmung aller an einer Entscheidung beteiligten Akteure, sondern vielmehr in einer kompromissbereiten Einigung, bei der die unterschiedlichen Meinungen weiterhin bestehen bleiben. Demokratische Mehrheiten können wechseln; die Zustimmung der unterlegenen Seite bedarf des Vertrauens, in einer anderen Streitfrage auch einmal der abstimmungsstärkeren Seite angehören zu können. Der Kompromiss, so Messner, fuße auf dem Vertrauen der einzelnen kollektiven Akteure, die an ihm beteiligt sind, in ihre eigene Gestaltungsmacht, aber genauso in die Wirkmacht der Vernunft. Beides wird beschädigt, wenn Etikettierung, Moralisierung oder Emotionalisierung das Argumentieren ersetzt.

Messner unterscheidet zwischen „echten“ und „taktischen“ Kompromissen. Der echte Kompromiss gründet auf einem möglichst weitgehenden Konsens, dem alle Beteiligten vor ihrem Gewissen zustimmen können. Für den politischen Prozess bedeutet dies, dass solche Kompromisse auch von der Opposition mitgetragen werden und auch bei geänderten Mehrheitsverhältnissen Bestand haben können. Häufiger ist hingegen der taktische Kompromiss. Politische Akteure retteten sich damit über Zeiträume, in denen die „demokratische Maschinerie“, wie Messner formuliert, ins Knirschen gerät, oder man erheischt damit die Zustimmung anderer Parteien, auf die man zwingend angewiesen ist.

Für Messner ist eine solche „Politik des kleineren Übels“ grundsätzlich berechtigt, aber sie darf nicht zum Normalfall der Politik werden. Dann drohten zwei Gefahren: Entweder verliert eine Partei auf Dauer ihre Gemeinwohlorientierung und orientiere sich einseitig an ihrer „Parteidogmatik“. Wir könnten fragen, ob wir das möglicherweise gegenwärtig in der Energiepolitik im Allgemeinen und der Kernenergiepolitik im Besonderen erleben.

Oder die ethische Anstrengung, welche der Kompromiss voraussetzt, degeneriere zum dauerhaften Opportunismus. Jedem fallen sicher politische Beispiele ein: Politiker, die sehr frei nach Luther der Devise folgen: „Hier stehe ich, ich kann auch jederzeit anders.“ Der Kompromiss beinhaltet den Willen, sich bei der politischen Lösungssuche an ethischen Prinzipien und am Allgemeinwohl zu orientieren. Für Opportunisten gilt dies nicht, weshalb Messner sehr deutlich folgert, dass sich die am Gemeinwohl orientierte Mehrheit derartig prinzipienlos agierenden politischen Akteuren verweigern sollte. Taktische Kompromisse seien auf Dauer nur begrenzt tragfähig. Wo diese aus Opportunismus überhandnehmen, untergräbt die Politik das Vertrauen, auf das sie angewiesen ist, und engt über kurz oder lang ihre eigenen Entscheidungs- und Handlungsspielräume gefährlich ein.

Dass Kompromisse ethischer Anstrengung bedürfen, bestätigt auch Thielicke: Die bismarcksche Formel von der Politik als „Kunst des Möglichen“ stellt für ihn sogar ein „Paradigma des Lebens“ (Thielicke: Theologische Ethik II/1, S. 81) überhaupt dar. Ohne Kompromisse könnte der Mensch gar nicht leben und überleben. Allerdings seien Kompromisse, nur weil wir ohne sie gar nicht auskommen können, damit keineswegs ethisch neutral. Der Kompromiss ist keineswegs so etwas wie eine mathematische Formel. Vielmehr beinhalte jeder Kompromiss eine Entscheidung, so Thielicke. Wörtlich: „Die Sach- und Personwerte, zwischen denen der Kompromiß zu vermitteln hat, können so heterogen sein, daß sachliche Kriterien überhaupt versagen und ausschließlich ein wagender Akt der Entscheidung hilft“ (ebd., S. 83).

Kompromissfindung ist ein Prozess kommunikativer Verständigung, der im Ideal als gemeinsamer Lernprozess verstanden werden kann: divergierende Standpunkte werden wahrgenommen, Argumente geprüft, Alternativen abgewogen. Kompromisse fallen in der Regel dort leichter, wo für das zur Verhandlung Stehende ein Äquivalent vorhanden ist. Der Theologe und Soziologe Nikolaus Monzel schrieb Ende der Fünfzigerjahre (im Anschluss an Messners Lehre vom Kompromiss): „Je weniger eng und notwendig ein Mittel mit einem bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Ziel verbunden ist, desto eher läßt sich ein endgültiger Kompromiß in der Wahl der Mittel rechtfertigen. Erscheint jedoch das Streitobjekt als das allein geeignete beziehungsweise als das einzige Mittel, das nicht in sich schon sittlich verwerflich ist, dann wird der so Urteilende und verantwortungsbewußt Handelnde nur einen vorläufigen Kompromiß abschließen; denn auf ein solches Mittel endgültig zu verzichten, hieße ja, das erstrebte Ziel aufzugeben“ (Nikolaus Monzel: Der Kompromiß im demokratischen Staat. Ein Beitrag zur politischen Ethik, in: Hochland 51 [1958/59], S. 237 – 247, hier: 242 [im Original sind „endgültiger“ und „vorläufigen“ kursiv hervorgehoben]).

Da politische Kompromisse in aller Regel von korporativen Akteuren geschlossen werden, kann sich die geforderte Kompromissbereitschaft nicht allein auf individuelle Tugenden stützen. Politische Organisationen sind nicht über moralische Appelle steuerbar. Es bedarf institutioneller Absicherungen, etwa geregelter Vermittlungsverfahren.

Der Kompromiss ist eine Form des friedlichen Interessenausgleichs unter Verzicht darauf, die eigene Machtüberlegenheit gewaltsam auszuspielen. Klaus Peter Rippe (Moralische Meinungsunterschiede und Politik, in: Josef Römelt: Ethik und Pluralismus, Innsbruck 1997, S. 117 – 154) nennt drei Regeln, die für beide Gesprächsseiten gelten müssen, wenn eine faire Aushandlung möglich sein soll: (1.) Der gegnerischen Partei darf die Anerkennung als moralische Position nicht versagt werden, was etwa bei Ad-hominem-Argumenten der Fall ist. (2.) Kompromissbildung darf nicht von vornherein als unmoralisch betrachtet werden. (3.) Empirische Fragen dürfen nicht in moralische Grundsatzfragen übersetzt werden.

Anders gesagt: Der Kompromiss erfordert die Freiheit aller beteiligten Akteure, sich gleichberechtigt und wohlinformiert am Aushandlungsprozess zu beteiligen. Was allerdings nicht bedeutet, wie wir noch sehen werden, alle Positionen tatsächlich gleich zu gewichten. Es bedeutet jedoch, die Gewichtung der vorgetragenen Argumente selbst in die Diskussion einzubeziehen und methodisch kontrolliert zu reflektieren.

Kompromisse werden nicht dadurch erschwert, dass programmatische Unterschiede herausgearbeitet werden, sondern dass eigentliche Gegensätze verschleiert werden und ausgleichsfähige Positionen fehlen: „Nicht das Zusammenfließen in die Einheit der spannungslosen Ungeschiedenheit, […] gilt es zu fördern, sondern das Zusammentreten, das Zusammenwirken, d. h. die Kooperation des charakteristisch je anderen gilt es zu erreichen“ (Max Müller: IV. Abhandlung. Sinn-Verwirklichung oder Über Wert und Würde des Kompromisses, in: Ders.: Der Kompromiß oder Vom Unsinn und Sinn menschlichen Lebens. Vier Abhandlungen zur historischen Daseinsstruktur zwischen Differenz und Identität, Freiburg i. Brsg./München 1980, S. 139 – 174, hier: 154 – 158).

Und noch ein letzter Gedanke zum Kompromiss: Gefährdet ist die Freiheit zum Ausgleich dort, wo die Anerkennung einer legitimen gesellschaftlichen Pluralität und die Gesprächsfähigkeit der verschiedenen Akteure gerade im Namen einer bestimmten Moral negiert und das Austragen politischer Konflikte auf diese Weise verhindert wird. Kompromissfähigkeit bleibt ein Gradmesser für (partei-)politische wie (zivil-)gesellschaftliche Gesprächsfähigkeit gleichermaßen.

3. Gewissen

„Die Schule hat die Jugend zur Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, zur Liebe zu Volk und Heimat, zum Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, zu sittlicher Haltung und beruflicher Tüchtigkeit und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen.“

So heißt es in Artikel 33 der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz. Ähnliche Beispiele lassen sich aus anderen Landesverfassungen finden. Diese Formulierung löste seinerzeit in meinen Lehrveranstaltungen hier an der Universität Trier immer wieder Verwunderung oder auch vehementen Widerspruch aus. Darf der Staat ein Bekenntnis zu Gott vorschreiben? Soll der Staat nicht vielmehr weltanschaulich neutral sein? Passt ein solcher Anspruch noch zu einer pluralen und offenen Gesellschaft? Und tatsächlich erhitzen sich gerade am Gottesbezug der Verfassung immer wieder die Gemüter. So war es bei der EU-Verfassung gewesen, so war es vor sieben Jahren einmal mehr in Schleswig-Holstein zu beobachten gewesen.

Es geht – wie  auch bei der religiösen Eidesformel – nicht um ein persönliches Credo oder ein bestimmtes konfessionelles Gottesbild, sondern um eine kulturethische Aussage. „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus.“ – so der Kulturpolitiker Thomas Sternberg (Das Kreuz – religiöses oder kulturelles Symbol? Über Kreuze in öffentlichen Gebäuden, in: engagement 31 [2013], H. 1, S. 19 – 28, hier: 24). Es geht um die Gründung der sittlichen Person, die noch einer anderen Instanz, ihrem Gewissen, gegenüber verpflichtet ist. Und es geht um die Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen – wider eine Selbstüberschätzung des Menschen, wider einen Staat, der sich absolut setzt, wider jede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag. Das Bewusstsein des Subjekts würde auf das Überlebensinteresse des Kollektivs reduziert. Der Gottesbezug hält jene Leerstelle offen, ohne die letztlich auch die Freiheit des Menschen auf der Strecke bliebe. Wir Deutschen haben dies in zwei Diktaturen schmerzlich erfahren.

Die Ideologie der Freiheit darf niemals mächtiger werden als die konkrete Freiheit des Einzelnen. Denn der Mensch muss selbst bestimmen können, wer er sein will und wie er leben will. Dies verleiht ihm eine besondere, nur ihm eigene Würde. Ernst Moritz Arndt wusste in seiner nur fragmentarisch überlieferten Bildungstheorie: „Man kann in einer gewissen Bedeutung wohl der Beste und doch sehr beschränkt sein. Der Gebildetste zeigt eben darin seines Lebens Regel, daß er nichts zur Regel macht. […] Das Gesetz macht Knechte; sobald man aus dem Freiesten ein Gesetz macht, ist das freie Leben dahin, und ohne freies Leben will ich keine Gesellschaft, denn in ihr will ich ja eben vergessen, daß ich ein Knecht bin. Man mache also keine Gesetze aus Regeln, die nur so lange gut sind, als man nicht recht sagen kann, was sie sind. Die Guten und Gebildeten müssen die Zuversicht haben, sich selbst Maß und Regel sein zu können“ (Ernst Moritz Arndts Fragmente über Menschenbildung, nach d. Originalsausgabe neu hg. v. Wilhelm Münch u. Heinrich Meisner, Langensalza 2004, S. 179.).

Die Aufgabe, Ich zu sagen, die Anstrengung echter Charakterbildung können wir nicht an andere delegieren. Wo hingegen Bildung nicht mehr als Befähigung zur Selbstbestimmung verstanden, sondern auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch beschreibbare Anpassungsleistung  reduziert wird, wo der Zusammenhang von Bildung und Erziehung aufgelöst und Geltungsansprüche geleugnet werden (was im Grunde ein Selbstwiderspruch bleibt, da auch die Leugnung einen Geltungsanspruch setzt), ersetzt Aktion die Reflexion. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus ersetzt. Ein solcher schlägt schnell in Gewalt um, da gehandelt, das Handeln aber nicht mehr als begründet ausgewiesen wird. Wir erleben das, wenn es etwa heißt: Gendern, Inklusion, Klimaneutralität – einfach machen! Am Ende geht die Achtung vor dem freien Subjekt verloren. Dies zeigt, was mit einem stabilen, leistungsfähigen und wertorientierten Kulturstaat auf dem Spiel steht.

Eine Erziehung zur „Gottesfurcht“ – oder wie anders wir davon sprechen wollen –, zur Freiheit im Denken und Handeln sowie zur sittlichen Verantwortung ist nicht operationalisierbar und intentional zu erzeugen. Sie bedarf des erzieherischen Umgangs und des lebendigen Vorbilds. Daran ist zu erinnern in Zeiten, in denen Bildung oftmals so etwas wie das neue Heilsversprechen der säkularisierten „Wissensgesellschaft“ geworden ist.

Ein Letztbezug schützt davor, den Anspruch auf Bildung quasireligiös zu überhöhen, in Gestalt einer pädagogischen Kontrollgesellschaft, einer Erziehungsdiktatur oder durch manipulative Pädagogisierung aller Lebensbereiche. Ohne Letztbezug im weitesten Sinne, so die Überzeugung der Verfassungsväter, wäre eine Bildung der sittlichen Person gar nicht denkbar. Bildung kann zwar den Raum eröffnen, die Sinnfrage zu stellen, einen letzten Lebenssinn findet der Einzelne in ihr jedoch nicht. Bildung verweist den Einzelnen auf sich selbst, seinen Lebenssinn zu suchen und jene Wahrheit zu erkennen, die ihn frei macht – frei jenseits aller menschengemachten Bildungsanstrengungen.

Der moderne Staat, der die Freiheit seiner Bürger nicht durch eine teleologische Ordnung normiert, kann nicht selbst sittliche oder geistige Zwecke setzen. Dies begrenzt den Staat: Den eigenen Bestand wie seine Produktivität wird der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat nur sichern, wenn seine Bürger zur Selbsttätigkeit freigesetzt werden. Er muss hierfür aber den notwendigen Rahmen zur produktiven Entfaltung von Freiheit setzen. Mit einem Artikel wie dem eben zitierten trifft der Verfassungsgesetzgeber eine wichtige Wertvorentscheidung. Dabei geht es um eine soziale Verantwortung für Werte und Normen, Ethos und Tradition, Kultur und Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht. Denn wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln.

Gemeinsame Orientierungswerte, sozialer Zusammenhalt und Bürgersinn stehen als Ressourcen nicht beliebig zur Verfügung. Die Fundamente, die Staat und Gesellschaft zuammenhalten, müssen gepflegt werden. Ein Gemeinwesen sollte daher mit seinen Traditionen, dem Wissen um seine kulturelle Herkunft und Identität nicht allzu verschwenderisch oder leichtfertig umgehen, wenn diese Fundamente nicht bröckeln sollen. Gerechtigkeit im Staat wird technokratisch, wenn sie nicht mehr auf den Tugenden seiner Bürger fußt. Diese bleiben unverzichtbar für ein humanes und geordnetes Zusammenleben. Unser gesellschaftliches Ethos hat eine Grundlage in der Freundschaft unter Bürgern, die auch Krisen durchstehen lässt. Sie „beruht auf der Vorzüglichkeit ihrer seelischen Veranlagung, auf der konzentrierten Pflege solcher Veranlagung im Austausch mit den Freunden sowie auf der daraus sich erbildenden vernünftigen Einsicht“(Joachim Negel: Freundschaft. Von der Vielfalt und Tiefe einer Lebensform, Freiburg i. Brsg. 2019, S. 127). Wo dieses Ethos zerfällt, setzen über kurz oder lang politische, soziale und kulturelle Verteilungskämpfe ein.

Die freiheitliche Verfassung liefert zwar Orientierungsmaßstäbe, wie die Ziele der Verfassung hingegen innerlich verwirklicht werden, bleibt Sache des mündigen Bürgers. Dem Bürger bietet dies die Möglichkeit der Wahl, bedingt aber auch einen Zwang zur Entscheidung. Es liegt an uns, die „Leerstelle“ der weltanschaulich neutralen Verfassungsordnung inhaltlich mit gelebten Orientierungswerten zu füllen. Das ist etwas anderes, als christliche Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, wie im Münsteraner Friedenssaal geschehen oder auf der Kupppel des Berliner Stadtschlosses geplant.

Erst aus dem sichtbaren Vorhandensein sich überschneidender, auch konkurrierender Orientierungswerte gewinnt die freiheitliche Verfassungsordnung inhaltliche Erfüllung und sittliche Maßstäbe. Und zu diesen gehört auch ein Wissen um die Grenzen der Kompromissbereitschaft.

4. Rote Linien

Die Rote Linie ist ein geflügeltes Wort der Politik. Bei Demonstrationen gegen die Coronapolitik waren vor einem Jahr Transparente zu sehen, auf denen stand: „Wir sind die rote Linie.“ Aktivisten der „Letzten Generation“ twitterten im März dieses Jahres: „Hier ist die rote Linie.“ – und drohten, „wenn ihr darüber geht“, mit zivilem Widerstand. Parteien berufen sich darauf, wenn sie Bereiche absichern wollen, die zum Kern ihrer Identität gehören. Für die einen ist es der Atomausstieg, für die anderen die Schwarze Null. Solche Grenzziehungen sind sehr oft ideologische oder strategische Bekenntnisse, etwa gegenüber den eigenen Anhängern oder dem Koalitionspartner.

Und doch: Politische Ethik braucht die Rote Linie.Politische Konflikte sollten nicht über Gebühr zu moralischen Ziel- oder Gewissenskonflikten aufgebaut werden. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne Wertbindung verkommt Kompromisshandeln letztlich zur Willkür. Wenn Kompromisse der ethischen Anstrengung bedürfen und ihre Verfahren sich ethischer Bewertung aussetzen müssen, beinhaltet dies ebenso, dass in bestimmten Situationen auch die Verweigerung eines Kompromisses notwendig werden und sittlich verantwortlich sein kann. Nicht alle abstimmungsfähigen Positionen sind schon von vornherein legitime Alternativen des Guten, die im Rahmen des Richtigen nebeneinander stehenbleiben können. Würden wir anderes annehmen wollen, wäre der Menschenwürdegarantie, die aller Verfassung voransteht, im Letzten der Boden entzogen.

Politische Urteilskraft braucht beides: auf der einen Seite die Bereitschaft, sich zu binden, und Loyalität, eine Bindung auch aufrechtzuerhalten; auf der anderen Seite aber auch die Bereitschaft, eigene Vorverständnisse, Motivationen und Überzeugungen immer wieder zu überprüfen und zu korrigieren.

Verantwortliche Urteilsfähigkeit in politischen Dingen bedarf der notwendigen Distanz und Kritik gegenüber den verschiedenen politischen Doktrinen, Programmen, Konzepten oder Praktiken, aber auch der notwendigen Selbstkritik gegenüber dem eigenen politischen Urteilen und Verhalten. Dies ist kein Aufruf, zur Abstinenz vom politischen oder gesellschaftlichen Leben – im Gegenteil. Wohl aber zu Nüchternheit und einem gerüttelten Maß an Skepsis gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit, wie es der frühere Salzburger Rektor, Wolfgang Beilner, ausgedrückt hat: „Man soll die eigene wie die fremde ‚Korruptionsanfälligkeit‘ in keiner Weise übesehen“ (Wolfgang Beilner: Der Christ in Staat und Gesellschaft oder Die Fleischtöpfe Israels, Graz u. a. 1982, S. 160).

Ernsthaftes Bemühen um Bildung und damit eben auch um Bildung des eigenen Gewissens bleibt eine unverzichtbare Voraussetzung für die individuelle Freiheit des politischen Urteils und der politischen Entscheidung. Denn auch wenn politische Entscheidungen kollektiv getroffen werden, entbindet dies den Einzelnen nicht, seine Zustimmung oder Ablehnung einer Parteientscheidung ethisch zu verantworten, weder als Funktionsträger noch als Mitglied. Ein wichtiger Gradmesser zur Rechtfertigung oder Ablehnung von Parteibeschlüssen bleibt dabei das Maß an Fremd- oder Selbstbindung, das ein Mitglied mit einer Entscheidung übernimmt. Bei schwerwiegender Materie stellt sich die Frage, ob eine Mitgliedschaft als solche noch aufrechterhalten werden kann oder nicht. Das Gesagte gilt allerdings nicht allein für Parteien.

Jede Entscheidung zu einer Mitgliedschaft bleibt eine Kompromissentscheidung, da wohl niemals eine vollständige Kongruenz zwischen korporativen und individuellen Zielen oder Überzeugungen angenommen werden kann – erinnern wir uns an Thielickes Wort vom Kompromiss als Paradigma menschlichen Lebens schlechthin. Jede Mitgliedschaft, jedes Mitwirken in einer Gemeinschaft vermittelt gehaltvolle soziale Erfahrungen. Zur sittlichen Verantwortung der Gemeinschaft gehört es, Individualität und freie Entfaltung ihrer einzelnen Mitglieder zu garantieren, in gegenseitigem Zusammenhalt, Verstehen und Fördern.  Dem Einzelnen ermöglicht diese Erfahrung, sich zu bilden und weiterzuentwickeln, im Ringen um gemeinsame Überzeugungen und im Streben nach gemeinsamen Zielen.

Allerdings sind gemeinsame Überzeugungen und Ziele kein fester Besitzstand. Wenn eine Organisation oder Gemeinschaft daher grundlegend ihren Charakter, ihre Wertgrundlage, ihre Programmatik oder ihre Ziele verändert, kann bei aller notwendigen Loyalität und beim bleibenden Wert langfristiger Bindungen ein Austritt die verantwortliche Konsequenz sein. Bindung und Exit sind zwei Kehrseiten ein und derselben Medaille; beide gehören für eine Ethik der Mitgliedschaft zusammen. Dabei wird ein Austritt umso schwerer fallen, je mehr es nicht allein um begrenzte, funktionale, strategische Interessengemeinschaften geht, sondern um stärker von gemeinsamen Idealen, Traditionen oder Freundschaften getragene Zusammenschlüsse.

Der Vortragende hat seinerzeit über eine Verantwortungsethik politischer Parteien aus christlich-sozialethischer Perspektive promoviert – und musste gerade für das Kapitel zur Mitgliederethik im Oberseminar deutlich streiten. Fällt es leichter, über politische Verantwortung zu sprechen, wenn diese abstrakt bleibt oder nur „die da oben“ betrifft!? Ich lasse die Frage offen.

Siebzehn Jahre nach Abschluss der Dissertation und achtundzwanzig Jahre nach Eintritt war für ihn der Moment zum Parteiaustritt gekommen. Eine Politik ohne rote Linien, wie Scholz sie in einem Interview vor etwas mehr als einem Jahr für die Coronabekämpfung ausgab, verneint nicht nur jegliche ethische Anstrengungsbereitschaft, bei den coronapolitischen Wertkonflikten einen moralisch qualifizierten Ausgleich zu finden, sondern auch die roten Linien der Verfassung. Aber damit wären wir bei einem anderen Thema, für das hier nicht mehr Raum und Zeit ist.

Was haben die Neurowissenschaften der Pädagogik zu sagen?

Aus einem Vortrag für einen Fachtag des DRK-Kreisverbandes Bad Doberan am 5. November 2022 im Technologiezentrum Warnemünde.

Die Neurowissenschaften sind in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten äußerst populär geworden. Neue Teildisziplinen an der Schnittstelle zwischen Hirnforschung sowie Geistes- und Sozialwissenschaften entstanden, so beispielsweise innerhalb der Wirtschaftswissenschaften die Neuroökonomie, innerhalb der Theologie oder Religionswissenschaft die Neurotheologie oder eben innerhalb der Pädagogik die Neurodidaktik.

Erstmals taucht der Begriff Neurodidaktik Ende der Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts beim Fachdidaktiker Gerhard Preiß auf, der damit betonen will, wie wichtig die Ergebnisse der modernen Hirnforschung für die Didaktik und die pädagogische Anwendung sind. Etwas später – Anfang der Neunzigerjahre – wird der Begriff dann von Gerhard Friedrich aufgegriffen und inhaltlich stärker konkretisiert.

Wird nun erklärbar, was bisher nur alltagstheoretisch fassbar war?

Gleich am Anfang muss ich reichlich Wasser in den Wein gießen.

Schon Friedrich betont in seiner Habilitationsschrift Anfang der Neunzigerjahre, dass die Neurowissenschaften keine eigene Didaktik zu begründen vermögen. In der Regel seien neurobiologische Verfahren (etwa bildgebende Methoden, welche Gehirnaktivitäten sichtbar machen sollen) für die pädagogische Anwendung zu unspezifisch. Neuere Erkenntnisse seien eher für die pädagogische Diagnostik zu erwarten, beispielsweise im Umgang mit Lern- und Verhaltensstörungen oder Sprachentwicklungs- und Aufmerksamkeitsstörungen.

Was haben die Neurowissenschaften, wenn überhaupt, der pädagogischen Praxis zu sagen?

Vielleicht können wir es so sagen: Sie helfen uns, das, was Lehren und Lernen ausmacht, noch einmal aus anderer Perspektive zu beschreiben, reichern unser Bild menschlicher Lernprozesse weiter an – ohne dass wir davon aber bestimmte Wunder erwarten könnten.

Die Neurowissenschaften helfen uns, die Eigengesetzlichkeiten des Geistig-Psychischen besser zu verstehen – ohne dass der Mensch damit aber allein auf seine physikalischen, chemischen oder physiologischen Bedingungen zu reduzieren wäre. Hierauf hat Gerhard Roth  [1] aufmerksam gemacht. Diese Eigengesetzlichkeiten verwundern als solche zunächst einmal nicht, insofern vieles, was wir im menschlichen Leben kennen, zwar körperliche oder naturwissenschaftlichen Grundlagen hat, mit solchen Prozessen aber keineswegs allein erklärt werden kann. Vielmehr führen die Elemente unseres geistig-psychischen Erlebens im Gehirn zu einer gewissen Autonomie geistiger Prozesse, die sich insbesondere bei der Verarbeitung neuer und für das Leben oder Überleben wichtiger Informationen als ordnungstiftende und gestaltende Faktoren zeigen.

Und damit sind wir beim Lernen.

Doch was wir als bunte Bilder vom Gehirn kennen, sind nicht einfach Abbildungen, beispielsweise von Lernprozessen. Vielmehr handelt es sich um hochverdichtete Konstrukte, welche die physiologischen Vorgänge, beispielsweise bei Lernprozessen, veranschaulichen sollen.

Die Elektroenzephalographie misst das elektrische Feld, die Magnetenzophalographie Magnetfeld, das aktive Nervenzellen erzeugen.

Bildgebende Verfahren, die funktionelle Studien zu bestimmten Hirnarealen erlauben, sind verschiedene Formen der Tomographie. Sie erzeugen Signale, die sich bildlich darstellen lassen, machen allerdings keine zeitliche Abfolge neuronaler Prozesse deutlich – anders als die Nahinfrarotspektroskopie, die allerdings nur sehr kleine Bereiche des Gehirns abbilden kann.

Neurowissenschaftliche Forschungen können Pädagogik nicht ersetzen, aber sie lassen allgemeine Aussagen darüber zu, was Lernen fördert oder behindert.

Eine mathematische Formel für menschliche Lernprozesse können die Neurowissenschaften also nicht liefern, auch deren Erkenntnisse müssen pädagogisch rekontextualisiert werden, also anschlussfähig gemacht werden an die spezifische Situation,  das lernende Individuum oder die konkrete Lerngruppe. Jede Erzieherin, jeder Erzieher weiß aus eigener Praxis, dass pädagogische Prozesse niemals standardisierbar sind. Jede Situation, jedes Kind ist immer wieder anders.

Ralph Schumacher [2] hat das Verhältnis zwischen Neurowissenschaft und Pädagogik in folgendem Bild verdeutlicht: Die Neurowissenschaft stellt keine Anleitung zum Bau eines Segelbootes zur Verfügung, aber sie gibt Hinweise, wie das pädagogisch zu konstruierende Boot auf dem weiten Meer effizient genutzt werden kann. Lernen steht in einem größeren Kontext, den pädagogische Fachkräfte didaktisch erfassen müssen und der über den Horizont der Neurowissenschaft hinausreicht. Hier sind überzogene Erwartungen, mit den Neurowissenschaften ließe sich gleichsam das Bildungssystem revolutionieren oder effizienter machen, sehr schnell deutlich zurückgenommen worden.

Aber die Neurowissenschaften können wichtige Hinweise liefern, auf die richtigen Bedingungen für gelingendes Lernen zu achten – mit dem Ziel, Kinder gut auf das Leben vorzubereiten, sie stark zu machen und zugleich widerstandsfähig, wenn Belastungen auf sie zukommen. Dabei können aus neurowissenschaftlicher Sicht Erfahrungen bestätigt werden, die schon lange aus pädagogisch-psychologischer Erfahrung oder aus der Reformpädagogik bekannt sind.

Wie lernen Kinder?

Die Suche nach dem berühmten „Nürnberger Trichter“ mag verlockend sein, wird aber pädagogisch erfolglos bleiben. Denn Lernen erfolgt nicht passiv, sondern ist ein aktiver Vorgang der Informationsverarbeitung. Dabei lassen sich Veränderungen im Gehirn des Lernenden nachweisen. Eine besondere, wenn auch keine ausschließliche Rolle, spielt der Hippocampus im Inneren des Gehirns, ein Art „Arbeitsspeicher“ (der Name bedeutet „Seepferdchen“, was an das ungefähre Aussehen dieses Teils des Gehirns erinnert).

Im Hippocampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, die verarbeitet und von dort zum Cortex zurückgesandt werden. Damit ist der Hippocampus enorm wichtig für die Gedächtniskonsolidierung, also die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Wir können von einer Struktur sprechen, die Erinnerungen entstehen lässt, während die Gedächtnisinhalte aber an verschiedenen anderen Stellen in der Großhirnrinde gespeichert werden.

Der Hippocampus ist auch für die Koordinierung der verschiedenen Gedächtnisinhalte verantwortlich. Beispielsweise besteht die „innere Karte“, die wir etwa von einer Stadt besitzen, aus zahlreichen Eindrücken, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewonnen haben. Im Hippocampus werden diese zusammengefügt, und wir können uns so orientieren.

Pädagogisch geht es bei einer neuropsychologischen Sicht auf Lernen nicht in erster Linie um die Suche nach Defiziten. Vielmehr kommt es darauf an, die Rahmenbedingungen für die Aktivität des Lernens möglichst förderlich zu gestalten. Dabei kommt es nicht allein auf die Quantität an – nach dem Motto: möglichst früh, möglichst viel. Dies war ein Denkfehler sogenannter „Hothousing“-Programme, die nach der ersten PISA-Studie in China und den USA um sich griffen.

„Hothousing“ – auf Deutsch: Treibhaus – ist eine Form der Bildung für Kinder, bei der ein Thema sehr intensiv studiert wird, um den Geist des Kindes anzuregen. Das Ziel ist es, normale oder aufgeweckte Kinder zu nehmen und sie auf ein intellektuelles Leistungsniveau zu bringen, das über der Norm liegt. Babys sollten bei diesen Programmen bereits früh mit möglichst vielen Reizen konfrontiert werden.

Es kommt vielmehr auf die Qualität der Lernprozesse an. In den frühen Jahren verändert sich das Gehirn sehr stark, daher darf die frühe Bildung für die Entwicklung des Einzelnen nicht unterschätzt werden. In den ersten zwei Lebensjahren sind die Nervenzellen als gleichmäßiges Netz verbunden, das so aber nicht erhalten bleibt. Die  synaptischen Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen – sozusagen die wichtigen „Datenbahnen“ in unserem Gehirn – nehmen zu. In den weiteren Jahren bis zur Pubertät  verstärken sich einzelne dieser Bahnen, es kommt – um im Bild zu bleiben – zu „Datenautobahnen“, die stärker, schneller und häufiger „befahren“ werden als andere.

Die Verstärkung einzelner Synapsen ist abhängig von Lernprozessen, von der Häufung der Impulse in Bezug auf bestimmte Gehirnaktivitäten, die beim Lernen eine Rolle spielen. Im Erwachsenenalter steht das bis dahin gebildete, mehr oder weniger strukturierte Netz zur Verfügung. Allerdings zeigen neuere Untersuchungen, dass unser Gehirn auch im Erwachsenenalter keineswegs starr ist. Abhängig vom „Input“, das es erhält, baut sich unser Gehirn immer wieder und weiter um. Es wurde mittlerweile nachgewiesen, dass sich im erwachsenen Gehirn im Hippocampus neue Verbindungen zwischen bestehenden Nervenzellen bilden und dass diese Neubildung mit dem Erwerb neuer Gedächtnisinhalte zusammenhängt. Man spricht von synaptischer Plastizität.

Die gespeicherten Informationen werden aber vom Gehirn nicht einfach als Abbild gespeichert, vielmehr handelt es sich um Repräsentationen in Form komplexer neuronaler Muster. Synapsen arbeiten nicht symbolisch, sie kennen nur die Aktivierung oder Hemmung durch Impulse, vereinfacht: Strom fließt oder fließt nicht.

Die Informationen in unserem Gehirn werden vielmehr durch Synapsenstärken repräsentiert. So wie wir bei der Arbeit am Computer nicht sehen, was in den einzelnen Chips abläuft, ist uns die „Arbeit“ unserer Synapsen ebenfalls nicht direkt zugänglich; nur durch aufwendige bildgebende Verfahren ist es der Neurowissenschaft gelungen, einen Teil dieser Vorgänge nachzuvollziehen.

Im Vergleich zur Computertechnik „lernt“ unser Gehirn äußerst langsam und muss durch Übung und Wiederholung beständig unterstützt werden, dafür verarbeitet und speichert es Informationen aber sehr viel komplexer. Denn es genügt nicht, dass wir beim Lernen einfach ein „Abbild“ von etwas speichern. Es kommt auf die Regel dahinter an – nur dann können wir etwas Gelerntes auch unter anderen Bedingungen und in veränderter Form wieder abrufen. Wir kennen nicht allein einen einzigen bestimmten Tisch. Wir erkennen vielmehr das Muster Tisch, auch wenn jeder einzelne von diesen ganz verschieden aussehen kann. Oder: So ist es beim Spracherwerb für Kinder beispielsweise wichtig, nicht allein einzelne Wörter zu lernen, sie müssen die Regel dahinter verstehen und neuronal verarbeiten.

Insgesamt hat die Neuropsychologie darauf aufmerksam gemacht, welch wichtige Rolle Emotionen für ein ganzheitliches, effektives Lernen spielen. Unsere neuronalen Schaltkreise werden nicht unwesentlich durch zwischenmenschliche Erfahrungen bestimmt. Zu erklären versucht wird dies mit Hilfe sogenannter Spiegelneuronen, wie Giacomo Rizzolatti besondere Nervenzellen bezeichnet hat. Ein Spiegelneuron bezeichnet eine Nervenzelle, die im Gehirn beim „Betrachten“ eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigt, als wenn der Vorgang selbst ausgeführt worden wäre – daher auch der Begriff „Spiegel“.

 Allerdings sind Forschungen in diesem Bereich, die zunächst an Primaten vorgenommen wurden, schwer auf den Menschen zu übertragen; die Untersuchung einzelner menschlicher Neuronen ist nur bei ganz bestimmten Krankheitsbildern, etwa Epilepsie, möglich. Erst seit zwölf Jahren gehen Forscher davon aus, dass Spiegelneuronen auch beim Menschen nachweisbar sind. Die Forschungen stehen aber noch sehr am Anfang, die Datenbasis beim Menschen ist noch äußerst gering. Daher bleibt Vorsicht angebracht angesichts der weitreichenden Hypothese, die immer wieder im Zusammenhang mit menschlichen Spiegelneuronen angebracht wurden.

Spiegelneuronen ermöglichen es, mitzuvollziehen, was bei anderen abgeschaut wurde. Für Kinder sind Spiegelneuronen gleichsam die „Eintrittskarte“ in die Welt, weil sie die unbewusste Tendenz zur Imitation begünstigen, z. B. im motorischen Bereich. Über Analogieschluss erfolgte die Annahme, dies gelte auch für Emotionen: Gefühlsbezogene Spiegelneuronen – so die Annahme –, ermöglichten es, sich an der Aktion eines anderen still zu beteiligen, machten empathiefähig, und würden helfen, andere intuitiv – ohne längeres Nachdenken – zu verstehen. Gesicherte Belege für eine solche Annahme fehlen allerdings noch.

Kinder lernen am Modell, am lebendigen und erlebbaren Vorbild des Pädagogen – dessen sollten sich Erzieherinnen und Erzieher immer bewusst sein. Untersuchungen haben gezeigt, dass beim Einsatz von „Lernrobotern“ die Spiegelneurone quasi ausgeschaltet sind. Aufgabe des Pädagogen ist es, sich in die Kinder hineinzuversetzen und eine Atmosphäre aufzubauen, in der Lernen Freude macht und gelingen kann. Die pädagogische Kunst besteht darin, die rechte Balance zwischen Verstehen und Führen deutlich zu machen.

Für den bekannten Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer zeigt die Gehirnforschung nicht nur, dass wir zum Lernen geboren seien und gar nicht anders könnten, als lebenslang zu lernen. Sie ermögliche uns, die Rahmenbedingungen des Lernens besser zu verstehen. Da alle Handlungen „Spuren im Gehirn“ hinterlassen, so Spitzer – umso intensiver, je häufiger sie ausgeführt werden –, sei es nicht egal, was Kinder den ganzen Tag tun. Kinder lernten deutlich schneller als Erwachsene. Das Gehirn eines Erwachsenen unterscheide sich grundlegend von dem in der Entwicklung begriffenen Kindergehirn. Handeln und Begreifen (im Wortsinn gemeint) spielten nicht nur für das Erlernen konkreter einzelner Dinge eine Rolle, sondern auch beim Erlernen allgemeinen Wissens, auch beim semantischen Gedächtnis, bei unserem Weltwissen, und sogar bei so etwas Abstraktem wie Zahlen. Darum plädiert Spitzer weiterhin für Fingerspiele statt Laptops in den Kindergärten oder für handschriftliches Schreiben und Malen mit dem Bleistift als für das  Tippen auf der Tastatur.

Allerdings sollten neurowissenschaftliche Erkenntnisse nicht mechanisch oder schematisch angewandt werden. Sie sollten in Beziehung gesetzt werden zum weiteren kulturellen Selbstverständnis des Menschen von sich selbst.

Für uns in der Elementarbildung heißt das: Die Neurowissenschaften ersetzen nicht die Didaktik oder die Pädagogik. Sie erweitern unser Bild des menschlichen Lernens ww– oder anders gesagt: Jedes Lernen hat mit neurowissenschaftlichen Vorgängen zu tun. Aber Lernen ist nicht einfach neurowissenschaftlich erklärbar.

[1] Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht, Stuttgart 52015 (vgl. S. 371).

[2] Ralph Schumacher: Wie viel Gehirnforschung verträgt die Pädagogik? Über die Grenzen der Neurodidaktik, in: Ralf Caspary (Hg.): Lernen und Gehirn, Hamburg 72012, S. 12 – 22.

Zum Weiterlesen:

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/2364/

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Onlineringvorlesung zur Wissenschaftsfreiheit

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit startet in diesem Wintersemester 2022/23 eine Onlineringvorlesung zu Aspekten der Wissenschaftsfreiheit: Voraussetzungen – Einschränkungen – Verteidigung.

Die Vorträge finden jeweils montags von 18 bis 19.30 Uhr statt.

Zugangsdaten und weitere Informationen unter:

Von Faktenfüxen und Schnaps in der Marmelade. Was ist akademische Bildung und wozu brauchen wir das?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Jan Dochhorn

(Durham/Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland)

Rede zum 161. Stiftungsfest der Leiziger Burschenschaft Alemannia zu Bamberg

am 10. September 2022

Hohes Präsid, verehrte Festversammlung, meine verehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen herzlich für die freundliche Einladung, auf diesem Festkommers eine Rede halten zu dürfen. Das Thema meines Vortrages »Von Faktenfüxen und Schnaps in der Marmelade. Was ist akademische Bildung und wozu brauchen wir das?« knüpft an ein Kinderlied an, das sich in meinem Hirn – und ausweislich des Netz­befundes in etwa so nicht nur in meinem – folgenderweise festgesetzt hat: »Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, / daß Marmelade Schnaps enthält, Schnahahahaps enthält«. Ich weiß von dem Lied aus Grundschultagen; der Text in der damals gängi­gen »Mundorgel«, einem Liederbuch für Kinder, geht etwas anders, fängt immerhin mit der Marmelade an, kommt erst später zum Schnaps, aber lassen wir es nun mal so, wie gerade zitiert. 

Was kümmert mich als Theologe der Schnaps in der Marmelade? Zunächst einmal: Es ist ja keiner drin, es sei denn, man tut ihn rein, nach dem Produktionsprozeß, und dann braucht man, um festzustellen, daß Schnaps in der Marmelade sei, keine Wissenschaft, sondern eher ein Mehr als Fünf Minuten-Gedächtnis, gegebenenfalls auch Ge­schmacks­nerven. Was die Wissenschaft hier also feststellt, wiederholt mit einer gewissen Feierlichkeit feststellt, das ist Konsens oder Nonsens, auf jeden Fall nicht tieferer Sinn, wohl aber handlungsleitend, denn aus der bedeutungsheischenden Feststellung der Wissenschaft zur Marmeladen und zum Schnaps folgt etwas im Kinderlied: »Wir essen Marmelade eimerweise, eimerweise …«.

Es ist diese Rede von Wissenschaft, diese Konzeptualisierung von Wissenschaft, der ich in diesem Vortrag mit Verärgerung zu begegnen gedenke: Die Wissenschaft im Singular tritt auf, angetan mit Laborkittel und Hornbrille, und verkündet etwas, das entweder jeder weiß oder nicht stimmt oder fragwürdig sein sollte, als eine autoritativ gültige Wahrheit, neben der es keine andere gibt, und daraus folgt etwas, zum Beispiel eine Handlungs­anweisung, die dann politisch nachzuvollziehen ist. Oder sie ist poli­tisch schon beschlossen: Es gab einmal, nach dem Ausbruch von Corona, eine Zeit, da sollten wir keine Masken tragen, unter anderem, weil diese gerade in China waren. Da stellte die Wissenschaft fest, daß Masken nichts bringen. Dann gab es Masken, nebenbei auch Unionsabgeordnete, die damit Geld verdienten, und da sollten wir Masken tragen. Die Wissenschaft stellte fest, daß Masken etwas bringen. Wer dann als Wissen­schaftler das Gegenteil behauptete, war umstritten. »Umstritten« ist anrüchig; in der Wissenschaft gibt es keinen Streit, die Wissenschaft stellt fest. Ich sage jetzt nicht, was ich selber zu Masken denke, ich denke gerade nicht im Geringsten über Masken nach, sondern darüber, wie man miteinander geredet hat, und nehme wahr: Nach einem rationalen Diskurs sieht das nicht aus. Und ein wichtiger Faktor bei dem, was da offenkundig nicht vernunftmäßig lief, ist ein Wissenschaftsbegriff, bei dem Wissen­schaft konzeptu­alisiert wird als eine singula­rische, einheitliche, unhinter­fragbare Größe, die autori­tativ etwas feststellt mit der Folge, daß wir alle etwas Bestimmtes für richtig halten und dann auch tun müssen.

Diesen Wissenschaftsbegriff nehme ich im Folgenden auf die Hörner, um ihn dort etwas herumtänzeln zu lassen und danach im hohen Bogen abzuwerfen, und dies als Theologe sowie im Namen dessen, was ich für akademische Bildung halte.

Wie das als Theologe? Ich erläutere das kurz: Henryk Broder, ein jüdischer Unbequemdenker, eher rechts- als linksgerichtet, hat einmal im Anschluß an Gilbert Keith Chesterton konstatiert, übrigens obwohl er mit Religion nicht viel am Hut hat: »Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern allen möglichen Unsinn«; er fährt dann fort mit dem Glauben an Windräder und den glücklichen Tod freilaufender Hühner; man wird auch an den Köhlerglauben von der Behebung des Fachkräftemangels durch Einwanderung von überwiegend Gering­qualifizierten denken dürfen. Ebenso wird man hinzufügen können: Sie glauben, wenn sie nicht mehr an Gott glauben, tendentiell auch eher an eine Wissenschaft, die etwas feststellt. Empirisch läßt sich dies meines Erachtens relativ mühelos zeigen: Parallel zum Niedergang der Religion als gesellschaftsformierender Macht haben seit der französischen Revolution Weltan­schauungssysteme Macht über Menschen gewon­nen, die auf Vernunft, Aufklärung, Wissenschaft zu basieren vorgeben – und sie haben mit ungewöhnlich starkem und dabei letalem Absolutheitsanspruch geherrscht. Die Inquisition mag unbekömmlich gewesen sein, aber die Massenmorde Stalins, Hitlers, Maos, Pol Pots gingen weiter – und beruhten nicht zuletzt auf Wissenschaft, die etwas festgestellt hat; der Begriff Sozialismus war dabei immer zur Hand, mit wissen­schaftlicher Begründung. Als Theologe und Christ sage ich: Es ist besser, sich von dergleichen, das als Ersatzreligion, als Götze bezeichnet werden kann, abzuwenden. Anders gesagt: Ich kenne einen Gott, dessen Autorität höher ist als andere Geltungs­ansprüche, der mich darum frei macht von solchen Geltungsan­sprüchen. Ich weiß: Letzte Sicherheit kann mir eine Wissenschaft, die etwas feststellt – was sollte das auch Großartiges sein –, nicht geben. Was letzte Sicherheit bietet, kann Wissenschaft nicht feststellen, sondern Metaphysik nur ahnen. Man mag sich damit glaubend in Beziehung setzen, was entgegen gängigem Vorurteil nichts ist für schwache Naturen, denn was man glaubt, ist unsichtbar, nicht anfaßbar wie ein materielles Ding oder pseudo-gewiß wie so vieles, das als wissenschaftlich approbierte Wahrheit daherkommt.

Was nun, ist also das viele Studieren nichts nütze? Sollen wir auf das Akademische verzichten? Das Gegenteil ist der Fall: Das Akademische besteht gerade in dem Wissen, religiös abgestützt oder nicht, daß eine Wissenschaft im Singular, die etwas feststellt, gar nicht Wissenschaft ist, sondern das Gegenteil davon. Studieren heißt: den akademischen Laden kennenlernen und dann auch wissen, wie da in der Küche gekocht wird, und das bedeutet: Als Akademiker leben wir mit Kontroverse; wir wissen, daß Wissen, sogenanntes Wissen, letzter Stand des Irrtums sein kann oder nicht so sehr Wissen ist als vielmehr eine von vielen Theorien oder gar Vorurteil und Ideologie, die sich als Theorie ausgeben. Akademiker haben das Zeug dazu, sich autoritären Zumutungen im Namen der Wissenschaft, nicht selten auch der Moral, zu widersetzen mit dem Hinweis, daß derlei Fraglosigkeiten fragwürdig seien. Ich versuche, das an zwei Beispielen zu zeigen, einem aus der hiesigen Universität und einem aus meinem Heimat­gymnasium, und dann bin ich fertig:

I. Unikat, das Campus-Magazin der Universität Bamberg, bringt in der Ausgabe 6/2022 mit Ilka Wolter, der Inhaberin des Lehrstuhls für Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Entwicklung und Lernen am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LifBi) ein Interview zum Thema Gendern. Das Interview ist auf Hochglanzpapier festgehalten; man sieht jede Menge lächelnde Gesichter ohne klaren Bezug zum Inhalt; es ist auch alles in freundlichen Farben gehalten. Wie die Grünen für ihre Politik, wie Bosch für seine Waschmaschinen, so wirbt auch die Wissenschaft auf teurem Papier, und zwar für die Wissenschaft; es ist sinnlos, in diesem Zusammenhang nach der Ökobilanz zu fragen. Rechts oben auf S. 1 blickt mit verschränkten Armen und Gewinner-Lächeln die Professorin auf Text und Leser herab, und man ahnt: Auch Frauen beherrschen das Kasperlespiel von der Wissenschaft, die etwas feststellt. Und was stellt sie nun fest?

1. Ilka Wolter ist für das Gendern. Sie verwendet vor der Femininendung den Knacklaut, und das heißt – das Beispiel stammt von mir – daß sie von Intensiv­täter:innen spricht, wenn Intensivtuende gemeint sind. Aus sozialpsycho­logischer Perspektive, stellt sie fest, gebe es »kein einziges Argument, warum man das generische Maskulinum beibehalten solle« (S. 22).

2. Ilka Wolter findet es richtig, wenn Gendern mit autoritären Mitteln durchgesetzt wird: »Man kann versuchen«, sagt sie, »Veränderung auf freiwilliger Basis herbeizuführen, aber wir versuchen das schon eine ganze Weile. Das ist die gleiche Diskussion wie die zur Frauenquote. Bei beiden Debatten lässt sich beobachten, dass reine Freiwilligkeit nicht zum gewünschten Ergebnis führt.« (S. 22).

3. Begründet wird der autoritäre Politikansatz mit psychologischem Wissen: »Die Forschung« (Singular!) »zeigt, dass für Veränderungen neue Routinen aufgebaut werden müssen. Wir brauchen Wiederholungen, damit eine Gewöhnung einsetzt und neue Sprachformen in den allgemeinen Gebrauch übergehen.« (S. 22).

4. Anlaß für die offenbar gewaltsam zu implementierende Sprache ist der Befund von Studien, denen zufolge Studienteilnehmer, wenn etwa nach Ärzten gefragt, eher an Männer denken, während dies sich anders verhalte, wenn nicht wie herkömmlich das generische Maskulinum verwendet werde (S. 23).

5. Studien zufolge trauen sich dementsprechend Mädchen eher einen Beruf zu im Falle von Beidnennung, wenn also etwa von Ärzten und Ärztinnen die Rede ist (S. 24).

6. Irritierend für Wolter ist dann allerdings Folgendes: »Gleichzeitig sinkt aber das Ansehen des Berufs[,] und die Tätigkeit wird von Grundschulkindern als weniger komplex und schwierig wahrgenommen«. (S. 24).

Wie reagieren wir nun auf dergleichen, dem Anspruch akademischer Bildung folgend? Glauben wir »der Wissenschaft« (der einen, unumstößlich wahren) und sind dann Akademiker, nicht etwa furchterregende Aluhüte, die nicht der Wissenschaft glauben, sondern dem Hirngespinst unter der metallenen Haube? Oder reagieren wir irgendwie anders? Ich bin für »irgendwie anders«, näherhin: nach dem Fragwürdigen fragen, das hier überdeckt scheint durch den Anspruch, etwas fraglos Richtiges zu verkünden, und dann Ansätze einer eigenen Positionierung entwickeln, dem Maß der je eigenen Allgemein- und Spezialbildung entsprechend. Nicht alles, was referiert wurde, können wir hier einem solchen Verfahren unterwerfen, beschränken wir uns auf einen Punkt, und zwar den Folgenden:  

Ganz ohne Kenntnis über Sozialpsychologie haben wir Anlaß zu der Annahme, daß Frau Wolter weder Demokratie noch Freiheit und Würde der Persönlichkeit respektiert. Sie benennt Verwendung der Gendersprache im Alltag als »gewünschtes Ergebnis«, das mit Freiwilligkeit allein nicht zu erreichen sei. Wer wünscht dies Ergebnis? Umfragen zufolge wünscht eine Mehrheit von ca. 70% der Bevölkerung das Gegenteil. Das ist ihr scheinbar gleichgültig. Durchgesetzt werden soll die Gendersprache durch Methoden der Konditionierung: Wiederholung soll die Leute dazu bringen, angemessen und ihren bisherigen Gewohnheiten zuwider zu sprechen (gedacht ist wohl etwa an eine Dauerbeschallung durch Gendersprache im öffentlichen Rundfunk). Verstanden wird dabei der Mensch als ein Wesen, das durch von oben aufoktroyierte und eingebleute Sprache im behavioristischen Sinne umpro­grammiert werden kann. Selbst wenn der Mensch damit richtig beschrieben sein sollte, bleibt festzuhalten: Dieser Beschreibung entsprechend mit ihm umzugehen, verletzt eklatant seine Menschenwürde; Methoden der Willensbrechung, wie sie in menschen­rechtsverletzenden Regimes gegen Dissidenten eingesetzt werden, zeichnen sich ab, wenn man in diese Richtung weitergeht. Doch ist der Mensch überhaupt richtig beschrieben, wo man ihn dermaßen als konditionierbares Wesen begreift? Als Aka­demiker haben wir vieles gelesen über den Menschen, beispielsweise in Werken der Philosophie, in der Weltliteratur, in den heiligen Schriften der Menschheit, auch in der psychoanalytischen Literatur, das uns ermutigt zu der Vermutung: Der Lichtkegel, der von der Sozialpsychologie, vielleicht auch nur von dem, was Frau Wolter unter Sozial­psychologie versteht, auf den Untersuchungsgegenstand Mensch fällt, ist wohl nicht besonders umfänglich, erhellt nicht viel. Ist hier eine Disziplin auf Abwegen, ist hier Psychologie eher Wissen um Menschenlenkung geworden, durchaus im Sinne von Mächtigen, auch Drittmittelgebern, als daß sie Menschsein wirklich erkundete?

Ich belasse es bei der Frage. Als Ergebnis können wir aber festhalten: Wir haben wenig Anlaß, dieser hochglanzvermarkteten Wissenschaft einfach zu glauben. Selbst wenn die von Frau Wolter in Anspruch genommenen Studien stimmen sollten, bleibt zutiefst frag­würdig, was sie sagt. Und dieses Fragwürdige besteht, wie meines Erach­tens auch sonst sehr häufig, in normativ-politischen Voraussetzungen, von denen der betref­fen­de Wissenschaftler ausgeht, ohne sie offenzulegen und für die Debatte freizugeben.

II. Wenden wir uns nun meinem Heimatgymnasium zu, dessen Ort ich jetzt einmal schamhaft verschweige. Was jetzt kommt, kann für Sie als gegenwärtige oder künftige Eltern relevant sein, übrigens in ähnlicher Weise, wenn Ihr Kind eine andere Schule als das Gymnasium besuchen sollte, wie es ja eigentlich der Normalfall ist: Vor der Mauer eines der Gebäude meines Heimatgymnasiums breitet sich eine große Ukraine­flagge, links versehen mit der Botschaft: »2160-Mal für Frieden« und rechts mit der Aufschrift: »Das gesamte Ulricianum« (so heißt die Anstalt) »steht für Frieden und Freiheit in Europa«, und darunter »#StandingWithUkraine«.

Das ganze Ulricianum? Gibt es nicht – wie in ganz Gallien das eine Dorf oder wie bei der überwältigenden Zustimmung für den Diktator der Herzen die eine Gegenstimme – unter den 2160 Insassen dieses Gymnasiums wenigstens den einen Bösewicht, der in Sachen Frieden und Freiheit irgendwie anderer Meinung ist, was man auch immer von dieser Meinung halten soll? Mich hat man auf diesem Gymnasium dereinst zum Selberdenken ermutigt; es war besonders der jüngst verstorbene Schulleiter – und jetzt? Das ganze Gymnasium unisono für das unfraglich Gute! Ich überlege sofort: Was wird man mit den Schülern, was mit den Lehrern, die so in dem Kollektiv der einen Stimme aufgehen, eigentlich sonst noch anstellen können oder wollen?

Lassen Sie mich etwas Ahnenkult betreiben; ich bin ja ein alter Mann. Und so frage ich mich, was wohl mein damaliger Schulleiter, Claus Goldbach, mit diesem Stück Propaganda angestellt hätte, wenn etwa ein Kollege vorgeschlagen hätte, es als einen Beweis von Haltung öffentlich auszuhängen. Nein, er hätte nicht einfach gesagt, daß ja Putin ebenso oder mindestens ebenso im Recht sei; derlei hätte, ob zutreffend oder nicht, seinen pädagogischen Absichten gar nicht entsprochen. Er hätte vielmehr mit den Schülern zu diskutieren begonnen, um in ihnen das Fragen zu wecken: »Schaut mal her, stimmt das überhaupt, daß an unser Schule alle dasselbe denken? Und was bedeutet eigentlich „StandWithUkrainie“, wo doch die Ukraine militärisch angegrif­fen wird? Ist an militärische Unterstützung gedacht? Oder an Waffen­lieferun­gen? Oder geht es eher so allgemein darum, daß man eine Kerze anmacht, eine lachhafte Kerze anmacht für die Ukraine? Wozu wollt Ihr euch bekennen, zu allgemeinem Gutsprech oder zu konkreten politischen Forderungen? Wenn etwa im Sinne der Bundesregierung zu Waffenlieferungen, wie paßt das mit der Friedens­botschaft zusammen? Die Waffen kommen bekanntlich zum Einsatz. Was bedeutet dann Für den Frieden-Sein?«

Das läßt weiterführen, und Claus Goldbach hätte es getan. Wie hätten wir dann reagiert? Manche hätten den Propaganda-Lappen mit anderen Augen gesehen, als Lappen eben, andere hätten vielleicht den guten Willen gut gefunden, der auf dem Lappen zum Ausdruck zu kommen scheint, andere hätten irgendwann von dem Gelaber – so bezeichnete man auch damals ganz gerne die Betä­tigung des Kopfes, auch zu sinnvollen Zwecken – genug gehabt und sich der Erforder­nisse des Fußballs erinnert: gut so, besser ein bißchen grobschlächtig bleiben als unisono das Angesagte blöken …  Ich schlage vor: Man rollt das Ding zusammen und hat gelernt, daß man als Staatsbürger je selbst nach reiflicher Überlegung einen Standpunkt findet, der dann auch konkret wird.

Es bereitet mir Sorgen, wenn in unserer Gesellschaft Wissenschaft unfraglich Wahres zu künden versucht und daraus unreflektiert Handlungsanweisungen ableitet, und es betrübt mich bis an die Kehle, wenn man jungen Leuten an der Schule nicht das Fragen entlockt, sondern ihnen das unfraglich Gute überstülpt – in Gestalt plakativer Botschaften, die jeden denkenden Menschen bloß beleidigen können. Wenn das so weitergeht, können wir dicht machen.

Tun wir es vorerst nicht! Ich hoffe, Lust aufs Fragen vorgeführt zu haben. Nicht den Faktenfuchs, der schon weiß, was Sache ist und was Fake, haben wir nötig, sondern den schlauen Fuchs, den gerissen-verfressenen Fuchs, der fragt. In diesem Sinne kön­nen wir auch die Tassen erheben, solange es nicht verboten ist – auf die hohe Fest­versammlung und die gute alte Alemannia Leipzig zu Bamberg, sie lebe hoch!

[1] Vgl. Henryk M. Broder: Hildegard von Bingen, Gott und ich, FAZ vom 27.7.2011.

[2] Vgl. Samira Rosenbaum: Wie beeinflusst uns Sprache? Ein Interview über Gender-Sterne und psychologische Erkenntnisse, Unikat 2022/02, 22–25.

[3] Eine der Umfragen (vom Jahre 2022) findet sich unter https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/weiter-vorbehalte-gegen-gendergerechte-sprache/.

Wovon sprechen wir, wenn wir von Bildung sprechen

Sie haben erfolgreich den schulischen Teil Ihrer Erzieherausbildung abgeschlossen. Sie schließen heute Ihre Ausbildung an einer Bildungseinrichtung, der Schule, ab. Wir entlassen Sie heute in die berufliche Praxis der Elementarbildung. Sie haben sich für einen Bildungsberuf entschieden. Ihre professionelle Aufgabe wird es künftig sein, Kinder und Jugendliche zu erziehen, ihnen aber auch Bildung zu ermöglichen – von klein auf.

Bildung erscheint im öffentlichen Diskurs mitunter als eines jener „Containerworte“, in das jeder hineinpacken kann, was er später gern darin finden möchte. Nicht selten wird zwar von Bildung gesprochen, die dann aber auf nachgelagerte Bildungszwecke verkürzt wird. Konkret: Ihr Bildungsabschluss, den Sie heute erhalten, ist gut und wichtig. Sie haben einen Bildungstitel erworben, mit dem Sie sich bewerben können. Aber was Bildung ist, erschöpft sich nicht in Prüfungen, Bildungszertifikaten oder Bildungsabschlüssen.

Wovon sprechen wir, wenn wir von Bildung sprechen? Dieser Frage möchte ich heute Abend ein wenig nachgehen.

I.

Von Bildung zu sprechen, bedeutet, vom Menschen zu sprechen. Notwendige Voraussetzung, damit wir überhaupt sinnvoll von Bildung sprechen können, ist, den Menschen als ein Wesen zu denken, das unbestimmt bildsam ist.

Wegen seiner biologisch mangelhaften Existenzausstattung und fehlenden Instinktsicherheit ist der Mensch zunächst bildungsbedürftig. Der Mensch lebt nicht – wie das Tier – in seiner Umwelt. Vielmehr, so der Anthropologe Arnold Gehlen, ist der Mensch darauf angewiesen, seine Umwelt umzugestalten. Mit anderen Worten: Er schafft Kultur. Auf der einen Seite verändert der Mensch die Wirklichkeit um sich herum so, dass sie ihm lebensdienlich ist; auf der anderen Seite holt er damit eine Vielzahl an Leistungen aus sich heraus.

Dies gelingt dem Menschen nur in eigentätiger Auseinandersetzung: durch Anregung und Aufweckung von außen auf der einen Seite, durch eigene Aktivität und eigenes Handeln auf der anderen Seite. Der Mensch muss die Welt gestalten. Und er muss sich von der Flut unmittelbarer Einflüsse entlasten. Anders gesagt: Er muss die Welt deuten und Orientierung suchen. Zugleich muss er aber auch sich selbst „gestalten“.

II.

Denn der Mensch vermag nicht einfach zu existieren. Vielmehr ist er weltoffen. Er trägt viele Möglichkeiten in sich. Er muss sich in seiner Biographie erst zu dem machen, der er sein will, in den Grenzen der Natur und des Rechts. Er ist bildsam. Wir sehen: Der Mensch ist also bildungsbedürftig und  bildungsfähig zugleich. Und zwar in verschiedene Richtungen.

Wer über Bildung spricht, so die Kölner Bildungsphilosophin Ursula Frost, „darf daher nicht nur beschreiben, was ist, sondern muss auch darüber nachdenken, was sein kann.“ [Frost, U.: Bildung als pädagogischer Grundbegriff, in: Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Paderborn 2008, 297 – 311, hier: 299] Bildung will Möglichkeiten eröffnen. Bildung schafft Alternativen. Und eine entscheidende Aufgabe von Pädagogischen Fachkräften liegt darin, Heranwachsenden Erfahrungen zu erschließen, ihnen zu helfen, Neues zu entdecken, neue Möglichkeiten und Interessen auszubilden.

Doch hat alles immer zwei Seiten: Wo es Alternativen gibt, gibt es auch den Zwang zur Entscheidung, zum Werten von Alternativen und zum Urteilen. Bildung fordert den Menschen auf, sich zu entscheiden, und zwar nicht irgendwie. Es geht darum, sachlich angemessen und sittlich verantwortlich zu entscheiden. Der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin hat dies folgendermaßen ausgedrückt:

„Bildendes Lernen ist ein Moment zwangloser Nötigung. Vorausgesetzt ist diesem Lernen die Freiheit des Denkens. Alles könnte auch ganz anders gedacht und gemacht werden. Also muß man sich entscheiden. Diese Entscheidung ist nicht vorgegeben, sondern frei. Die Entscheidung muß gesucht werden. Sie muß verantwortet werden – vor dem Anspruch auf Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn. Sie kann nur verantwortet werden, wenn der Mensch frei ist, also Möglichkeiten hat. Dieses Problem der Freiheit ist weder soziologisch noch biologisch zu lösen oder abzulösen. Hier bedarf es der pädagogischen Reflexion.“ [Ladenthin, V..: Philosophie der Bildung. Eine Zeitreise von den Vorsokratikern bis zur Postmoderne, Bonn 2007, 208 f.]

Zu Ihrem Bildungsauftrag gehört beides: Sie helfen den Kindern und Jugendlichen sachlich angemessen zu handeln, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten auszubilden, zu verfeinern, gekonnt einzusetzen. Und sie sollen den Heranwachsenden helfen, ihre Fähigkeiten verantwortlich, also lebensdienlich und gemeinwohlförderlich, einzusetzen. Wenn beides zusammenkommt, sprechen wir nicht allein von Verhalten, sondern von einem Handeln, das sinnvoll, verantwortlich und selbstbestimmt ist. Ein solches Handeln muss erlernt und ausgestaltet werden, von klein auf.

III.

Die Bildungsaufgabe gilt für jeden von uns, der hier in diesem Raum ist. Wir alle sind in diesem Sinne „unfertig“ auf die Welt gekommen und haben immer schon eine mehr oder weniger lange Bildungsbiographie hinter uns. Bildung stiftet Solidarität, weil sie alle Menschen verbindet.

Menschliches Handeln geschieht stets unter der Voraussetzung einer noch ungewissen Zukunft. Wir sind gezwungen risikoreiche Entscheidungen zu treffen. Menschliches Handeln bleibt daher immer fehlbar.

Wir hoffen, dass Sie im Laufe Ihrer Ausbildung das nötige Rüstzeug erhalten haben, verantwortliche pädagogische Entscheidungen zu fällen. Aber jede Erzieherin und jede Lehrkraft weiß: Für pädagogisches Handeln gibt es keine Erfolgsgarantie. Und das aus gutem Grund: Denn Heranwachsende sollen nicht Abziehbilder ihrer Erzieher und Lehrer werden. Sie sollen frei werden. Sie sollen selbständig werden. Sie sollen eigene Entscheidungen treffen können. Und auch diese werden risikoreich bleiben.

Der Mensch soll im Laufe seiner Bildungsbiographie seine Freiheit immer mehr kultivieren. Er soll lernen, die Aufgaben und Probleme, die Eindrücke und Anregungen, die Ansprüche und Sinnangebote, die ihm begegnen, zu ordnen und zu bewerten. Wir müssen lernen, uns über die verschiedenen Aufgaben, Herausforderungen und Weltdeutungsangebote argumentativ auszutauschen. Auch dies ist eine beständige Bildungsaufgabe.

Die sachlichen Aufgaben oder sittlichen Herausforderungen, denen wir begegnen, fordern uns zum Lernen heraus. Und das heißt: Wir müssen uns unweigerlich dazu verhalten. Auch wenn wir uns der Entscheidung verweigern, bleibt dies eine Entscheidung. Wir müssen die Ansprüche, die sich uns stellen oder die wir auch selbst an uns stellen, werten; wir müssen darüber nachdenken, wir können sie akzeptieren oder verwerfen.

Würden wir diese Aufgabe leugnen, so der schon zitierte Pädagoge Ladenthin, müsste davon ausgegangen werden, dass alle Menschen schon gebildet sind und jede Behauptung und Meinung schon wahr, jede Handlung sittlich gut und sinnvoll ist.“ [Ladenthin, V.: Was ist „Bildung“? Systematische Überlegungen zu einem aktuellen Begriff, in: Evanglische Theologie, 63. Jg., 2003, 237 – 260, hier: 240] Dann wäre im wahrsten Sinne alles schon „gleich-gültig“, damit beliebig und letztlich auch sinnlos.

Erst Bildung, also die Fähigkeit zum vernünftigen Urteilen und selbstbestimmten Entscheiden, ermöglicht Freiheit, und zwar: Freiheit zu Urteil und Kritik, Freiheit zum Stellungnehmen.

IV.

Die Bildungsaufgabe gilt zu allen Zeiten. Zum pädagogischen Zentralbegriff hat sich Bildung aber erst in der Neuzeit entwickelt. Der Mensch wird immer weniger in eine vorbestimmte Lebensbahn hineingeboren, die bestimmt ist durch die Herkunft, den Stand, die Tradition, die Sitte oder Religion der Familie. Dem modernen Menschen stehen viele Wahlmöglichkeiten offen.

Auch die Ziele der Pädagogik ergeben sich in der modernen, pluralen Gesellschaft nicht mehr aufgrund einer gemeinsam geteilten Weltanschauung oder Religion. Sie werden wissen, wie unterschiedlich die kulturellen und religiösen Überzeugungen der Familien sind, die in Ihren Kindertageseinrichtungen zusammenkommen.

Und doch braucht es weiterhin eine Idee, die uns ermöglicht, zu unterscheiden, was pädagogisch genannt werden darf und was nicht, was pädagogisch sinnvoll ist und was nicht, was für Kinder und Jugendliche pädagogisch förderlich ist und was nicht.

Bildung wird für die Pädagogik zum modernen Integrationsbegriff: Pädagogisch kann genannt werden, was der Idee der Bildung, der Befähigung des Einzelnen zu Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Freiheit, entspricht. An dieser Idee und diesem Anspruch muss sich jedes pädagogische Handeln messen lassen.

Wer pädagogisch handelt, muss die Freiheit des anderen, den er erziehen will, achten. Er muss die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Heranwachsenden fördern. Er darf dem anderen aber nicht vorschreiben, wie er später leben und handeln soll. Erzieherinnen und Pädagogen helfen, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie dürfen aber die Zukunft des Heranwachsenden nicht vorwegnehmen. Wer pädagogisch handelt, ist interessiert daran, dass der andere eine eigenständige Persönlichkeit wird und einen eigenen Charakter ausbildet.

V.

Und ein letzter kurzer Gedanke: Bildung hat kein Ziel, kommt nicht einfach irgendwann zum Ende. Sie bleibt eine unabgeschlossene Lebensaufgabe – auch wenn Sie heute eine wichtige Bildungsetappe mit Ihrem Abschluss erreicht haben. Ja, in einer kirchlichen Schule sei es gesagt: Am Ende macht auch die Bildung nicht frei. Letzten Sinn finden wir nur jenseits aller menschengemachten Bildungsanstrengungen, so wichtig und wertvoll diese auch sind.

In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen im Namen von Kollegium und Schulleitung ganz herzlich zum schulischen Abschluss Ihrer Ausbildung. Zugleich wünsche ich Ihnen aber auch alles Gute, Kraft und Zuversicht und nicht zuletzt Gottes Segen für die neuen Bildungswege, die vor Ihnen liegen. Bildung und Erziehung – das ist Ihr künftiger Auftrag im pädagogischen Beruf. Unser aller guten Wünsche begleiten Sie dabei.

(Schulleiterrede zur feierlichen Zeugnisvergabe an angehende Pädagogische Fachkräfte am Ende des Schuljahres 2021/22)

Verein Deutsche Sprache: Gendersprache keineswegs inklusiv

Der Verein Deutsche Sprache berichtet in seinem neuen Infobrief vom 30. April 2022 über die Diskussionsveranstaltung der Kommunalpolitischen Vereinigung Mönchengladbach zu Politischer Korrektheit und Gendersprache (vgl. Kapitel 4):

Impulsreferat: Warum „gendergerechte“ Sprache gerade nicht gerecht ist …

Das folgende Impulsreferat wurde am 20. April 2022 auf einem Diskusisonsabend der Kommunalpolitischen Vereinigung Mönchengladbach gehalten. Der Abend trug den Titel: „Political Correctness“ und „Gendersprache“ – gesellschaftliche Sensibilisierung, Kitsch oder „Politischer Kampfbegriff“?

Verehrtes Tagungspräsidium, sehr geehrte Damen und Herren!

Oder sollte ich sagen:

Sehr geehrte Teilnehmer*innen [TeilnehmerSTERNinnen],

oder gleich: sehr geehrte Teilnehmende!

So sollte ich wohl formulieren, wollte ich dem gerecht werden, was unter „geschlechterneutraler“, „gendergerechter“ oder „gendersensibler“ Sprache verkauft wird. Aus Männern oder Frauen werden Personen oder Menschen. Pluralformen sollen verhindern, dass nur ein Geschlecht angesprochen wird. Antragsteller werden zu Antragstellenden, das Rednerpult zum Redepult. Doppelnennungen nach dem Muster „Zuhörer und Zuhörerinnen“ reichen nicht mehr aus. Der Asteriskus, das „Gendersternchen“ im Wort oder zwischen verschiedenen Pronomina, soll alle sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten sprachlich sichtbar machen. In immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens wird sogenannte Gendersprache empfohlen, eingefordert oder mittlerweile vorgeschrieben: in Hochschulen und Schulen, in Medien und Kirchen, in Unternehmen und Verwaltungen. Das generische Maskulinum soll zum Verschwinden gebracht werden. Viel wäre zu sagen über eine Verwechslung des sprachlichen Genus mit dem biologischen Geschlecht oder sozialwissenschaftlichen Geschlechterkonstruktionen. Wer diese Unterschiede nicht sehen will, begeht einen Kategorienfehler. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse werden durch sprachsoziologische Erwägungen oder politische Ziele ersetzt. Wir werden auf die sprachwissenschaftliche Diskussion möglicherweise noch im Rahmen der Diskussion zu sprechen kommen. Ich  möchte mich im Folgenden auf ethische, kulturelle und politische Aspekte konzentrieren.

1. Gendersprache ist einseitig und ausgrenzend

Wenn von „geschlechterneutraler“, „gendergerechter“ oder „gendersensibler“ Sprache die Rede ist, wird unausgesprochen eine Prämisse vorausgesetzt, die bereits mehr als fraglich ist. Gendersprache ist nicht neutral, sondern fußt auf ganz bestimmten partikularen Annahmen, etwa queertheoretischen oder radikalkonstruk­tivistischen Theorien, wie sie etwa von der Philosophin Judith Butler und ihrer Schule vertreten werden. Für den radikalen Konstruktivismus liefert Wahrnehmung nicht das Bild einer bewusstseinsunabhängigen Realität. Vielmehr ist Realität eine letztlich individuelle Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung. Jede Wahrnehmung sei vollständig subjektiv. Dies gelte auch für die Konstruktion von Geschlecht, Geschlechtsidentität und Geschlechterverhältnissen.

Gendersprache besetzt den öffentlichen Raum einseitig durch radikalkonstruktivistische Theoriebildung; gegen linguistische Erkenntnisse werden grammatikalisches und biologisches Geschlecht ineinsgesetzt. Der liberale Kultur- und Verfassungsstaat und seine Institutionen, etwa Bildungseinrichtungen oder Verwaltungen, dürfen nicht einseitig Partei ergreifen oder sogar sprachwissenschaftliche Argumente gänzlich ignorieren. Die unausgesprochenen und unaufgearbeiteten Prämissen, die mit einer administrativ durchgesetzten Gendersprache transportiert werden, überwältigen.  Sprache, die allen gehört, wird durch das Gendern politisiert und moralisiert. Wer anderer Meinung ist, wird ausgegrenzt.

Gerechtigkeit im sozialen Zusammenleben schöpft aus der polaren Spannung von Freiheit und Gleichheit. Wo der freie Sprachgebrauch und der freie Diskurs über konkurrierende Theoriebildung hingegen beschnitten wird, kann auch nicht mehr von Gerechtigkeit gesprochen werden. Aber noch in anderer Hinsicht grenzt Gendersprache aus: Sie ist keineswegs inklusiv, sondern erschwert etwa den sprachlichen Zugang für Personen nichtdeutscher Muttersprache, mit Lernbehinderungen, Hör- oder Sprachbeeinträchtigungen. Und Gendersprache erhebt den Anspruch, alle sozialen Konstruktionen von Geschlecht sichtbar zu machen, reduziert diese dann aber auf ein sprachliches Zeichen, das abstrakt, künstlich und alles andere als selbsterklärend ist.

2. Gendersprache ist künstlich und kulturzerstörend

Sprache ist nicht statisch. Doch Gendersprache hat wenig mit natürlichem Sprachwandel zu tun. Gesellschaftlich hat Gendersprache weiterhin keine Mehrheit, und das aus guten Gründen. Sie ist eine Kunstsprache, die administrativ von oben durchgedrückt wird, etwa durch Dienstanweisungen, Verordnungen, Qualitätssicherungssysteme, personalrechtliche Kompetenzkataloge oder telefon­buch­dicke Sprachvorschriften.

Gendersprache bleibt ein akademisch-administratives Konstrukt, das kulturstaatliche Verpflichtungen unterläuft. Sie läuft alltagssprachlichen Prinzipien der Sprachökonomie zuwider, ist typographisch schwerfällig und zerstört Schönheit sowie Differenzierungsfähigkeit unserer Sprache. Als Pädagoge sei mir folgende Bemerkung gestattet: Wer Freude am Lesen, am Umgang mit Literatur, gar an Lyrik wecken will, kann Gendersprache nicht allen Ernstes propagieren. Wer wollte Goethes Faust schon „gendergerecht“ lesen wollen? Wer hätte seine Freude an Grimms Märchen, die klingen wie eine Verwaltungsvorlage? Oder wer möchte im Gottesdienst künftig die Psalmen mit Genderstern singen? Gendersprache vergreift sich an den Bildungsgrundlagen, Traditionen und Schönheiten unserer Kultur.

Aber auch jenseits von Lyrik und Belletristik führt Gendersprache zu deutlicher sprachlicher Verarmung, zu einem Verlust an sprachlicher Differenzierungsfähigkeit. Zwei Beispiele: Vor kurzem berichtete ein öffentlich-rechtlicher Sender über die Diskussionen im Vorfeld möglicher prorussischer Demonstrationen, die für den Samstag geplant waren. Die Rede war von „Demonstrierenden“. Zu solchen werden sie aber erst dann, wenn sie tatsächlich demonstrieren. Oder anders gesagt: Wenn alle Studenten Studierende wären, gebe es keine Studentenpartys mehr. Sprachverarmung ist das Gegenteil von Vielfalt.

Gendersprache zerstört ein zentrales Identitätsmerkmal der deutschen Kulturnation. Dies passt zu einer dekonstruktivistischen Tendenz, die Identität und kulturelle Gemeinsamkeiten in ihrer Bedeutung kleinredet. Doch ein gesellschaftliches Klima der Freiheit, Toleranz und Offenheit  benötigt einen Vorrat an kultureller Selbstverständlichkeit, der uns im Alltag den Rücken freihält, der uns produktiv und geistlich vital sein lässt.

Gendersprache hingegen politisiert und moralisiert den alltäglichen Sprachgebrauch. Wer sich den sprachpolitischen Vorschriften nicht beugt, riskiert an den Pranger gestellt zu werden. Mehr oder weniger offen, steht immer der Vorwurf im Raum, Rollenklischees und Stereotypen zu reproduzieren, zu diskriminieren und auszugrenzen. Ein falsches Wort kann ins soziale oder berufliche Abseits führen. Doch die beständige Kontrolle abweichender Gesinnungen oder Haltungen vermachtet den öffentlichen Diskurs, zerstört die intellektuelle Lebendigkeit einer Gesellschaft und führt zu einem Klima der Repression und Unfreiheit.

Hinzu kommt: Gendersprache widerspricht der amtlichen Rechtschreibung. Wer diese verpflichtend vorschreiben und administrativ zwingend durchsetzen will, zwingt andere zu einem regelwidrigen Sprachgebrauch. Ein beispielloser Vorgang, der eines Rechtsstaates unwürdig sein sollte. Nicht wer Gendersprache ablehnt, sollte sich rechtfertigen müssen, sondern wer diese gegen sprachwissenschaftliche Kriterien und bestehende Regelwerke durchzusetzen versucht.

3. Gendersprache ist maßlos und übergriffig

Freiheit meint nicht Regellosigkeit. Aus einem freiheitlichen Gesellschaftsverständnis heraus verstehe ich Freiheit als eine Freiheit, die produktiv werden soll. Eine solche Freiheit ist etwas anderes als Anarchie, Beliebigkeit oder Willkür. Zu einer solchen Freiheit gehört ein Mäßigungsgebot im öffentlichen Raum und der Verzicht auf Ideologisierung im öffentlichen Verkehr. Ideologie ist ein Modus des Diskursgebrauchs – etwa die Verwendung unausgesprochener Prämissen, von denen am Anfang die Rede war, die mehr oder weniger gewaltsam übergestülpt werden, aber nicht mehr befragt werden dürfen. Keine Theorie ist davor gefeit. Nicht selten begegnet uns Ideologisierung  frei nach dem Motto: Einfach machen! Oder mit dem Titel einer Broschüre: Einfach gendern! Wo aber nicht mehr argumentiert, sondern nur noch gehandelt wird, ersetzt Aktivismus die Reflexion. Auch dies ist eine Form der Gewalt.

Geschlechtliche Selbstidentifikation, partikulare Weltanschauungen, radikalkonstruktivistische Überzeugungen und anderes mehr kann  in privaten Kontexten ausgelebt werden. Wird daraus allerdings ein Recht, das die Forderung nach öffentlicher Bestätigung durch andere beinhaltet, läuft dies dem Mäßigungsgebot im öffentlichen Raum zuwider. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat besitzt programmatisch die Fähigkeit, unterschiedliche, subjektiv bestimmende, auch sich widersprechende Überzeugungen nebeneinander stehen zu lassen, solange nicht das System einer einzelnen Gruppe es darauf anlegt, den öffentlichen Raum zu dominieren, alleinige Deutungshoheit einfordert und daraus positive, material gehaltvolle Leistungsansprüche an Dritte ableitet. Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Handlungs- und Gewissensfreiheit anderer wären die Folge. Die menschenrechtlichen Freiheitsrechte begründen gerade keine egalitaristische Umgestaltung des öffentlichen Raumes, sondern halten die Möglichkeit offen, unterschiedliche Überzeugungen, Haltungen oder Weltanschauungen zu denken, für sich zu übernehmen und zu vertreten – auch in sprachlicher Hinsicht.

Hierfür setzt der liberale Rechts- und Kulturstaat den notwendigen Rahmen, in dem sich gelebte Freiheit und Toleranz entfalten können. Dabei darf er die Autonomie der kulturellen Sachbereiche, im Fall der Sprache etwa ihre sprachwissenschaftlichen Grundlagen, nicht nach politischem Belieben seiner Verfügungsmacht unterwerfen. Und zu diesem notwendigen Rahmen zählt auch die Sicherung einer einheitlichen Verkehrssprache, die freigehalten wird von ideologischen Zumutungen oder politischer Vermachtung. Zur Sicherung eines freiheitlichen, verlässlichen Zusammenlebens gehört auch, dass dieser Rahmen eine gewisse Beständigkeit aufweist. Stellen wir uns vor, wir hätten, vor zwanzig bis dreißig Jahren unseren öffentlichen Verkehr auf das große Binnen-I verpflichtet, das heute von Vertretern der Queertheorie längst als diskriminierend verworfen wird … Es ist gut, nicht blindlings jedem wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Trend zu folgen.

Der Gebrauch der eigenen Muttersprache gehört zum innersten Kernbereich der Persönlichkeit, der aus gutem Grund durch starke Grundrechte geschützt ist. Ein Staat oder ein Arbeitgeber, der sich anmaßt, auf die Denk- und Sprachformen seiner Staatsbürger oder Mitarbeiter Zugriff zu erheben, verletzt die Menschenwürde. Es ist gut, wenn mittlerweile, unterstützt durch den Verein für Deutsche Sprache, ein Musterprozess gegen den sprachlichen Genderleitfaden bei Audi geführt wird.

Ich komme zum Schluss: Wenn behauptet wird, das generische Maskulinum sei nicht neutral, sondern Ausdruck sprachlicher Diskriminierung, setzt dies eine Politisierung und Moralisierung unserer Sprache bereits voraus. Mitunter wird das „Gendern“ in der Sprache mit einem Gesslerhut verglichen. Nehmen wir einmal an, der Vergleich stimmt, wohlwissend, dass Vergleiche immer hinken: Einem Gesslerhut gegenüber kann man sich nicht „nichtverhalten“. Jede Haltung dem Gesslerhut gegenüber wird als Reaktion gedeutet. Und damit zieht ein permanenter Bekenntnis- und Rechtfertigungszwang ein. Der Gesslerhut war ein Machtmittel der habsburgischen Obrigkeit. Heute gibt es genügend gesellschaftliche Gesslerhüte, für die es gar keine Obrigkeit mehr braucht. Die Gendersprache ist einer davon. Die neuen Gesslerhüte versprechen Toleranz, Vielfalt und Respekt, vermachten aber hingegen den öffentlichen Diskurs und moralisieren unserer Zusammenleben. Doch Vorsicht: Dem Gesslerhut war kein dauernder Bestand beschieden. Nicht das erzwungene obrigkeitliche Wohlverhalten war am Ende stärker, sondern die Freiheit. Das gibt Hoffnung und Mut.

Studentengeschichte: Willy Aron – jüdischer Rechtsreferendar, Sozialdemokrat und Waffenstudent

Arbeitskreis der Studentenhistoriker:

Im Rahmen der Tagung „Jüdische Korporierte, jüdische Korporationen“, die gemeinsam vom Arbeitskreis der Studentenhistoriker und der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg durchgeführt wurde, fand am 20. November 2021 ein Vortrag von PD Dr. Axel Bernd Kunze statt […] Darin wird an Wilhelm Aron erinnert, genannt Willy, der sein mutiges politisches und juristisches Eintreten gegen den Nationalsozialismus mit seinem jungen Leben bezahlte. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft und sozialdemokratischen Überzeugung wurde Aron, der der BC-Verbindung Wirceburgia Würzburg angehörte, im Mai 1933 auf brutale Weise in Dachau ermordet.

Zum Weiterlesen: http://studentenhistoriker.eu/?p=3041

Mitschnitt des Vortrags zun Nachhören: https://www.youtube.com/watch?v=hGtsFsmxWT4