Vortrag: Kompromiss, Gewissen und rote Linien – warum alle drei zusammengehören

Der folgende Beitrag wurde am 17. Dezember 2022 als Vortrag auf einer wissenschaftlichen Tagung an der Universität Trier gehalten.

Freiheit verwirklicht sich im bleibenden Spannungsfeld zwischen der Achtung vor dem Einzelnen und den Interessen der Gemeinschaft. Die ethische Tradition kennt die Unterscheidung zwischen dem guten Willen und der richtigen Tat. Angesichts begrenzter Ressourcen ist das moralische Maximum keineswegs schon das politisch Richtige. Unter der Bedingung stets begrenzter Ressourcen bleibt politisch und ethisch immer wieder zu unterscheiden zwischen grundsätzlichem „Wohl-Wollen“ und abwägendem „Wohl-Tun“. Individual- und Gemeinwohlbelange, kurz- und langfristige Folgen, der mögliche Nutzen und die möglichen Übel verschiedener Handlungsoptionen sind bei einer sorgfältigen Güterabwägung differenziert wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Eine Verantwortungsethik, der dies gelingen soll, kommt nicht ohne die Anwendung ethischer Vorzugsregeln aus – ein sozialethisches Methodenwissen, das allerdings nicht mehr selbstverständlich ist, sondern zunehmend strittig wird, wie Katharina Klöcker in einer Studie zum Vergleich von katholischer und evangelischer Migrationsethik feststellte (vgl. Katharina Klöcker: Differenzierter Konsens in der Ethik am Beispiel der Flüchtlingsfrage, in: zur debatte [2020], H. 4, S. 21 f.).

Vor Jahren haben alle gerufen, Bildung sei das Wichtigste – und alles musste sich dem Thema Bildungsgerechtigkeit unterordnen. In der Coronakrise war auf einmal Gesundheit das Allerwichtigste – und alles muss dem Gesundheitsschutz untergeordnet werden. Und morgen …!? In einer politischen Debatte, die für einzelne Themen immer gleich einen absoluten Vorrang postuliert, bleibt kein Spielraum für differenzierte Abwägungsprozesse. Wo zunehmend moralisierend diskutiert wird (Haltungswissenschaft, Haltungsjournalismus, Haltung zeigen gegen …), da muss man keine ethischen Vorzugsregeln anwenden: Da gibt es nur noch Schwarz und Weiß, absolut Gut und absolut Böse. Die Folgen sind deutlich spürbar: Die Fähigkeit zur differenzierten ethischen Güter- und Übelabwägung kommt abhanden.

Vorzugsregeln verdanken sich der Erkenntnis, dass verantwortliche Urteile einer sorgfältigen Abwägung und differenzierten Begründung bedürfen. Sie verlieren allerdings dort an Bedeutung, wo es vorrangig darum geht, Haltung zu zeigen, statt hart, aber fair über kontroverse Positionen zu streiten und um das bessere Argument zu ringen. Eine affektgeleitete Politik, die sich der vergleichenden Beurteilung und rationalen Abwägung verweigert, verspielt auf Dauer an Kompetenz, Vertrauen und Überzeugungskraft. Im Folgenden soll diskutiert werden, welche Rolle dabei die politische Tugend der Kompromissfähigkeit spielt – unter Rückgriff auf zwei schon ältere, aber keineswegs überholte theologische Stimmen, die sich mit der ethischen Seite des Kompromisses beschäftigt haben.

Die Überlegungen folgen dabei folgender Gedankenkette: Situation – Kompromiss – Gewissen – Rote Linien.

1. Die Situation

Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, seine Existenz bleibt sozialem Wandel unterworfen. Im politischen Raum entstehen immer wieder neue, wechselnde Situationen, die bewältigt werden müssen. Wir erleben dies gegenwärtig sehr stark, wenn von Zeiten multipler Krisen oder auch multipler globaler Krisen die Rede ist.

Die Grundaufgabe der politischen Teilpraxis ist es, das Zusammenleben zu erhalten und zu gestalten. Die politischen Institutionen sollten dabei dazu beitragen, den Wandel im Zusammenleben gestaltbar und berechenbar zu machen. Doch behält politisches Handeln auch bei funktionierenden Institutionen unabweisbar einen deutlich situativen Charakter. Prinzipien, also ethische Auslegungsregeln, und Normen geben dabei Orientierung und entlasten von notwendigen und immer wiederkehrenden Alltagsentscheidungen zugunsten von Entscheidungen bei gravierenden oder neuartigen Konfliktlagen. Eine Norm kann als sittliches Vorzugsurteil verstanden werden, bei dem Werte unter konkreten Handlungsbedingungen abgewogen werden. Die politische Urteilsbildung erfolgt unter Abwägung längerfristig wirkender Wertpräferenzen, der Folgen der jeweiligen Handlungsalternativen für die Zukunft und der gegebenen empirischen Sachverhalte. Was in einer ganz konkreten Situation das Gute und das Bessere ist, lässt sich nicht aus Prinzipien und Normen ableiten; das muss durch Analyse der Situation und ethische Güterabwägung mit Hilfe der Prinzipien und Normen beurteilt werden.

Mit der Situation kommt die pragmatische und strategische Seite politischen Handelns in den Blick: „Politik heißt […] erträgliche Arrangements finden, Interessen miteinander vermitteln, Kompromisse einzufädeln, Verbündete finden, die richtigen Personen als Mitarbeiter wählen, den geeigneten Zeitpunkt wittern, Opposition einkalkulieren, Zustimmung erringen, Mehrheiten zusammenhalten, öffentliche Meinung beeinflussen.“ – so der Eichstätter Politikdidaktiker Bernhard Sutor in seiner Politischen Ethik (Kleine politische Ethik, Bonn 1997, S. 46). Dabei bleiben für politische Situationen, wenn diese einmal gemeinschaftlich als solche gewertet worden sind, konfligierende Problemdefinitionen, Zielsetzungen und Handlungsoptionen bestimmend. Einfach „durchzuregieren“, bleibt eine naive und gefährliche Vorstellung. Es braucht verlässliche Regeln, die miteinander konkurrierenden Interessen und Positionen zu verhandeln sowie in Aushandlung und Abstimmung zu einem Ausgleich zu bringen.

Für politische Zusammenarbeit ist nicht eine Einheitlichkeit in der politischen Meinung notwendig, die auch nur um den Preis der Freiheit möglich wäre, wohl aber eine Einigung im Wollen, politische Lösungen überhaupt anzustreben und gemeinsam auszuhandeln. Politik lebt davon, dass akzeptiert wird, zwischen einem legitimen Interessendissens auf der einen und einem notwendigen Regelkonsens auf der anderen Seite zu unterscheiden. Eine politische Tugend, die für die Wahrnehmung politischer Verantwortung unverzichtbar bleibt, ist Kompromissfähigkeit. Diese soll im Folgenden näher in den Blick genommen werden.

2. Der Kompromiss

Der politische Kompromiss hat nicht immer den besten Ruf. Er gilt mitunter als Kuhhandel, Verrat, Selbstpreisgabe oder faules Fallobst. Ja, es kann faule oder falsche Kompromisse geben. Und falsche „Kompromisslerei“ aus feiger Bequemlichkeit. Tragfähige politische Kompromisse hingegen setzen ethische Anstrengung voraus.

Der Kompromiss kann verstanden werden als eine Form handlungsorientierter Konfliktbearbeitung, bei der widersprüchliche Interessen, Standpunkte oder Positionen konstruktiv bearbeitet und zu einem Ausgleich gebracht werden sollen. Fortbestehende Differenzen werden nicht geleugnet. Doch eröffnet ein Kompromiss den beteiligten Akteuren neue Entscheidungs- und Handlungsspielräume, verlangt ihnen aber nicht ab, die eigene Identität aufzugeben. Der Kompromiss setzt einen Grundkonsens im gesellschaftlichen Ethos voraus: Der Kompromiss respektiert die verschiedenen politischen und weltanschaulichen Überzeugungen, achtet aber zugleich handlungsbezogene Entscheidungen, die auf Basis dessen gefällt werden, was aktuell und unter Beachtung der bestmöglichen Sorgfalt einsehbar ist. Das heißt dann auch: Derartige Entscheidungen sind geschichtlich überholbar und müssen immer wieder neu erarbeitet und verantwortet werden. Die Verfassung gibt hierfür den notwendigen Rahmen, hebt aber nicht die immer wieder notwendige Anstrengung zum Kompromiss auf.

Der Kompromiss ist eine bürgerlich-politische Tugend, die innerhalb der pluralen Gesellschaft ein Analogon zu den Entscheidungsmechanismen politischer Partizipation darstellt und zugleich ein Korrektiv zum Mehrheitsprinzip der Demokratie bildet.

Ich mag mich irren: Aber in der theologischen Ethik bis heute nicht übertroffen, bleibt jene Abhandlung zum Kompromiss, die Helmut Thielicke diesem in seiner „Theologischen Ethik“ gewidmet hat (vgl. Helmut Thielicke: Theologische Ethik, Bd. II: Entfaltung, Teil 1: Mensch und Welt, 5. durchges. u. wesentl. erw. Aufl., Tübingen 1986, S. 67 – 85). Für Thielicke gründet der Kompromiss in der Vorläufigkeit irdischer Existenz und einer zu Ende gehenden, der Vollendung entgegengehenden Welt. Die „Reinheit irdischer Existenz“ stoße unter diesen Vorzeichen immer an die Grenze der zur Verfügung stehenden Mittel und ihrer Eigengesetzlichkeit und mache daher Zugeständnisse an die realen Verhältnisse unumgänglich. Für Thielicke ist daher jede realistische Ethik immer schon eine „Ethik des Kompromisses“. Auch der Christ müsse „coram deo den Zwiespalt aushalten“, der sich aus dem De-facto-Kompromiss im menschlichen Leben und den radikalen Forderungen Gottes ergebe. Diesen Zwiespalt auflösen zu wollen, führe in schwärmerischen Radikalismus oder menschliche Tragik. Wenn es diesen Zwiespalt auszuhalten gilt, sagt das aber auch: Das Wissen um die Vorläufigkeit der Welt und die Notwendigkeit des Kompromisses darf nicht in dem Sinne zu einer Tugend gemacht werden, dass von vornherein ein reduziertes Sollen in Kauf genommen wird. In der Alltagssprache klingt das dann oft so: Letztlich sind wir alle korrumpiert. Und nachts sind eben alle Katzen grau.

Thielickes Position ist theologisch nicht unwidersprochen geblieben. An dieser Stelle nur ein Beispiel: So hat Gerhard Lohfink (vgl. Gesetzeserfüllung und Nachfolge. Zur Radikalität des Ethischen im Matthäusevangelium, in: Helmut Weber [Hg.]: Der ethische Kompromiß, Freiburg i. Brsg. u. a. 1984, S. 15 – 58, hier: 49 f.) seinem Hamburger Kollegen vorgeworfen, den Kompromiss pervertiert zu haben, indem er ihn generalisiert und auf den intrapersonalen Raum ausgeweitet habe. Mit der Folge, dass der Einzelne nach Thielicke praktisch gar nicht mehr anders leben könne, als beständig schlechte Kompromisse einzugehen. Lohfink hingegen will den Kompromiss strikt auf den Bereich pluralistischer Sozialgebilde beschränkt sehen und ansonsten von Güterabwägung sprechen.

Eine katholische Stimme, die sich zeitgleich wie Thielicke mit dem Kompromiss beschäftigte, war der katholische Ethiker Johannes Messner. In seinem Standardwerk zum Naturrecht (vgl. Johannes Messner: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 3., neubearb., wesentl. erw. Aufl., Innsbruck u. a. 1958, S. 721 – 724) bezeichnet er den Kompromiss als „Prüfstein der Demokratie“.

Auch für Messner zeigt sich der demokratische Konsens weniger an der Zustimmung aller an einer Entscheidung beteiligten Akteure, sondern vielmehr in einer kompromissbereiten Einigung, bei der die unterschiedlichen Meinungen weiterhin bestehen bleiben. Demokratische Mehrheiten können wechseln; die Zustimmung der unterlegenen Seite bedarf des Vertrauens, in einer anderen Streitfrage auch einmal der abstimmungsstärkeren Seite angehören zu können. Der Kompromiss, so Messner, fuße auf dem Vertrauen der einzelnen kollektiven Akteure, die an ihm beteiligt sind, in ihre eigene Gestaltungsmacht, aber genauso in die Wirkmacht der Vernunft. Beides wird beschädigt, wenn Etikettierung, Moralisierung oder Emotionalisierung das Argumentieren ersetzt.

Messner unterscheidet zwischen „echten“ und „taktischen“ Kompromissen. Der echte Kompromiss gründet auf einem möglichst weitgehenden Konsens, dem alle Beteiligten vor ihrem Gewissen zustimmen können. Für den politischen Prozess bedeutet dies, dass solche Kompromisse auch von der Opposition mitgetragen werden und auch bei geänderten Mehrheitsverhältnissen Bestand haben können. Häufiger ist hingegen der taktische Kompromiss. Politische Akteure retteten sich damit über Zeiträume, in denen die „demokratische Maschinerie“, wie Messner formuliert, ins Knirschen gerät, oder man erheischt damit die Zustimmung anderer Parteien, auf die man zwingend angewiesen ist.

Für Messner ist eine solche „Politik des kleineren Übels“ grundsätzlich berechtigt, aber sie darf nicht zum Normalfall der Politik werden. Dann drohten zwei Gefahren: Entweder verliert eine Partei auf Dauer ihre Gemeinwohlorientierung und orientiere sich einseitig an ihrer „Parteidogmatik“. Wir könnten fragen, ob wir das möglicherweise gegenwärtig in der Energiepolitik im Allgemeinen und der Kernenergiepolitik im Besonderen erleben.

Oder die ethische Anstrengung, welche der Kompromiss voraussetzt, degeneriere zum dauerhaften Opportunismus. Jedem fallen sicher politische Beispiele ein: Politiker, die sehr frei nach Luther der Devise folgen: „Hier stehe ich, ich kann auch jederzeit anders.“ Der Kompromiss beinhaltet den Willen, sich bei der politischen Lösungssuche an ethischen Prinzipien und am Allgemeinwohl zu orientieren. Für Opportunisten gilt dies nicht, weshalb Messner sehr deutlich folgert, dass sich die am Gemeinwohl orientierte Mehrheit derartig prinzipienlos agierenden politischen Akteuren verweigern sollte. Taktische Kompromisse seien auf Dauer nur begrenzt tragfähig. Wo diese aus Opportunismus überhandnehmen, untergräbt die Politik das Vertrauen, auf das sie angewiesen ist, und engt über kurz oder lang ihre eigenen Entscheidungs- und Handlungsspielräume gefährlich ein.

Dass Kompromisse ethischer Anstrengung bedürfen, bestätigt auch Thielicke: Die bismarcksche Formel von der Politik als „Kunst des Möglichen“ stellt für ihn sogar ein „Paradigma des Lebens“ (Thielicke: Theologische Ethik II/1, S. 81) überhaupt dar. Ohne Kompromisse könnte der Mensch gar nicht leben und überleben. Allerdings seien Kompromisse, nur weil wir ohne sie gar nicht auskommen können, damit keineswegs ethisch neutral. Der Kompromiss ist keineswegs so etwas wie eine mathematische Formel. Vielmehr beinhalte jeder Kompromiss eine Entscheidung, so Thielicke. Wörtlich: „Die Sach- und Personwerte, zwischen denen der Kompromiß zu vermitteln hat, können so heterogen sein, daß sachliche Kriterien überhaupt versagen und ausschließlich ein wagender Akt der Entscheidung hilft“ (ebd., S. 83).

Kompromissfindung ist ein Prozess kommunikativer Verständigung, der im Ideal als gemeinsamer Lernprozess verstanden werden kann: divergierende Standpunkte werden wahrgenommen, Argumente geprüft, Alternativen abgewogen. Kompromisse fallen in der Regel dort leichter, wo für das zur Verhandlung Stehende ein Äquivalent vorhanden ist. Der Theologe und Soziologe Nikolaus Monzel schrieb Ende der Fünfzigerjahre (im Anschluss an Messners Lehre vom Kompromiss): „Je weniger eng und notwendig ein Mittel mit einem bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Ziel verbunden ist, desto eher läßt sich ein endgültiger Kompromiß in der Wahl der Mittel rechtfertigen. Erscheint jedoch das Streitobjekt als das allein geeignete beziehungsweise als das einzige Mittel, das nicht in sich schon sittlich verwerflich ist, dann wird der so Urteilende und verantwortungsbewußt Handelnde nur einen vorläufigen Kompromiß abschließen; denn auf ein solches Mittel endgültig zu verzichten, hieße ja, das erstrebte Ziel aufzugeben“ (Nikolaus Monzel: Der Kompromiß im demokratischen Staat. Ein Beitrag zur politischen Ethik, in: Hochland 51 [1958/59], S. 237 – 247, hier: 242 [im Original sind „endgültiger“ und „vorläufigen“ kursiv hervorgehoben]).

Da politische Kompromisse in aller Regel von korporativen Akteuren geschlossen werden, kann sich die geforderte Kompromissbereitschaft nicht allein auf individuelle Tugenden stützen. Politische Organisationen sind nicht über moralische Appelle steuerbar. Es bedarf institutioneller Absicherungen, etwa geregelter Vermittlungsverfahren.

Der Kompromiss ist eine Form des friedlichen Interessenausgleichs unter Verzicht darauf, die eigene Machtüberlegenheit gewaltsam auszuspielen. Klaus Peter Rippe (Moralische Meinungsunterschiede und Politik, in: Josef Römelt: Ethik und Pluralismus, Innsbruck 1997, S. 117 – 154) nennt drei Regeln, die für beide Gesprächsseiten gelten müssen, wenn eine faire Aushandlung möglich sein soll: (1.) Der gegnerischen Partei darf die Anerkennung als moralische Position nicht versagt werden, was etwa bei Ad-hominem-Argumenten der Fall ist. (2.) Kompromissbildung darf nicht von vornherein als unmoralisch betrachtet werden. (3.) Empirische Fragen dürfen nicht in moralische Grundsatzfragen übersetzt werden.

Anders gesagt: Der Kompromiss erfordert die Freiheit aller beteiligten Akteure, sich gleichberechtigt und wohlinformiert am Aushandlungsprozess zu beteiligen. Was allerdings nicht bedeutet, wie wir noch sehen werden, alle Positionen tatsächlich gleich zu gewichten. Es bedeutet jedoch, die Gewichtung der vorgetragenen Argumente selbst in die Diskussion einzubeziehen und methodisch kontrolliert zu reflektieren.

Kompromisse werden nicht dadurch erschwert, dass programmatische Unterschiede herausgearbeitet werden, sondern dass eigentliche Gegensätze verschleiert werden und ausgleichsfähige Positionen fehlen: „Nicht das Zusammenfließen in die Einheit der spannungslosen Ungeschiedenheit, […] gilt es zu fördern, sondern das Zusammentreten, das Zusammenwirken, d. h. die Kooperation des charakteristisch je anderen gilt es zu erreichen“ (Max Müller: IV. Abhandlung. Sinn-Verwirklichung oder Über Wert und Würde des Kompromisses, in: Ders.: Der Kompromiß oder Vom Unsinn und Sinn menschlichen Lebens. Vier Abhandlungen zur historischen Daseinsstruktur zwischen Differenz und Identität, Freiburg i. Brsg./München 1980, S. 139 – 174, hier: 154 – 158).

Und noch ein letzter Gedanke zum Kompromiss: Gefährdet ist die Freiheit zum Ausgleich dort, wo die Anerkennung einer legitimen gesellschaftlichen Pluralität und die Gesprächsfähigkeit der verschiedenen Akteure gerade im Namen einer bestimmten Moral negiert und das Austragen politischer Konflikte auf diese Weise verhindert wird. Kompromissfähigkeit bleibt ein Gradmesser für (partei-)politische wie (zivil-)gesellschaftliche Gesprächsfähigkeit gleichermaßen.

3. Gewissen

„Die Schule hat die Jugend zur Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, zur Liebe zu Volk und Heimat, zum Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, zu sittlicher Haltung und beruflicher Tüchtigkeit und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen.“

So heißt es in Artikel 33 der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz. Ähnliche Beispiele lassen sich aus anderen Landesverfassungen finden. Diese Formulierung löste seinerzeit in meinen Lehrveranstaltungen hier an der Universität Trier immer wieder Verwunderung oder auch vehementen Widerspruch aus. Darf der Staat ein Bekenntnis zu Gott vorschreiben? Soll der Staat nicht vielmehr weltanschaulich neutral sein? Passt ein solcher Anspruch noch zu einer pluralen und offenen Gesellschaft? Und tatsächlich erhitzen sich gerade am Gottesbezug der Verfassung immer wieder die Gemüter. So war es bei der EU-Verfassung gewesen, so war es vor sieben Jahren einmal mehr in Schleswig-Holstein zu beobachten gewesen.

Es geht – wie  auch bei der religiösen Eidesformel – nicht um ein persönliches Credo oder ein bestimmtes konfessionelles Gottesbild, sondern um eine kulturethische Aussage. „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus.“ – so der Kulturpolitiker Thomas Sternberg (Das Kreuz – religiöses oder kulturelles Symbol? Über Kreuze in öffentlichen Gebäuden, in: engagement 31 [2013], H. 1, S. 19 – 28, hier: 24). Es geht um die Gründung der sittlichen Person, die noch einer anderen Instanz, ihrem Gewissen, gegenüber verpflichtet ist. Und es geht um die Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen – wider eine Selbstüberschätzung des Menschen, wider einen Staat, der sich absolut setzt, wider jede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag. Das Bewusstsein des Subjekts würde auf das Überlebensinteresse des Kollektivs reduziert. Der Gottesbezug hält jene Leerstelle offen, ohne die letztlich auch die Freiheit des Menschen auf der Strecke bliebe. Wir Deutschen haben dies in zwei Diktaturen schmerzlich erfahren.

Die Ideologie der Freiheit darf niemals mächtiger werden als die konkrete Freiheit des Einzelnen. Denn der Mensch muss selbst bestimmen können, wer er sein will und wie er leben will. Dies verleiht ihm eine besondere, nur ihm eigene Würde. Ernst Moritz Arndt wusste in seiner nur fragmentarisch überlieferten Bildungstheorie: „Man kann in einer gewissen Bedeutung wohl der Beste und doch sehr beschränkt sein. Der Gebildetste zeigt eben darin seines Lebens Regel, daß er nichts zur Regel macht. […] Das Gesetz macht Knechte; sobald man aus dem Freiesten ein Gesetz macht, ist das freie Leben dahin, und ohne freies Leben will ich keine Gesellschaft, denn in ihr will ich ja eben vergessen, daß ich ein Knecht bin. Man mache also keine Gesetze aus Regeln, die nur so lange gut sind, als man nicht recht sagen kann, was sie sind. Die Guten und Gebildeten müssen die Zuversicht haben, sich selbst Maß und Regel sein zu können“ (Ernst Moritz Arndts Fragmente über Menschenbildung, nach d. Originalsausgabe neu hg. v. Wilhelm Münch u. Heinrich Meisner, Langensalza 2004, S. 179.).

Die Aufgabe, Ich zu sagen, die Anstrengung echter Charakterbildung können wir nicht an andere delegieren. Wo hingegen Bildung nicht mehr als Befähigung zur Selbstbestimmung verstanden, sondern auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch beschreibbare Anpassungsleistung  reduziert wird, wo der Zusammenhang von Bildung und Erziehung aufgelöst und Geltungsansprüche geleugnet werden (was im Grunde ein Selbstwiderspruch bleibt, da auch die Leugnung einen Geltungsanspruch setzt), ersetzt Aktion die Reflexion. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus ersetzt. Ein solcher schlägt schnell in Gewalt um, da gehandelt, das Handeln aber nicht mehr als begründet ausgewiesen wird. Wir erleben das, wenn es etwa heißt: Gendern, Inklusion, Klimaneutralität – einfach machen! Am Ende geht die Achtung vor dem freien Subjekt verloren. Dies zeigt, was mit einem stabilen, leistungsfähigen und wertorientierten Kulturstaat auf dem Spiel steht.

Eine Erziehung zur „Gottesfurcht“ – oder wie anders wir davon sprechen wollen –, zur Freiheit im Denken und Handeln sowie zur sittlichen Verantwortung ist nicht operationalisierbar und intentional zu erzeugen. Sie bedarf des erzieherischen Umgangs und des lebendigen Vorbilds. Daran ist zu erinnern in Zeiten, in denen Bildung oftmals so etwas wie das neue Heilsversprechen der säkularisierten „Wissensgesellschaft“ geworden ist.

Ein Letztbezug schützt davor, den Anspruch auf Bildung quasireligiös zu überhöhen, in Gestalt einer pädagogischen Kontrollgesellschaft, einer Erziehungsdiktatur oder durch manipulative Pädagogisierung aller Lebensbereiche. Ohne Letztbezug im weitesten Sinne, so die Überzeugung der Verfassungsväter, wäre eine Bildung der sittlichen Person gar nicht denkbar. Bildung kann zwar den Raum eröffnen, die Sinnfrage zu stellen, einen letzten Lebenssinn findet der Einzelne in ihr jedoch nicht. Bildung verweist den Einzelnen auf sich selbst, seinen Lebenssinn zu suchen und jene Wahrheit zu erkennen, die ihn frei macht – frei jenseits aller menschengemachten Bildungsanstrengungen.

Der moderne Staat, der die Freiheit seiner Bürger nicht durch eine teleologische Ordnung normiert, kann nicht selbst sittliche oder geistige Zwecke setzen. Dies begrenzt den Staat: Den eigenen Bestand wie seine Produktivität wird der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat nur sichern, wenn seine Bürger zur Selbsttätigkeit freigesetzt werden. Er muss hierfür aber den notwendigen Rahmen zur produktiven Entfaltung von Freiheit setzen. Mit einem Artikel wie dem eben zitierten trifft der Verfassungsgesetzgeber eine wichtige Wertvorentscheidung. Dabei geht es um eine soziale Verantwortung für Werte und Normen, Ethos und Tradition, Kultur und Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht. Denn wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln.

Gemeinsame Orientierungswerte, sozialer Zusammenhalt und Bürgersinn stehen als Ressourcen nicht beliebig zur Verfügung. Die Fundamente, die Staat und Gesellschaft zuammenhalten, müssen gepflegt werden. Ein Gemeinwesen sollte daher mit seinen Traditionen, dem Wissen um seine kulturelle Herkunft und Identität nicht allzu verschwenderisch oder leichtfertig umgehen, wenn diese Fundamente nicht bröckeln sollen. Gerechtigkeit im Staat wird technokratisch, wenn sie nicht mehr auf den Tugenden seiner Bürger fußt. Diese bleiben unverzichtbar für ein humanes und geordnetes Zusammenleben. Unser gesellschaftliches Ethos hat eine Grundlage in der Freundschaft unter Bürgern, die auch Krisen durchstehen lässt. Sie „beruht auf der Vorzüglichkeit ihrer seelischen Veranlagung, auf der konzentrierten Pflege solcher Veranlagung im Austausch mit den Freunden sowie auf der daraus sich erbildenden vernünftigen Einsicht“(Joachim Negel: Freundschaft. Von der Vielfalt und Tiefe einer Lebensform, Freiburg i. Brsg. 2019, S. 127). Wo dieses Ethos zerfällt, setzen über kurz oder lang politische, soziale und kulturelle Verteilungskämpfe ein.

Die freiheitliche Verfassung liefert zwar Orientierungsmaßstäbe, wie die Ziele der Verfassung hingegen innerlich verwirklicht werden, bleibt Sache des mündigen Bürgers. Dem Bürger bietet dies die Möglichkeit der Wahl, bedingt aber auch einen Zwang zur Entscheidung. Es liegt an uns, die „Leerstelle“ der weltanschaulich neutralen Verfassungsordnung inhaltlich mit gelebten Orientierungswerten zu füllen. Das ist etwas anderes, als christliche Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, wie im Münsteraner Friedenssaal geschehen oder auf der Kupppel des Berliner Stadtschlosses geplant.

Erst aus dem sichtbaren Vorhandensein sich überschneidender, auch konkurrierender Orientierungswerte gewinnt die freiheitliche Verfassungsordnung inhaltliche Erfüllung und sittliche Maßstäbe. Und zu diesen gehört auch ein Wissen um die Grenzen der Kompromissbereitschaft.

4. Rote Linien

Die Rote Linie ist ein geflügeltes Wort der Politik. Bei Demonstrationen gegen die Coronapolitik waren vor einem Jahr Transparente zu sehen, auf denen stand: „Wir sind die rote Linie.“ Aktivisten der „Letzten Generation“ twitterten im März dieses Jahres: „Hier ist die rote Linie.“ – und drohten, „wenn ihr darüber geht“, mit zivilem Widerstand. Parteien berufen sich darauf, wenn sie Bereiche absichern wollen, die zum Kern ihrer Identität gehören. Für die einen ist es der Atomausstieg, für die anderen die Schwarze Null. Solche Grenzziehungen sind sehr oft ideologische oder strategische Bekenntnisse, etwa gegenüber den eigenen Anhängern oder dem Koalitionspartner.

Und doch: Politische Ethik braucht die Rote Linie.Politische Konflikte sollten nicht über Gebühr zu moralischen Ziel- oder Gewissenskonflikten aufgebaut werden. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne Wertbindung verkommt Kompromisshandeln letztlich zur Willkür. Wenn Kompromisse der ethischen Anstrengung bedürfen und ihre Verfahren sich ethischer Bewertung aussetzen müssen, beinhaltet dies ebenso, dass in bestimmten Situationen auch die Verweigerung eines Kompromisses notwendig werden und sittlich verantwortlich sein kann. Nicht alle abstimmungsfähigen Positionen sind schon von vornherein legitime Alternativen des Guten, die im Rahmen des Richtigen nebeneinander stehenbleiben können. Würden wir anderes annehmen wollen, wäre der Menschenwürdegarantie, die aller Verfassung voransteht, im Letzten der Boden entzogen.

Politische Urteilskraft braucht beides: auf der einen Seite die Bereitschaft, sich zu binden, und Loyalität, eine Bindung auch aufrechtzuerhalten; auf der anderen Seite aber auch die Bereitschaft, eigene Vorverständnisse, Motivationen und Überzeugungen immer wieder zu überprüfen und zu korrigieren.

Verantwortliche Urteilsfähigkeit in politischen Dingen bedarf der notwendigen Distanz und Kritik gegenüber den verschiedenen politischen Doktrinen, Programmen, Konzepten oder Praktiken, aber auch der notwendigen Selbstkritik gegenüber dem eigenen politischen Urteilen und Verhalten. Dies ist kein Aufruf, zur Abstinenz vom politischen oder gesellschaftlichen Leben – im Gegenteil. Wohl aber zu Nüchternheit und einem gerüttelten Maß an Skepsis gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit, wie es der frühere Salzburger Rektor, Wolfgang Beilner, ausgedrückt hat: „Man soll die eigene wie die fremde ‚Korruptionsanfälligkeit‘ in keiner Weise übesehen“ (Wolfgang Beilner: Der Christ in Staat und Gesellschaft oder Die Fleischtöpfe Israels, Graz u. a. 1982, S. 160).

Ernsthaftes Bemühen um Bildung und damit eben auch um Bildung des eigenen Gewissens bleibt eine unverzichtbare Voraussetzung für die individuelle Freiheit des politischen Urteils und der politischen Entscheidung. Denn auch wenn politische Entscheidungen kollektiv getroffen werden, entbindet dies den Einzelnen nicht, seine Zustimmung oder Ablehnung einer Parteientscheidung ethisch zu verantworten, weder als Funktionsträger noch als Mitglied. Ein wichtiger Gradmesser zur Rechtfertigung oder Ablehnung von Parteibeschlüssen bleibt dabei das Maß an Fremd- oder Selbstbindung, das ein Mitglied mit einer Entscheidung übernimmt. Bei schwerwiegender Materie stellt sich die Frage, ob eine Mitgliedschaft als solche noch aufrechterhalten werden kann oder nicht. Das Gesagte gilt allerdings nicht allein für Parteien.

Jede Entscheidung zu einer Mitgliedschaft bleibt eine Kompromissentscheidung, da wohl niemals eine vollständige Kongruenz zwischen korporativen und individuellen Zielen oder Überzeugungen angenommen werden kann – erinnern wir uns an Thielickes Wort vom Kompromiss als Paradigma menschlichen Lebens schlechthin. Jede Mitgliedschaft, jedes Mitwirken in einer Gemeinschaft vermittelt gehaltvolle soziale Erfahrungen. Zur sittlichen Verantwortung der Gemeinschaft gehört es, Individualität und freie Entfaltung ihrer einzelnen Mitglieder zu garantieren, in gegenseitigem Zusammenhalt, Verstehen und Fördern.  Dem Einzelnen ermöglicht diese Erfahrung, sich zu bilden und weiterzuentwickeln, im Ringen um gemeinsame Überzeugungen und im Streben nach gemeinsamen Zielen.

Allerdings sind gemeinsame Überzeugungen und Ziele kein fester Besitzstand. Wenn eine Organisation oder Gemeinschaft daher grundlegend ihren Charakter, ihre Wertgrundlage, ihre Programmatik oder ihre Ziele verändert, kann bei aller notwendigen Loyalität und beim bleibenden Wert langfristiger Bindungen ein Austritt die verantwortliche Konsequenz sein. Bindung und Exit sind zwei Kehrseiten ein und derselben Medaille; beide gehören für eine Ethik der Mitgliedschaft zusammen. Dabei wird ein Austritt umso schwerer fallen, je mehr es nicht allein um begrenzte, funktionale, strategische Interessengemeinschaften geht, sondern um stärker von gemeinsamen Idealen, Traditionen oder Freundschaften getragene Zusammenschlüsse.

Der Vortragende hat seinerzeit über eine Verantwortungsethik politischer Parteien aus christlich-sozialethischer Perspektive promoviert – und musste gerade für das Kapitel zur Mitgliederethik im Oberseminar deutlich streiten. Fällt es leichter, über politische Verantwortung zu sprechen, wenn diese abstrakt bleibt oder nur „die da oben“ betrifft!? Ich lasse die Frage offen.

Siebzehn Jahre nach Abschluss der Dissertation und achtundzwanzig Jahre nach Eintritt war für ihn der Moment zum Parteiaustritt gekommen. Eine Politik ohne rote Linien, wie Scholz sie in einem Interview vor etwas mehr als einem Jahr für die Coronabekämpfung ausgab, verneint nicht nur jegliche ethische Anstrengungsbereitschaft, bei den coronapolitischen Wertkonflikten einen moralisch qualifizierten Ausgleich zu finden, sondern auch die roten Linien der Verfassung. Aber damit wären wir bei einem anderen Thema, für das hier nicht mehr Raum und Zeit ist.

Theologie: Einspruch gegen die Nötigung zur Verwendung sog. „geschlechtergerechter Sprache“

Erstveröffentlichung in: Auftrag und Wahrheit. Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie 2 (2022/2023), H. 5, S. 28 – 39.

Offener Brief an die theologischen Ausbildungsstätten des deutschsprachigen Raums:

Einspruch gegen die Nötigung zur Verwendung sog. „geschlechtergerechter Sprache“

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Kommilitoninnen und Kommilitonen,

der hier vorliegende offene Brief betrifft ein inzwischen allfälliges Phänomen, das die Rede­freiheit von Dozenten gleichermaßen wie von Studenten gravierend einschränkt, an Universi­täten genauso wie an Fachhochschulen und kirchlichen Ausbildungsstätten. Es geht um die Nötigung, statt des generischen Maskulinums eine als inklusiv deklarierte Sprache zu ver­wenden. Einer Nötigung darf man sich, so lange ein Gemeinwesen freiheitlich ist, in aller Regel auch ohne Gründe verweigern. Hier soll es aber darum gehen, ihr argumentativ zu begegnen, womit sich auch der Umfang dieses Gesprächsbeitrages erklärt.

Durch Verordnungen zu sog. „geschlechter-“ oder „gendergerechter“ Sprache ist der öffentli­che Bereich dem Zugriff einer großformatigen Sprachplanung ausgesetzt, die durch Eingriffe in die gewachsene Struktur des Deutschen einen künstlichen Sprachwandel herbeizuführen sucht, der mit üblichen Wandlungsprozessen, die von breiten Kreisen der Sprachgemeinschaft getragen und vorangebracht werden, nicht zu vergleichen ist. [1]

In diesem Zusammenhang wird auch im Hochschulbereich eine zunehmende Nötigung spür­bar, sich gegenderter Sprache zu bedienen. Die Nötigung zu einem bestimmten Sprachge­brauch bedeutet grundsätzlich eine Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit von Dozenten wie Studenten. [2] Im vorliegenden Fall gilt das noch in besonderem Maß, da die philosophi­schen und linguistischen Voraussetzungen des Konzepts „geschlechtergerechter“ Sprache kei­neswegs allgemein geteilt werden. [3] Manche erweisen sich sogar schon bei oberflächlicher Prüfung als fragwürdig. Von daher bedeutet jeder Druck, „gendergerechte“ Sprache zu ver­wenden, einen Missstand, gegen den die Unterzeichnenden, die mehrheitlich Mitglieder der Fachgruppe Theologie des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit sind, Einspruch erheben.

Dass sich Dozenten auch gegen ihre eigene Überzeugung zur Verwendung gegenderter Spra­che genötigt sehen, zeigen die Ergebnisse einer Umfrage des Demoskopischen Instituts Allensbach aus dem Jahre 2021. Danach bekennen sich 80% [!] der befragten Hochschulleh­rer beiderlei Geschlechts dazu, dass es an der Universität erlaubt sein müsse, sich sog. „gen­dergerechter“ Sprache zu verweigern (84% der Männer; 67% der Frauen) [4]; zugleich gibt nahezu die Hälfte der Befragten (47%), an, dass mit erheblichem Widerstand von Seiten der Studenten oder der Universitätsleitung zu rechnen sei, wenn man sich der „gendergerechten“ Sprache tatsächlich verweigern wollte. Der zweite Wert ist in kurzer Zeit gestiegen: 2019/20 stimmten erst 40% der Befragten dieser Aussage zu. [5]

Vor diesem Hintergrund sind Berichte glaubwürdig, nach denen Studenten beklagen, dass sich der Verzicht auf die Verwendung gegenderter Sprache negativ auf die Bewertung von Studienleistungen auswirke. Laut einer vorläufigen Recherche der Frankfurter Allgemeinen Zeitung waren „Studenten an mindestens fünfzehn deutschsprachigen Hochschulen zum Gendern verpflichtet“. [6] In demselben Artikel wird auf eine „Handreichung zum Verfassen von wissenschaftlichen Arbeiten“ verwiesen, die von der Internetseite der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald heruntergeladen werden kann. Laut Titelblatt wurde sie bereits im November 2012 von der Fakultät beschlossen. [7] In ihr heißt es zum Stichwort „geschlechtergerechte Sprache“:

In einer Seminararbeit ist auf geschlechtergerechte Sprache zu achten. (…) Sprache ist einerseits ein Spiegelbild der Realität und gibt andererseits aktiv das wieder, was das Denken bestimmt. Ziel ist es, beide Geschlechter in der Seminararbeit sichtbar zu machen. Der beliebte Fußnotenhinweis auf das generische Maskulinum, in dem das andere Geschlecht „mitgemeint“ sei, gehört in die Mottenkiste – er liefert keine Lösung, sondern nur die schlichte Beschreibung des Problems! Wie falsch diese Formel sein kann, verdeutlicht folgendes Beispiel:

„Bereits um 1840 schrieben Mathematiker die ersten ‚Computerprogramme‘“. –

Bei dieser Formulierung denken wir zunächst an Männer. Dass eine Frau (Ada Lovelace) um 1840 das erste Com­puterprogramm geschrieben hat, wird hier verschwiegen und auch nicht „mitgedacht“. Damit Frauen und Männer mitgedacht werden, muss der Text geschlechtergerecht formuliert bzw. Frauen durch die Sprache sichtbar gemacht sein. Geschlechtergerechte Sprache verändert das Denken – hin zu mehr Gleichberechtigung! [8]  

Die Greifswalder Handreichung fordert die Verwendung „geschlechtergerechter“ Sprache in Seminararbeiten mit besonderem Nachdruck ein. Die entscheidende Tendenz ist aber auch anderenorts wahrzunehmen. Dafür sei exemplarisch (!) [9] auf folgende Aussagen auf der Seite der Frauenbeauftragten der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hin­gewiesen:

Die sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter ist von unerlässlicher Bedeutung. Trotzdem waren und sind im Allgemeinen – hier und da auch im universitären Sprachgebrauch – Texte im generischen Maskulinum formuliert. Frauen werden hier nicht erwähnt und bleiben dadurch im wissenschaftlichen Kontext und in der Vorstellungskraft der Lesenden unsichtbar. Die weiterhin bestehenden, ablehnenden Hinweise, eine gender­gerechte Sprache ändere die bestehende Ungleichheit nicht oder behindere die Lesbarkeit, zeugt nicht vom Willen, auch durch einen Sprachwandel allen Geschlechtern gerecht zu werden. Sprache ist kein neutrales Werk­zeug, sie beeinflusst unser Denken. Angesichts der o.g. Problematik hat die Humboldt-Universität einen eigenen Leitfaden (mit entsprechenden Beispielen) zum Thema „Gendergerechte Sprache“ herausgegeben. (…) Gender­gerechte Sprache zeigt Wertschätzung gegenüber allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht. Das Büro der dezentralen Frauenbeauftragten unterstützt diesen Prozess aktiv. [10]

Im ausgelassenen Teil enthält der Text Verweise auf die Verfassung der Humboldt-Univer­sität sowie auf die „Gemeinsame Geschäftsordnung der Berliner Verwaltung“. Danach bezie­hen sich die Ausführungen vordergründig auf amtlichen Schriftverkehr, Ordnungen und ande­re offizielle Dokumente. Allerdings wird ausdrücklich beklagt, dass „im universitären Sprach­ge­brauch (…) Texte im generischen Maskulinum formuliert“ werden und damit Frauen „im wissenschaftlichen Kontext“ unerwähnt bleiben. Man wird kaum annehmen, dass sich diese Klage nicht auch und vielleicht vor allem auf wissenschaftliche Arbeiten bezieht, um die es der Greifswalder Handreichung ausschließlich geht.

Der Einspruch, den wir gegen jede Nötigung zum Gebrauch gegenderter Sprache in wissen­schaftlichen Arbeiten und Prüfungsleistungen erheben, erfolgt in drei Schritten:

(1) Es wird die delegitimierende Kritik am generischen Maskulinum zurückgewiesen.

Damit der Widerspruch an dieser Stelle nicht ohne hinreichende Begründung bleibt, ist eine im Vergleich zu den Schritten 2 und 3 relativ ausführliche Argumentation erforderlich, in der das Thema unter verschiedenen Aspekten beleuchtet wird. Schritt 1 ist daher in fünf Punkte (a-e) untergliedert.

(2) Es wird der moralische Anspruch zurückgewiesen, mit dem die Verfechter „geschlechter­gerechter“ Sprache auftreten, wodurch offene sachliche Diskussionen verhindert werden.

(3) Es wird die gerade für die Theologie schädliche Spaltung zwischen Wissenschaft und Praxis reflektiert, die durch eine Nötigung zu „geschlechtergerechter“ Sprache aufgerissen wird.

(1) Die delegitimierende Kritik am generischen Maskulinum ist zurückzuweisen, weil sie auf einer zu oberflächlichen Wahrnehmung sprachlicher Möglichkeiten beruht. In der Theologie verbietet sich aber ein oberflächlicher Umgang mit Sprache.

a) Generische Begriffe drücken keine Zuordnung zu einem realen Geschlecht aus

„Der beliebte Fußnotenverweis“, dass im generischen Maskulinum „das andere Geschlecht ‚mitgemeint‘ sei“, gehört nach der Greifswalder Handreichung in die „Mottenkiste“. Abge­sehen von der offensichtlich unangemessenen Ausdrucksweise geht die Kritik sachlich ins Leere: Im generischen Maskulinum ist das andere Geschlecht keineswegs „mitgemeint“. Dass sein Gebrauch gerne mit einem entsprechenden Hinweis gerechtfertigt wird, ändert nichts daran, dass das generische Maskulinum tatsächlich hinsichtlich des Geschlechts neutral ist. Daher ist es zugleich geschlechterinklusiv, ohne das männliche Geschlecht zu bevorzugen und andere mitzumeinen. [11]

Ganz allgemein bezeichnen generische Begriffe – unabhängig davon, ob sie grammatisch Maskulina, Feminina oder Neutra sind – Vertreter einer bestimmten Gruppe, einer Gattung oder Art (lat. genus, gen.: generis, daher: „generisch“), ohne dass das reale Geschlecht dabei von Bedeutung wäre. Die Kritik am generischen Maskulinum, wie sie die Greifswalder Hand­reichung vorträgt, entbehrt damit jeder ernstzunehmenden Grundlage. Sie ist offensichtlich davon geprägt, dass Art und Funktion generischer Begriffe nicht mehr überall verstanden werden. Daher scheint ein knapper Exkurs zur Erläuterung angebracht.

Die Funktion, die Zugehörigkeit zu Gruppen zu bezeichnen oder Kollektivbegriffe zu bilden, ohne dass das reale Geschlecht von Bedeutung ist, wird in den Fällen vom Maskulinum übernommen, in denen das Maskulinum im Unterschied zum Femininum keine Genusmarkierung enthält. Das gilt für die meisten Berufsbezeichnungen: Weil in dem grammatisch maskulinen Wort „Richter“ kein Genus markiert ist, kann vom „Beruf des Richters“ gesprochen werden, ohne dass etwas über das reale Geschlecht derer ausgesagt würde, die diesen Beruf ausüben. Demgegenüber ließe „der Beruf der Richterin“ an ein ausschließlich von Frauen ausgeübtes Amt denken, weil beim definierenden Genitiv das weibliche Geschlecht markiert ist. Vor diesem Hintergrund ist der Satz „Zu den Richtern des hiesigen Amtsgerichts gehören auch Frauen“ so zu verstehen, dass die erwähnten Frauen den Beruf des Richters ausüben. Der Satz „Zu den Richterinnen des hiesigen Amtsgerichts gehören auch Männer“ würde dagegen nicht besagen, dass die Männer selbst Richterinnen (oder Richter) sind. Er könnte vielleicht etwas über das Privatleben der Richterinnen besagen, nämlich dass zu ihnen Männer im Sinne von Ehemännern oder Lebenspartnern gehören. An dieser Stelle könnte nur der Kontext des Satzes Klarheit schaffen.  

Im umgekehrten Fall, wenn beim Femininum kein Genus markiert ist, beim dazugehörigen Maskulinum aber sehr wohl, wird das Femininum generisch verwendet. So enthält der feminine Begriff „Ente“ keine Genusmar­kierung im Unterschied zum maskulinen „Enterich“. Freilich wird die männliche Ente heute üblicherweise als „Erpel“ bezeichnet. – Vielleicht ist kaum aufgefallen, dass im letzten Satz das geschlechtlich unmarkierte, gram­matisch feminine Wort „Ente“ generisch verwendet wurde. Anderenfalls könnte von „männlichen Enten“ keine Rede sein. Weil bei der „Ente“ das Femininum keine Geschlechtsmarkierung enthält, ist dies möglich – spiegel­bildlich zu „weiblichen Richtern“. Daher kann bei dem Satz „Auf dem See schwimmen Enten“ ohne Weiteres an weibliche und männliche Individuen gedacht werden – wie es spiegelbildlich auch bei den „Richtern des hiesigen Amtsgerichts“ möglich ist. „Weibliche“ oder „eierlegende Enteriche“ werden dagegen nur in surrealen Texten erwähnt sein.

b) Der generische Gebrauch maskuliner Begriffe ist auf Grund von Lebens­erfahrung und Vorwissen verständlich

Die Handreichung der Greifswalder Fakultät hält grammatische Erwägungen zu Art und Funktion generischer Ausdrücke offenbar auch deshalb für verzichtbar, weil schon ein ein­faches Beispiel zeigen soll, dass das generische Maskulinum in der Praxis keineswegs als geschlechtsneutrale Zuordnung verstanden wird: Bei der Aussage „Bereits um 1840 schrieben Mathematiker die ersten ‚Computerprogramme‘“ werde „zunächst an Männer“ gedacht; dass tatsächlich eine Frau, Ada Lovelace, das erste „Computerprogramm“ schrieb, komme nicht in den Blick. Dieses Beispiel ist nun aber keineswegs überzeugend.

Grundsätzlich ist zu beachten, dass Aussagen in der alltäglichen Kommunikation ebenso wie bei der Lektüre von Texten niemals nur grammatisch-analytisch aufgenommen werden, son­dern immer mit einem inhaltlichen Vorverständnis, das wiederum von Lebenserfahrung und Kenntnisstand der Hörer oder Leser mitbestimmt ist. Vor diesem Hintergrund ist zuzugeste­hen, dass die große Mehrheit der Hörer bei der Rede von „Mathematikern“ des 19. Jh.s zu­nächst an Männer denken wird. Ausschlaggebend dafür ist aber sicher nicht das generische Maskulinum, sondern der Umstand, dass Mathematiker im 19. Jh. tatsächlich fast ausschließ­lich Männer waren. Kenner der Materie, denen Ada Lovelace und ihre Leistungen ein Begriff sind – nach ihr ist immerhin eine Programmiersprache („Ada“) sowie eine Auszeichnung für Informatiker benannt („Lovelace-Medal“) –, werden hingegen bei der genannten Aussage auch an sie denken. In analoger Weise ist davon auszugehen, dass Hörer, die in der Geschich­te der Naturwissenschaften über eine gewisse Allgemeinbildung verfügen, bei der Rede von „Nobelpreisträgern“ auch an Marie Curie denken, die als bisher einziger Nobelpreisträger in zwei verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ausgezeichnet wurde (1903 in Physik; 1911 in Chemie). [12] Wollte man an dieser Stelle das generische Maskulinum vermeiden und Marie Curie als einzige „Nobelpreisträgerin“ bezeichnen, die in zwei wissenschaftlichen Dis­ziplinen ausgezeichnet wurde, wäre nur gesagt, dass sie als einzige Frau in dieser besonderen Weise geehrt wurde. Dass ihr tatsächlich eine Ehrung zuteilwurde, die auch unter der weitaus höheren Zahl männlicher Nobelpreisträger [13] noch kein anderer Forscher erfahren hat, wäre dem Satz – gerade auf Grund der feminin markierten Form – nicht zu entnehmen. [14]

c) Im alltäglichen Sprachgebrauch besteht kein Problem, das generische Mas­kulinum inklusiv zu verwenden und zu verstehen

Das von der Greifswalder Handreichung gewählte Beispiel spricht also keineswegs dafür, dass durch die Verwendung des generischen Maskulinums im Unklaren bleibt, dass sich die Aussage auch auf Frauen bezieht. Beobachtungen zum alltäglichen Sprachgebrauch zeigen sogar das genaue Gegenteil: Das generische Maskulinum wird problemlos geschlechtsneutral und geschlechterinklusiv verstanden.

Wenn die „Berliner Zeitung“ in einer Schlagzeile vom 29.12.2021 eine der Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses mit dem Satz zitiert „Verbeamtung von Lehrern ist nur Schein­lösung“, ist in einem lebensweltlichen Kontext, in dem der Beruf des Lehrers mittlerweile wohl mehrheitlich von Frauen ausgeübt wird, eindeutig klar, dass der grammatisch maskuline Begriff „Lehrer“ geschlechterinklusiv gemeint ist. Die Rückfrage, warum nur die Verbeam­tung männlicher Lehrer eine Scheinlösung sein sollte, nicht aber die von Lehrerinnen, wäre schlicht absurd.

Weil das generische Maskulinum keine Probleme bietet und sogar Vorteile hat, wird sein Ge­brauch auch von Frauen verteidigt. Dafür stehen folgende Aussagen der Diplombiologin, Journalistin und Werbefachfrau Rieke Hümpel zum nicht geschlechtlich markierten, gram­matisch maskulinen Begriff „Schlittschuhläufer“:

Wenn ich an Schlittschuhläufer auf einem See denke, so stelle ich mir Frauen, Männer und Kinder in Winterklei­dung vor, die über das Eis gleiten, auf den Popo fallen usw. Wenn künftig von Schlittschuhläufern und Schlitt­schuh­läuferinnen die Rede ist, sehe ich keine Menschengruppe mehr. (…) Ich sehe eine Gruppe von männlichen und eine Gruppe von weiblichen Schlittschuhläufern. Ich muss bei den Frauen stehen und die Männer sind wo­anders – ja, plötzlich geht es gar nicht mehr um den Winter! Durch das Gendern werden wir plötzlich sexuali­siert. Bilder im Kopf werden aufgelöst. Dabei war die männliche Pluralform doch schon längst für uns alle da. Warum trennt man uns plötzlich wieder? [15]

Was Rieke Hümpel aus ihrer Spracherfahrung heraus eindrücklich schildert, formuliert der Linguist Peter Eisenberg knapper und prägnanter:

Das generische Maskulinum bietet die einfachste, eleganteste und flexibelste Möglichkeit des Deutschen, Sexus­diskriminierung zu vermeiden. [16]

d) Zur begrenzten Aussagekraft psycholinguistischer Experimente

Demgegenüber verweisen Verfechter sog. „gendergerechter“ Sprache auf psycholinguistische Experimente, die gezeigt haben sollen, dass das generische Maskulinum dennoch – entgegen der soeben zur Sprache gekommenen Alltagserfahrung – vor allem Assoziationen an männ­li­che Personen wecke. Allerdings sind Methodik und Aussagekraft entsprechender Experimen­te umstritten. So stellt die Linguistin Ewa Trutkowski fest:

Ob Wortformen wie „Kosmetiker“ oder „Lehrer“ generisch oder spezifisch männlich interpretiert werden, hängt von vielen sprachlichen – und außersprachlichen – Faktoren ab –  

so hatten wir es ja bereits für den Begriff „Mathematiker“ festgestellt. Trutkowski illustriert es anhand mehrerer Sätze, in denen der grammatisch maskuline Begriff „Lehrer“ „von Fall zu Fall unterschiedliche Assoziationen auslöst“, was aber in psycholiguistischen Experimenten nicht erfasst werde:

Assoziationsstudien, die so differenziert vorgehen, gibt es nicht. Das zeigt einerseits, wie wenig wir noch wissen, aber andererseits auch, auf wie dünnem Eis sich viele Befürworter des Genderns bewegen. [17]

Solange aber die Aussagekraft psycholinguistischer Experimente von fachwissenschaftlicher Seite infrage steht, ist aus ihnen kein zwingendes Argument für die gesellschaftliche Diskus­sion zu gewinnen. Die Verwendung des generischen Maskulinums kann also nicht mit dem Verweis auf entsprechende Studien delegitimiert werden.

Angesichts des Anspruchs, durch den Gebrauch gegenderter Sprache zu mehr Geschlechter­gerechtigkeit beizutragen, stellt sich insbesondere die Frage, wie weit experimentell erfass­bare spontane Assoziationen, die sich bei grammatisch maskulinen Berufsbezeichnungen ein­stellen, überhaupt soziale Wirklichkeit bestimmen. Wenn ein Experiment ergibt, dass Proban­den bei der Erwähnung von „Sozialarbeitern“ spontan an Männer und erst nach einer gewis­sen Verzögerung auch an Frauen denken [18], bleibt also zu fragen, ob sich diejenigen, die spon­tan Männer assoziieren, keine weiblichen Sozialarbeiter vorstellen können, ob sie womöglich sogar die Zusammenarbeit mit Sozialarbeiterinnen boykottieren oder jungen Frauen abraten würden, diesen vermeintlichen „Männerberuf“ zu ergreifen. Erst wenn derartige Zusammen­hänge eindeutig nachweisbar wären, könnte unter Berufung auf entsprechende Experimente sinnvoll diskutiert werden, ob und in welchem Maße der Verzicht auf das generische Masku­linum einen Beitrag zur Überwindung sozialer Geschlechterdiskriminierung leistet.

e) Zum geschlechtsneutralen Gebrauch maskuliner Formen in anderen Spra­chen am Beispiel des Schwedischen

Diese Hinweise können durch einen über den deutschsprachigen Mikrokosmos hinausreichen­den Blick ergänzt werden. Es könnte darauf hingewiesen werden, dass in Sprachräumen, in denen die Genusunterscheidung nicht grammatisch markiert ist, wie im Bereich des Türki­schen oder Persischen die Gleichberechtigung der Geschlechter keineswegs weiter fortge­schritten ist als in Sprachräumen, die eine Genusunterscheidung und den generischen Ge­brauch des Maskulinums kennen. [19]

Um bei näherliegenden Beispielen zu bleiben, sei daran erinnert, dass das Englische für viele Berufs- und Tätigkeitsbezeichnungen (z. B. „professor“, „writer“) keine feminin markierten Formen kennt (anders z. B. „actress“). Das im deutschen Sprachraum verbreitete Insistieren auf der „geschlechtergerechten“ Verwendung femininer Formen kann im angelsächsischen Raum als „sexistisch, antiquiert und kein bisschen inklusiv“ wahrgenommen werden. [20]

Interessante Befunde bietet auch das Schwedische: Das höchste Amt der Lutherischen Kirche Schwedens, das des Erzbischofs von Uppsala, hat seit 2014 mit Antje Jackelén erstmals eine Frau inne. Frau Jackelén wird auf der Internetseite der schwedischen Kirche als „der Erz­bischof“ (schwed. „ärkebiskopen“) bezeichnet – der Geschlechtsunterschied zu ihren Vorgän­gern wird sprachlich nicht markiert. [21] Nun mag man beim Titel „Erzbischof“ fragen, ob im Schwedischen überhaupt ein angemessenes feminines Äquivalent zur Verfügung stände, da das genusmarkierte „ärkebiskopinna“ traditionell für die Frau bzw. Witwe eines Erzbischofs verwendet wird. [22] Die schwedische Wikipedia enthält aber Fälle, in denen maskuline Bezeichnungen für Frauen verwendet werden, obwohl ein feminines Pendant vorhanden ist. Selma Lagerlöf wird als „svensk författare“ (deutsch: „schwedischer Schriftsteller“) einge­führt – gleichlautend wie August Strindberg in dem ihn behandelnden Wikipedia-Artikel. Zu „författare“ („Schriftsteller“) existiert aber die feminin markierte Form „författarinna“ („Schriftstellerin“). Diese führt der schwedische Wikipedia-Artikel „författare“ mit der Be­merkung „om kvinnor även författarinna“ auf, d. h. als eine bei Frauen auch gebräuchliche Nebenform der maskulinen Normalform.

Offenbar wird in Schweden – einem Land, in dem früher und intensiver als im deutschspra­chigen Raum über Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung diskutiert wurde – nicht un­bedingt die Notwendigkeit empfunden, wo es um Frauen geht, auch feminin markierte Begrif­fe zu benutzen. Selbst da, wo ein femininer Begriff zur Verfügung steht wie „författarinna“ („Schriftstellerin“), kann das Maskulinum bevorzugt werden. In diesen Fällen ist die Verwen­dung grammatisch maskuliner Formen sicher nicht frauenfeindlich gemeint, sondern analog dazu wie Rieke Hümpel den Plural „Schlittschuhläufer“ versteht: Die maskuline Form ist „längst für uns alle da“; sie schließt Trennungen gerade aus. Dass Frauen ebenso wie Männer „Erzbischof“ oder „Schriftsteller“ sein können, macht so verstanden gerade den Abbau von Diskriminierung sprachlich deutlich. Dass die Verwendung des generischen Maskulinums unter Umständen die besondere Leistung von Frauen sogar hervorheben kann, war bereits oben am Beispiel der herausragenden Stellung Marie Curies unter den Nobelpreisträgern deutlich geworden.

Schlussfolgerung: Unterkomplex begründete Forderungen nach sog. „ge­schlechtergerechter Sprache“ dürfen an theologischen Ausbildungsstätten kei­ne offizielle Geltung erhalten

Damit ist eine Reihe von Beobachtungen angesprochen, nach denen die Aussage, durch die Verwendung des generischen Maskulinums blieben Frauen „in der Vorstellungskraft der Lesenden unsichtbar“, als höchst fragwürdig gelten muss. Diese Aussage, die auf der Seite der Berliner Frauenbeauftragten zu lesen ist, aber auch sonst vielfach vertreten wird, lässt kein Bewusstsein für die Bedeutungsbreite grammatischer Formen wie etwa nicht-genusmarkierter Begriffe erkennen. Sie blendet den Kontext und das erwartete Vorwissen von Lesern und Hö­rern aus, obwohl beide das Verstehen entscheidend mitbestimmen. Sprache wird hier nicht in ihrer Komplexität wahrgenommen, so dass man den Eindruck gewinnt, dass hier Akteure über die Sprache (auch anderer Menschen!) verfügen wollen, die selbst nicht viel von Sprache ver­stehen.

Dagegen ergibt sich aus der angedeuteten sprachwissenschaftlichen Problemlage, dass keine akademische Einrichtung von ihren Mitgliedern – Dozenten wie Studenten – erwarten kann, dass sie entsprechende Aussagen kritiklos hinnehmen oder sich gar zueigen machen. Eine Fakultät, die an dieser Stelle kritiklose Annahme erwarten würde, hätte mit dieser Forderung den Anspruch kritisch-wissenschaftlichen Denkens aufgegeben.

Gerade für Hochschuleinrichtungen im Bereich der Theologie geht es hierbei nicht um einen nebensächlichen Aspekt, da das Bemühen um einen sorgfältigen Umgang mit Sprache zum unverzichtbaren Rüstzeug gehört, das im Studium der Theologie zu vermitteln ist. Das betrifft sowohl den auf philologisch-historische Analyse gegründeten Umgang mit Texten in Exege­se, Kirchengeschichte oder Systematischer Theologie als auch die Notwendigkeit, einen für kirchliche und pädagogische Praxis angemessenen Sprachgebrauch einzuüben. Angesichts der Bedeutung der Sprachpflege für jede Form theologischer Arbeit ist es unerträglich, wenn For­derungen nach sog. „geschlechtergerechter Sprache“, die auf einem so oberflächlichen Sprachverständnis beruhen wie die zitierten Beispiele, in theologischen Ausbildungsstätten auch nur in die Nähe offizieller Geltung gelangen.

(2) Der moralische Anspruch der Verfechter sog. „geschlechtergerechter Sprache“ ist zurückzuweisen, weil er offene sachliche Diskussionen verhindert.

Die Greifswalder Handreichung stellt lapidar fest: „Geschlechtergerechte Sprache verändert das Denken – hin zu mehr Gleichberechtigung!“ Obwohl es tatsächlich zweifelhaft ist, inwie­fern verordnete Änderungen der Sprache gesellschaftliche Veränderungen nach sich ziehen, ist die Aussage in der Handreichung als Ausruf markiert. Sie klingt damit wie eine Warnung: Wer das Konzept der sog. „geschlechtergerechten“ Sprache hinterfragt, soll damit rechnen müssen, als Gegner von „mehr Gleichberechtigung“ an den Pranger gestellt zu werden.

Auf der Seite der Berliner Frauenbeauftragten wird denen, die die gesellschaftsverändernde Kraft sog. „geschlechtergerechter“ Sprache skeptisch beurteilen, faktisch der Wille abgespro­chen, „auch durch einen Sprachwandel allen Geschlechtern gerecht zu werden“. Wenn es zu­dem heißt: „Gendergerechte Sprache zeigt Wertschätzung gegenüber allen Menschen, unab­hängig von ihrem Geschlecht“, wird insinuiert, dass derjenige, der keine „gendergerechte“ Sprache gebraucht, es an Wertschätzung gegenüber allen Menschen vermissen lässt.

Wie alle anderen im akademischen Bereich vertretenen Ansätze muss sich auch das Konzept „geschlechtergerechter“ Sprache einer breiten, sachlichen Diskussion stellen, in der seine Voraussetzungen und innere Stimmigkeit überprüft werden. Sofern sich mit diesem Konzept das Anliegen gesellschaftlicher Veränderungen verbindet, sind auch die angestrebten Ziele und Umsetzungsfragen offen zu diskutieren. Diese wichtigen Diskussionen werden aber be- oder gar verhindert, wenn denen, die am Sinn gegenderter Sprache zweifeln und entspre­chende Sprachformen nicht verwenden, implizit moralische Defizite unterstellt werden. Dabei wird subkutan mit Mitteln der Ausgrenzung und Einschüchterung gearbeitet, die mit einer offenen Diskussionskultur nicht vereinbar sind. Daher ist der moralische Anspruch, mit dem die Verwendung „geschlechtergerechter“ Sprache in der Greifswalder Handreichung oder auf der Seite der Berliner Frauenbeauftragten gefordert wird, unbedingt zurückzuweisen.

(3) Eine Nötigung zu sog. „geschlechtergerechter Sprache“ reißt eine Spaltung zwischen Hochschule und Gesellschaft, Wissenschaft und Praxis auf, die sich gerade für die Theologie als schädlich erweisen kann.

Wenn laut der eingangs zitierten Untersuchung 80 % der befragten Hochschullehrer die Auf­fassung vertreten, es müsse möglich sein, im Bereich der Universität auf den Gebrauch gegenderter Sprache zu verzichten, lässt dies vermuten, dass ein Großteil der deutschen Universitätsdozenten das Sprachgefühl teilt, das Rieke Hümpel in dem oben mitgeteilten Zitat am Beispiel des Begriffs der „Schlittschuhläufer“ illustriert. Dann stellt sich aber die Frage, warum überhaupt im Hochschulbereich eine Nötigung zum Gebrauch sog. „geschlechter­gerechter Sprache“ aufgebaut werden soll, während ein beachtlicher Teil der Gesellschaft – einschließlich vieler Hochschullehrer – auf Grund ihres Sprachverständnisses keine Notwen­digkeit dazu sieht bzw. dies ablehnt. Eine entsprechende Nötigung reißt eine überflüssige Spaltung zwischen Hochschule und Gesellschaft, Wissenschaft und Praxis auf, die gerade für die Theologie als eine auf Gemeindepraxis und Religionsvermittlung ausgerichtete Wissen­schaft problematisch ist.

Der Artikel von Rieke Hümpel thematisiert diese Spaltung, indem die Autorin bekennt, sich mit ihrem Unverständnis für das Anliegen gegenderter Sprache „gegen hauptberufliche Gen­der-Beauftragte (…) als alleinerziehende Mutter sehr zeitknapp und allein“ zu fühlen. Das zeigt, dass sog. „geschlechtergerechte Sprache“ als elitär im pejorativen Sinn von dünkelhaft oder besserwisserisch empfunden werden kann bis dahin, dass sich Menschen von der Erwartung, eine solche Sprache zu verwenden, belästigt und zurückgesetzt, ja in eine Opferrolle gedrängt sehen. Von daher wird im Übrigen verständlich, dass Kritik an sog. „geschlechtergerechter Sprache“ keineswegs nur von konservativer Seite erhoben wird – wo man sie wohl am ehesten erwartet – sondern auch von links. [23]

Der Hinweis auf die dünkelhafte Wirkung „geschlechtergerechter“ Sprache muss gerade an theologischen Ausbildungsstätten zu denken geben. Zur Theologie gehört zwar unabdingbar die Aneignung fremder Sprachen und das Durchdenken komplexer Sachverhalte auf mög­lichst hohem Niveau. Zugleich ist aber im Theologiestudium die Kunst einzuüben, komplexe Sachverhalte in einer Sprache auszudrücken, die außerhalb des akademischen Milieus ver­wendet und verstanden wird. Dass die Theologie „dem Volk aufs Maul schauen“ muss, ist keineswegs ein spezifisch lutherischer Standpunkt. Vielmehr gilt konfessionsübergreifend, dass die Theologie, jedenfalls da, wo es um die Vermittlung theologischer Einsichten geht, die in der Gesellschaft übliche Sprache aufnehmen und verwenden muss.

Sprachliche Neubildungen, die mitunter für theologische Vermittlungsarbeit nötig sind, müs­sen in einer Fortentwicklung dessen bestehen, was in der Alltagssprache angelegt ist, nicht aber in künstlich geschaffenen Regeln, wie sie für „geschlechtergerechte“ Sprache neu er­dacht werden. [24] Anderenfalls besteht die Gefahr, dass die Sprache der Theologie – und das heißt letztlich: die Sprache von Predigt, Seelsorge und Religionsunterricht – als etwas em­pfunden wird, das den Menschen von einer abgehobenen Kaste aufgedrückt werden soll und vielen fremd bleiben wird. Wenn der für die Theologie unverzichtbare Brückenschlag in ein nicht fachlich vorgebildetes und nicht akademisch geprägtes Milieu gelingen soll, sollten alle Hinweise darauf, dass Menschen außerhalb akademischer Kreise gegenderte Sprache weit­gehend ablehnen oder als sinnlos empfinden [25], sehr ernst genommen werden. Sie sollten An­lass zum Nachdenken darüber sein, ob es womöglich kontraproduktiv ist, im Rahmen des Theologiestudiums auf das Einüben einer solchen Sprache Wert zu legen oder gar dazu zu verpflichten.

Mit kollegialen Grüßen

Prof. Dr. Oleg Dik

Associate Prof. Dr. Jan Dochhorn, dr. theol.

Dr. Therese Feiler

Dr. Michael F. Feldkamp

PD Dr. Meik Gerhards

Dr. Christian Herrmann

Prof. Dr. Detlef Hiller

Dr. Hans-Gerd Krabbe

PD Dr. Axel Bernd Kunze

Dr. h. c. Christian Lehnert

PD Dr. Detlef Metz

Prof. Dr. Marius Reiser

PD Dr. Reinhard Weber

Prof. Dr. Ulrich Willers

[1] Vgl. dazu die Artikel des Linguisten und Journalisten Wolfgang Krischke, Sprachplanung im Großformat, FAZ (16.02.22), der emeritierten Professorin für germanistische Sprachwissenschaft, Heide Wegener, Die Gender-Lobby und ihr Märchen vom Sprachwandel, in: DIE WELT (20.02.22) und des Sprachwissenschaftlers und Mitarbeiters der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Nikolaus Lohse, Es gibt kein richtiges Gendern, in: DIE WELT (21.07.21).

[2] Der folgende Text verwendet seinem Anliegen entsprechend durchgehend das generische Maskulinum.  Daher ist hier auch nicht von „Studierenden“ die Rede.

Freilich wird schon im 19. Jh. anstelle von „Studenten“ der Begriff „Studierende“ verwendet. Begründer dieses Sprachgebrauchs könnte J.G. Fichte sein, der in seiner Berliner Rektoratsrede vom 19. Oktober 1811 durch­gehend von „Studierenden“ spricht, worunter er allerdings in ausdrücklicher Abgrenzung von dem „Haufen so­genannter Studenten“ junge Menschen versteht, die ihre ganze Kraft dem Studieren widmen, sich also während ihrer Universitätsjahre keiner Ablenkung hingeben und keinem Broterwerb nachgehen (vgl. J.G. Fichte, Ueber die einzig moegliche Störung der akademischen Freiheit, Berlin 1812 [Link: Ueber die einzig moegliche Störung der akademischen Freiheit (hu-berlin.de)], S. 25). Der Begriff „Studierende“ wird im ganzen 19. Jh. in akademi­schen Reden sowie in Titeln von Nachschlagewerken und Lehrbüchern verwendet (z. B. G.B. Winer, Biblisches Realwörterbuch zum Handgebrauch für Studirende, Kandidaten, Gymnasiallehrer und Prediger, 1. Aufl. 1820). Belege finden sich auch in gelehrter Korrespondenz wie den Briefen J. Wellhausens.

Die heutige Rede von „Studierenden“ ist allerdings nicht aus dem gelehrten Sprachgebrauch des 19. Jh.s abgelei­tet, sondern verdankt sich dem Anliegen, im Sinne „geschlechtergerechter Sprache“ das generische Maskulinum „Student“ durch ein (mindestens im Plural) genusindifferentes Partizip zu ersetzen. Dass die Ersetzung des gene­rischen Maskulinums durch Partizipien nicht möglich ist ohne beträchtliche Sinnverschiebungen, wurde schon vielfach angemerkt und erschließt sich unmittelbar, wenn man sich klarmacht: „Nicht alle Musizierenden sind sogleich Musiker. Nicht alle Mitarbeitenden sind sogleich (vertraglich eingestellte) Mitarbeiter“ (H.G. Krabbe, Genderstern und Gendersprache als Mittel der Gesellschaftsveränderung [Link: Genderstern und Gendersprache als Mittel der Gesellschaftsveränderung – Christliches Forum; gesehen am 24.02.22]).

[3] Verschiedene Positionen zur sog. „geschlechtergerechten Sprache“ kommen in: APuZ 5-7/2022 (31. Jan. 2022) zu Wort. Die Textsammlung vermittelt eine Ahnung von der Vielzahl philosophischer, linguistischer und politischer Fragen, die bei diesem Thema relevant sind.

[4] IfD (Institut für Demoskopie Allensbach), Das geistige Klima an den Universitäten. Ergebnisse einer Online-Befragung von Hochschullehrern. Online-Präsentation 21. Nov. 2021 [Link: PowerPoint-Präsentation (hochschulverband.de); gesehen am 21.02.22], S. 20.

[5] A.a.O., S. 24.  

[6] Thomas Thiel, Bitten und Befehle. Zur Genderpflicht an deutschen Hochschulen, FAZ 16.02.22, S. N 4.

[7] Link: Handreichung.pdf (uni-greifswald.de) (gesehen am 21.02.22).

[8] Theologische Fakultät der Universität Greifswald, Handreichung zum Verfassen von wissenschaftlichen Arbeiten, S. 11.

[9] Es sei nachdrücklich betont, dass die kritischen Hinweise auf Zitate aus der Greifswalder Handreichung und von der Seite der Berliner Frauenbeauftragten rein exemplarischen Charakter haben. An ihrer Stelle könnten auch Beispiele von anderen Fakultäten oder Hochschulen genannt werden. Dem vorliegenden Schreiben geht es in keiner Weise darum, die Fakultäten in Greifswald und Berlin in besonderer Weise zu kritisieren. Es geht tatsächlich um einen Missstand, der im deutschsprachigen Raum mittlerweile flächendeckend um sich greift.

[10] Geschlechtergerechte Sprache — Theologische Fakultät (hu-berlin.de) (gesehen am 21.02.22).

[11] Zur Abweisung der feministisch motivierten Kritik am generischen Maskulinum vgl. auch die eindrücklichen Bemerkungen des Linguisten Peter Eisenberg in: APuZ 5-7/2022, S. 34f.

[12] Außer Marie Curie hat nur der Chemiker Linus Pauling einen Nobelpreis in zwei verschiedenen Kategorien erhalten: Neben dem Nobelpreis für Chemie (1954) erhielt er allerdings den nicht für naturwissenschaftliche Leistungen vergebenen Friedensnobelpreis (1962). Zwei weitere Wissenschaftler haben zweimal einen Nobelpreis erhalten, aber jeweils für dasselbe Fach: John Bardeen (Physik 1956 und 1972) und Frederick Sanger (Chemie 1958 und 1980).

[13] Bis zum Jahre 2020 wurden Nobelpreise an 789 Männer und 55 Frauen verliehen.

[14] Navid Kermani verdeutlicht dies als Schriftsteller an einem anderen Beispiel: „Ich kann von einer Kollegin als bedeutendstem Autor der deutschen Gegenwartsliteratur sprechen. Ich kann sie aber auch als die bedeutend­ste Autorin der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen. Beides ist möglich, aber der Sinn ist jeweils ein ande­rer. Das generische Maskulinum erlaubt es, sich knapper und dabei doch präziser auszudrücken“ (Mann, Frau, völlig egal, in: DIE ZEIT 04.01.2022).

[15] Rieke Hümpel, Gendern – das erinnert mich inzwischen an einen Fleischwolf, DIE WELT (24.02.2021).

[16] Peter Eisenberg, in: APuZ 5-7/2022, S. 35.

[17] Ewa Trutkowski, Vom Gendern zu politischen Rändern. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht spricht vieles gegen geschlechtergerechte Formen. Nüchterne Hinweise könnten die Debatte versachlichen, NZZ 22.07.2020. Vgl. auch Gisela Zifonun, Die demokratische Pflicht und das Sprachsystem. Erneute Diskussion um einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch, Sprachreport 34 (2018), 44-56, S. 51. Während Trutkowski das generi­sche Maskulinum entschieden befürwortet, sieht Zifonun „die sprachsystematisch verankerte Dominanz des Maskulinums bei Personenbezeichnungen“ zugleich kritisch. Um sie zu überwinden, wären aber tiefe Eingriffe in die gewachsene Struktur des Deutschen notwendig, die nicht durchzusetzen sind. Zifonun empfiehlt daher einen gelassenen und toleranten Umgang mit dem Thema (S. 53f.). Zur Verständlichkeit des generischen Maskulinums und Problemen von Tests, die angeblich das Gegenteil beweisen, vgl. Marcus Lorenz, Von männlichen Chirurgen und anderen Gender-Legenden, DIE WELT (30.04.2021).

[18] Das Beispiel spricht Carolin Müller-Spitzer, in: APuZ 5-7/2022, S. 25 an. Das Experiment bestand darin, für den zuerst vorgelegten Satz „Die Sozialarbeiter liefen durch den Bahnhof“ aus mehreren Alternativen sinnvolle Fortsetzungen herauszusuchen. Dabei wurde der Satz „Wegen der schönen Wetterprognose trugen meh­re­re der Frauen keine Jacke“ von vielen Probanden erst mit größerer Verzögerung als sinnvolle Fortsetzung er­kannt, weil sie bei den „Sozialarbeitern“ spontan nicht an Frauen dachten, sondern an Männer. Alternativen, in denen von Männern die Rede war, wurden dagegen sofort als mögliche Fortsetzung genannt.  

[19] So stellt der deutsch-iranische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani fest, dass es ein „Trugschluss“ sei, „dass sich aus der sprachlichen Gleichheit der Geschlechter soziale Gleichheit ergibt, sonst müsste es in der Türkei oder im Iran anders zugehen“ (Mann, Frau, völlig egal, in: DIE ZEIT 04.01.2022).

[20] So der Erfahrungsbericht in: Nele Pollatschek, They: Gendern auf Englisch, in: APuZ 5-7/2022, S. 08.  

[21] Ärkebiskopen – Svenska kyrkan (gesehen am 21.04.2022).

[22] Nach Annemarie Schimmel, Morgenland-Abendland. Mein west-östliches Leben, München 2002, S. 72 wurde Anna Söderblom, die Witwe von Antje Jackeléns berühmtem Vorgänger Nathan Söderblom, in den 1950er Jahren in Uppsala „gamla ärkebiskopinna“ („die alte Erzbischöfin“) genannt.

[23] Vgl. dazu Alexander Dietz, Kritik von links am Genderstern?, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 63/2 (2021), *2-*6. Zu möglichen linken Einwänden gegen sog. „geschlechtergerechte Sprache“ gehört nach Dietz, dass „angeblich linke Identitätspolitik, zu der Genderthemen und vermeintlich gen­dergerechte Sprache gehören, (…) einen elitären Charakter“ hat und oft faktisch der Abgrenzung von „Menschen aus bildungsfernen Milieus und ihrer Sprache“ dient (a.a.O., *3). Zwar gehört Rieke Hümpel nicht zum „bil­dungsfernen Milieu“ im eigentlichen Sinn, aber als alleinerziehende Mutter, die ihren Lebensunterhalt außerhalb akademischer Kreise verdienen muss, sieht sie sich den „Genderbeauftragten“ gegenüber unterprivilegiert.

[24] Wolfgang Krischke, Sprachplanung im Großformat, FAZ (16.02.22), weist darauf hin, dass die Gender­sprache nicht „mit herkömmlichen Normierungen“ zu vergleichen ist, wie sie etwa im 18. Jh. von J.C. Gottsched und J.C. Adelung vorgenommen wurden, da sich diese „Sprachschulmeister“ auf Varianten der bestehenden Sprache stützten. Bekanntlich orientierte sich auch Luther bei der Entwicklung des Schriftdeutschen für seine Bibelübersetzung an den vorgegebenen Möglich­keiten der Sprache.

[25] Zu diesen Hinweisen gehören auch Umfragen wie die Erhebung von infratest dimap im Mai 2021, nach der etwa zwei Drittel der Wahlberechtigten in Deutschland die Verwendung sog. „geschlechtergerechter“ Sprache in Medien und Öffentlichkeit ablehnen und auch der verstärkte Gebrauch in öffentlich-rechtlichen Medien nicht zur Akzeptanz beigetragen hat [Link: Umfragen & Analysen ‹ Infratest dimap (infratest-dimap.de)].

Die Unterzeichner sind überwiegend Mitglieder der Fachgruppe Theologie im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Ich danke Herrn PD Dr. Meik Gerhards für das Manuskript zum Wiederabdruck. Der „Einspruch“ wurde im Dezember 2022 allen theologischen Fakultäten und Instituten im deutschsprachigen Raum zugeleitet.

Segenswünsche zum Weihnachtsfest

Matthias Grünewald: Geburt Christi (um 1515).

Hodie Christus natus est;

Hodie Salvator apparuit;

Hodie in terra canunt angeli;

laetatur exultant iusti,

dicentes:

Gloria in excelsis Deo,

alleluia.

(aus der Zweiten Weihnachtsvesper)

Liebe Leser und Leserinnen,

Gott wird Mensch, voll und ganz. Und das heißt auch: Er wird ein kleines Kind, angewiesen auf die Liebe und Zuwendung seiner Eltern. „Seht, der kann sich selbst nicht regen, durch den alles ist und war“, heißt es in einem Weihnachtslied. Es klingt paradox: Gott teilt unsere Erfahrungen, er durchlebt die Höhen und Tiefen des Lebens, von der Geburt bis zum Tod – und darüber hinaus. Doch gerade deswegen ist die Geburt Jesu der Beginn unserer Erlösung.

Dies ist die tiefe, bleibende Verheißung von Weihnachten: Gerade dieses kleine Kind von Bethlehem erschließt uns eine Zukunft, die unseren menschlichen Horizont übersteigt. Jesus Christus ist der treue Zeuge für Gottes Gerechtigkeit, Frieden und Liebe. Die Beziehung zu ihm trägt durch alle Dunkelheiten.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen den Segen der Weihnacht. Ihnen und Ihren Angehörigen wünsche ich gesegnete, von weihnachtlicher Freude erfüllte Festtage, erholsame Weihnachtsferien sowie einen guten Beginn des neuen Jahres. Gehen Sie mit der weihnachtlichen Verheißung und voller Zuversicht in das neue Jahr.

Sehr herzlich danke ich Ihnen für Ihr Interesse an bildungsethischen Fragen, Ihre Verbundenheit, Ihre Unterstützung, Ihr Mitdenken und Mitdisktuieren im vergangenen Jahr. Die um der Sache willen streitbare bildungsethische Debatte und das Gespräch über Bildungsfragen im weiten gesellschaftlich-politischen Kontext wird auch im neuen Jahr weitergehen.

Stellen wir den Beschluss dieses Jahres unter den Segen Gottes:

Gott sende dir seinen Engel,

dass er dich begleite auf dem WEG in das neue Jahr,

damit dieses wahrhaft ein Jahr des Herrn werde.

Gott erfülle dich mit dem Licht der WAHRHEIT,

dass dein Herz zuversichtlich und hell werde.

Gott schenke dir LEBEN und ein bereites Herz,

dass du ausstrahlen kannst, was dich hoffen lässt.

Mit herzlichen, weihnachtlichen Segenswünschen

Ihr Axel Bernd Kunze                   

Einspruch gegen Gendersprache in theologischen Ausbildungsstätten

Dreizehn Theologen aus dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit wenden sich in der Fachzeitschrift „Auftrag und Wahrheit“ gegen Gendersprache in theologischen Ausbildungsstätten. Ihr „Einspruch“ wurde an alle theologischen Ausbildungssstätten im deutschsprachigen Raum weitergeleitet:

Oleg Dik, Jan Dochhorn, Therese Feiler, Michael F. Feldkamp, Meik Gerhards, Christian Herrmann, Detlef Hiller, Hans-Gerd Krabbe, Axel Bernd Kunze, Detlef Metz, Marius Reiser, Reinhard Weber und Ulrich Willers:

Einspruch gegen die Nötigung zur Verwendung sog. „geschlechtergerechter Sprache“ in theologischen Ausbildungsstätten,

in: Auftrag und Wahrheit. Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie 2 (2022/2023), H. 5, S. 28 – 39.

Zwischenruf: Was bleibt? – Ein anderer Jahresrückblick nach einem Jahr, in dem Deutschland über eine Impfplicht diskutierte

Ein Jahr scharfer politischer und ethischer Polarisierung neigt sich dem Ende entgegen: Deutschland diskutierte über die Einführung einer allgemeinen Impflicht. Am Ende hat sich der Bundestag dagegen entschieden. Befriedet wurde die Debatte dadurch nicht. Die politisch bewusst provozierte Politisierung des Landes dauert fort. Welche Lehren lassen sich am Ende des Jahres aus dem Erlebten ziehen?

1. Schon die aggressive Impfnötigungspolitik, die wir erlebt haben, war eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates unwürdig. Die Politik hat ein Klima der Menschenhetze, Diffamierung und sozialer Ausgrenzung erzeugt, bei dem Grundrechte ohne sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung, ohne sorgfältige und ergebnisoffene Folgenabschätzung sowie ohne hinreichende Begründung eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt worden sind. Pars pro toto mag hier der ehemalige saarländische Ministerpräsident Hans stehen, der am 10. Dezember 2021 erklärte: „Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben. Deshalb machen wir konsequent 2-G.“Dass über eine allgemeine Impfpflicht im Parlament abgestimmt wurde, war ein Tiefpunkt des Parlamentarismus; ein solches Gesetzesvorhaben hätte niemals die Referentenebene überschreiten dürfen.

2. Eine Politik, die gegen vorpositives Menschenrecht verstößt, kann als „menschenverachtend“ charakterisiert werden. Wir sollten politische Konflikte nicht ohne Not zu moralischen Ziel- und Gewissenskonflikten aufbauen. Wir sollten umgekehrt aber, wo es solche gibt, diese auch nicht verharmlosen und schönreden. Das wäre falsche Irenik. Wenn die körperliche Unversehrtheit, die zum innernsten Kernbereich der Persönlichkeit gehört, nicht mehr unantastbar ist,  ist ein solches Attribut gerechtfertigt. Es hat durch die Coronapolitik reale Formen der Ausgrenzung und eine politisch herbeigezwungene Polarisierung des Landes gegeben, für die jetzt nicht diejenigen verantwortlich gemacht werden können, die – vielleicht mit scharfen Worten, die nicht jedem gefallen – daran Kritik üben.

3. Diese Politik hat politsches und soziales Vertrauen zerstört. Dieses Coronaregime muss aufgearbeitet werden, hierfür fehlen bisher aber der politische und gesellschaftliche Wille. Damit wird sich die politisch bewusst in Kauf genommene Polarisierung fortsetzen. Dies alles ist nicht trivial: Denn die mRNA-Technologie soll mittelfristig die bisherigen Masernimpfstoffe ersetzen, für die schon jetzt eine statusbezogene Impfpflicht gilt. Hier braut sich neues gesellschaftliches und ethisches Konfliktpotential zusammen.

4. Zu einer solchen Aufarbeitung gehört, dass wir aufhören, beim Thema Corona in Schwarz-Weiß-Schablonen zu denken. Wer kritische Fragen zu den neuen mRNA- oder Vektorimpfstoffen stellt, verharmlost damit nicht zwangsläufig Corona, verteufelt nicht Impfstoffe oder diskutiert unseriös. Es ist eine einseitige Unterstellung, dass es unseriöse Argumentation nur auf Seiten der Kritiker der Coronapolitik gegeben habe. Ad-hominem-Argumente, Manipulation, Indoktrination, unseriöser Umgang mit wissenschaftlchen Argmenten, Diskursverweigerung und anderes hat es genauso auf Seiten der Befürworter der Coronapolitik gegben. So wie es auf der einen Seite eine Verharmlosung der Krankheit gegeben haben mag, gab es auf der anderen Seite eine Verharmlosung der Impfschäden  und Nebenwirkungen.

Dass ein Zusammenhang  zwischen Impfung und Nebenwirkungen oft nicht belegt werden kann, hat auch mit coronapolitischen Entscheidungen und einem  unseriösen wissenschaftlichen Umgang zu tun; Obduktionen wurden bewusst verhindert, bestimmte Folgen der Impfungen nicht hinreichend untersucht, Daten unter Verschluss gehalten usw. Ein Rechts- und Verfassungssstaat, in dem nicht mehr die freie Impfentscheidung  gilt, begibt sich auf Abwege. Diese und das Recht am eigenen Körper werden nicht erst durch eine Impfpflicht, sondern bereits durch eine aggressive Impfnötigungspolitik, wie wir sie erlebt haben,  verletzt.

5. Wir sollten, gerade auch bildungsethisch, für einen freien, fairen und sachlichen wissenschaftlichen Diskurs eintreten. Zu einem solchen Diskurs gehört sehr wohl, Impfverfahren kritisch zu befragen und ggf. auch abzulehnen, politische Maßnahmen kritisch zu diskutieren, den wissenschaftlichen Umgang mit endemischen oder pandemischen Krankheitslagen kritisch zu befragen und, und, und. Das ist nicht „irrational“, wie kritischen Stimmen gern vorgeworfen wurde, sondern notwendiger Bestandteil eines freien, fairen und pluralen wissenschaftlichen Diskurses.

7. Und noch ein letzter Gedanke: Zum wissenschaftlichen Ethos gehört auch, die Möglichkeiten, aber auch Grenzen von Wissenschaft, wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichem Handeln realistisch und selbstkritisch zu beurteilen. Die mRNA-Impfstoffe sind kein „Segen“ und auch kein „Unheil“. Dies hieße, wissenschaftliche Erkenntnis quasireligös zu überhöhen oder umgekehrt zu verteufeln. Sie sind eine Frucht wissenschaftlicher Forschung, über die sachlich, seriös und ergebnisoffen diskutiert und weiter geforscht werden muss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ihr Einsatz muss dem freien Willen des Patienten überlassen bleiben.

Leider gelingt uns dieser Diskurs angesichts von Corona auch heute nicht auf befriedigende Weise. Wollten wir künftig jede Epidemie oder Pandemie mit einer Massenimpfung der Gesamtbevölkerung bekämpfen (was, so weit ich das als, Nichtbiologe und Nichtmediziner beurteilen kann, auch nicht funktioniert), wäre das eine Hybris von Wissenschaft und Gesundheitspolitik.

Ethische Wertkonflikte lassen sich nicht mit Statistik klären, auch wenn jedes ethische Problem immer einen empirischen Anteil besitzt. Im ethischen Gespräch müssen auch die Wertungen empirischer Daten ethisch reflektiert werden können, und zwar ohne Ad-hominem-Argumente, mit denen eine bestimmte Seite als „unseriös“ bereits von vornherein moralisch diskreditiert und aus dem Gespräch ausgeschlossen wird. Im Fall der neuartigen Coronaimpfstoffe wurde die Schutzwirkung beständig nach unten angepasst, was auch immer wieder eine neue ethische Gütabwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung hätte notwendig machen müssen.

Jede Impfung bleibt ein Eingriff in die körperlilche Unversehrtheit, über den nur der Einzelne vor seinem Gewissen entscheiden darf. Von dieser Überzeugung haben wir uns in weiten Teilen politisch und wissenschaftlich verabschiedet. An dieser Umdeutung unserer Wert-, Freiheits- und Grundrechtsordnung bleibt weiterhin deutlich Kritik zu üben. Abzulehnen ist jener autoritäre, biopolitische Neokollektivismus, der hinter solchen Umdeutungen steht. Schon allein, weil der Geist jetzt aus der Flasche ist, muss die Kritik an einer solchen Gesundheitspolitik weitergehen. Wer diese Impfpolitik unterstützt hat, sollte sich überlegen, dass auch für ihn einmal der Tag kommen kann, an dem seinem Körper eine pharmakologische Substanz zugeführt wird, die er freiwillig und aus eigener Einsicht nicht zu sich nehmen wollte.

Es gibt einen Unterschied zwischen wissenschaftlicher Forschung und dem politisch-gesellschaftlichen Umgang mit deren Erkenntnissen. Der Staat hat die Wissenschaftsfreiheit zu achten. Er hat aber ebenso wenig ein Recht, den Einzelnen gegen seinen Willen zur Einnahme einer bestimmten pharmakologischen Substanz zu zwingen. Im Jubiläumsjahr des Nürnberger Ärztekodex kann an dieser Stelle auch an die historische Verantwortung erinnert werden, die sonst immer so gern im Munde geführt wird. Bei der aggressiven, menschenverachtenden Impfnötigungspolitik handelt es sich nicht einfach um einen politischen Betriebsunfall, über den wir jetzt bedauernd, aber letztlich achselzuckend hinweggehen könnten. Der Bundeskanzler hat offen eine Politik „ohne rote Linien“ bei der Coronabekämpfung angekündigt. Eine solche Äußerung ist verfassungsfeindlich, da sie die roten Linien, welche die Verfassung setzt, nicht achtet. Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes hat in diesem Jahr eine allgemeine Impfpflicht gefordert, damit die statusbezogene Impfpflicht der Pflegekräfte nicht mehr umgangen werden kann. Mit einer solchen Äußerung hat die Vertreterin eines der großen Wohlfahrtsverbände die Gesamtbevölkerung für ihre Personalpolitik instrumentalisiert und damit den Einzelnen zum bloßen Mittel degradiert. Die beiden Beispiele sollen genügen.

Dass beide Äußerungen, von einer Ausnahme abgesehen, von den Bundestagsparteien nahezu unwidersprochen blieben, zeigt eine tiefe Verrohung der politischen Kultur in unserem Land. Der Einzelne bleibt stets als Selbstzweck zu achten. Wo diese Überzeugung nicht mehr geachtet wird, sind wir bereits tief gesunken. Daher bleibt nach Corona das deutliche Misstrauen, dass unsere Verfassung im Ernstfall die körperliche Unversehrtheit nicht hinreichend schützt. Denn wann, wenn nicht in der Krise, muss sich erweisen, ob eine Verfassung trägt. Andere Länder haben die Coronakrise gesellschaftlich deutlich besser bewältigt.

Dies alles sollte aufgearbeitet werden. Sonst werden dauerhafte geistig-moralische Folgeschäden für unser Zusammenbleiben, wird das politische und soziale Misstrauen weiter wirken – zum Schaden des politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Verlagswechsel bei der schulpädagogischen Fachzeitschrift „engagement“

engagement – die Zeitschrift der katholischen Schulen – erscheint seit 2022 in einem neuen Verlag: Die Zeitschrift für Erziehung und Schule wird künftig vom Göttinger Verlag Vandenhoeck und Ruprecht betreut. Jetzt ist die erste Ausgabe in neuem Format erschienen. Diese beschäftigt sich mit katholischen Schulen heute. Die Zeitschrift erscheint künftig zweimal jährlich, jeweils zu Beginn des Schulhalbjahres.

Weitere Informationen zum Abonnement finden Sie hier:

https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/engagement?c=1880

Informationen zu Heft 1/2022 und Bestellmöglichkeit:

https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/detail/index/sArticle/58128

Dem Herausgeberbeirat gehören an: Dr. Rafael Frick (Ludwigsburg), Dr. Christofer Haep (Hamburg), P. Marco Hubrig (St. Blasien), Priv.-Doz. Dr. Axel Bernd Kunze (Bonn), Dr. Peter Nothaft (Eichstätt), Prof. Dr. Matthias Proske (Köln), Sr. Dorothea Rumpf (Duderstadt) und Prof. Dr. Clauß Peter Sajak (Münster in Westfalen).

Schulbuch: Globales Lernen als Auftrag an die Elementarbildung

Lehrwerk für Berufliche Gymnasien übernimmt Textausschnitt zum Globalen Lernen aus dem „Kita-Handbuch“:

Axel Bernd Kunze: Globales Lernen (Berufsfelder gestalten. Gesundheit und Soziales), in: Maria Brathe/Jörg Köchling (Hgg.): Anstöße. Gesellschaftslehre mit Geschichte, Stuttgart: Ernst Klett 2021, S. 426 (Aufgabenstellungen: S. 427) [auch E-Book].

Der Originalbeitrag wurde erstmals hier veröffentlicht:

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildung-erziehung-betreuung/1789/

Fachschulen zum Rechtsanspruch auf Grundschulbetreuung: BöfAE veröffentlicht „Frankfurter Appell“

BoefAE, die Bundesarbeitsgemeinschaft öffentlicher und freier Ausbildungsstätten für Erzieherinnen und Erzieher, reagiert mit einem Frankfurter Appell, der am 9. Dezember 2022 veröffentlicht wurde auf den geplanten bundesweiten Rechtsanspruch auf eine ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern im Grundschulalter, der ab dem Schuljahr 2026/2027 greifen soll. Die Vorstandssprecherin Patricia Lammert schreibt dazu:

„Kennzeichnend für die Ganztagsbetreuung in Grundschule sind wenig vorhandene Feldforschungen und Konzepte, ungeordnete Systematisierung der Strukturen sowie teilweise sehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

Auch wenn die Umsetzung des Rechtsanspruchs noch weit weg wirkt, für eine Entwicklung eines bundesweiten ‚Qualitätsrahmens Ganztag‘ und die konkrete Ausgestaltung ist es fünf vor zwölf. Wir brauchen jetzt einen breiten Dialog aller Verantwortlichen. Ein Bildungskonzept für den Ganztag sowie ein Ausbildungskonzept für die Fachkräfte müssen jetzt entwickelt werden.

Fachschulen/Fachakademien sowie Berufsfachschulen blicken auf eine langjährige Erfahrung in der Qualifizierung von Fach- und Ergänzungskräften für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern im Grundschulalter zurück.“

Der Frankfurter Appell ist im Wortlaut hier veröffentlicht:

Zwischenruf: Schwindende Selbstregulationsmechanismen in der Wissenschaft

Wissenschaft will Hypothesen verifizieren oder falsifizieren. Doch ist vielen Teilen der Wissenschaft die Ausrichtung am Wahrheitsbegriff verloren gegangen. Nicht selten herrscht die Meinung: Die Wissenschaft kann sich gar nicht mehr an Wahrheit ausrichten, weil es diese nicht mehr gibt. Kollegen würden vielleicht von radikaler Pluralität sprechen, ich von radikaler Beliebigkeit. Wenn es aber keine Wahrheit mehr gibt, kann es auch keine Geltungsansprüche mehr geben. Viele Wissenschaftler verstricken sich aber in den Selbstwiderspruch, dass sie Geltungsansprüche verneinen, aber gerade damit einen Geltungsanspruch erheben. Nur eines ist auch klar: Als endliche Menschen werden wir der Wahrheit immer nur nahekommen, diese aber nicht vollständig erreichen. Wissenschaft ist immer der letzte Stand des Irrtums.

In der Konsequenz mag es viele Surrogate geben, die an die Stelle der Wahrheit getreten sind: Funktionalisierung, Moralisierung, Akzeptanzherstellung, Politisierung, Aktivismus, soziale Passung, Reduktion auf einen naiven Positivismus oder Empirismus … Die Rolle vieler Wissenschaftler in der Coronakrise ist nur ein Beispiel, bei dem ein an Wahrheit interessiertes Wissenschaftsverständnis aufgegeben wurde.

Was der Wissenschaft in vielerlei Hinsicht verloren gegangen ist, sind Selbstregulationsmechanismen und Selbstreinigungskräfte. Dann gibt es eben breite Bereiche der Wissenschaft, in denen Agendawissenschaften fraglos und ohne Vorbehalte als zeitgemäße Form von Wissenschaft vollständig akzeptiert sind. Alle Professionen und Berufe, die zu ihrer Ausübung ein bestimmtes Maß an Staatsferne und Freiheit benötigen (Freiheit von Forschung und Lehre, pädagogische Freiheit, Zensur- und journalistische Freiheit …), müssen ihr Ethos über Selbtsregulation sichern. Ansonsten wird über kurz oder lang von außen, in der Regel vom Staat, regulierend und steuernd eingegriffen – zulasten der (Wissenschafts-)Freiheit. Bleibt also die Frage: Wie können die Selbstregulationsmechanismen der Wissenschaft wieder gestärkt oder zurückgewonnen werden? Die Frage ist elementar mti der Sicherung der Wissenschaftsfreiheit elementar damit verknüpft ist.

Selbstregulationskräfte werden aber nicht darüber zurückgewonnen werden können, dass Grundfreiheiten material aufgeladen werden. Die Freiheit wird nur dann gesichert werden können, wenn auch das Äußern irriger, unkonventioneller, vom Konsens abweichender, anmaßender, anstößiger oder sonstiger Positionen im Rahmen des Rechts geschützt ist. Selbstverständlich fängt dann der streitbare Diskurs erst an. Ohne vitale Selbstregulation im Rahmen der wissenschaftlichen Gemeinschaft können wir auch nicht zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenchaftlichen Äußerungen unterscheiden.

Und dann kann auch deutlich widersprochen werden. Ich möchte aber nicht in einem Gemeinwesen leben, in dem die Grundfreiheiten dafür genutzt werden, Positionen von vornherein als „unwissenschaftlich“ aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen. Wenn wir dahin kommen, dann wird es immer Akteure geben, die sich anmaßen, darüber zu entscheiden, welche Äußerungen öffentlich legitim sind und welche nur hinter vorgehaltener Hand geäußert werden dürfen. Das ist aber genau das Gegenteil einer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung. Die beklagte „Cancel Culture“, gegen die sich etwa das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stellt, hat vielfach einen Grund in einem positiv gefüllten Diskriminierungsverständnis, das dann in der Folge gegen die Freiheit des Individuums in Stellung gebracht wird, um eines vermeintlich gemeinsamen Guten willen, das nicht mehr befragt werden darf. Wir erleben das etwa in der Transgenderdebatte, die zentral auch die Wissenschaftfreiheit berührt: Freiheitsträger, die „queere“ Positionen nicht teilen, dürfen diskriminiert werden, und zwar gerade im Namen des Diskriminierungsverbots oder der Wissenschaftsfreiheit. Das ist eine Pervertierung des Toleranz- und Freiheitsprinzips eines den Grundrechten verpflichteten Verfassungsstaates.