Im vergangenen Monat antworteten in der Wochenzeitschrift „Die Tagespost“ mehr als sechzig Wissenschaftler und Publizisten auf den Boykottaufruf der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik gegen die Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ und ihren Chredakteur, P. Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels OP:
Unter dem Titel „Für substanziellen Dialog und wissenschaftlichen Diskurs“ veröffentlichte die „Tagespost“ am 4. Juli 2019 nun eine Erwiderung, verfasst vom Vorstand (Prof. Dr. M. Heimbach-Steins, Münster/Westf.; Prof. Dr. C. Mandry, Frankfurt/M.) und zwei weiteren Mitgliedern (Prof. Dr. B. Emunds, Frankfurt/Main; Prof. Dr. G. Kruip, Mainz) der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik:
http://www.christliche-sozialethik.de/?p=392
Damit liegen Rede und Gegenrede auf dem Tisch. Die wissenschaftliche und publizistische Öffentlichkeit kann die Argumente beider Seiten beurteilen …
Wie nicht anders zu erwarten, weisen die Urheber der ursprünglichen „Erklärung“ die Vorwürfe, die Publikationsfreiheit einschränken zu wollen, zurück. Stattdessen heißt es in der Stellungnahme vom 4. Juli an die Adresse der Kritiker: „Unter dem Vorzeichen der Verteidigung formaler Freiheiten wird verschleiert, über welche gravierenden inhaltlichen Punkte eine Auseinandersetzung geführt werden muss – die soll aber offensichtlich gerade vermieden werden. Die Gegenerklärung bleibt hier merkwürdig stumm.“ Ob diese Diagnose wirklich so stimmt, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Plausibler erscheint beim Vergleich beider Stellungnahmen aus der „Tagespost“ eher eine andere Beobachtung: Einmal mehr zeigt die mit harten Bandagen innerhalb der Christlichen Sozialethik ausgetragene Kontroverse, wie schwer ein „substantieller Dialog“, den beide Seiten mit unterschiedlichen Argumenten einfordern, heute fällt. Dies gilt nicht allein für die Wissenschaft im Allgemeinen und die wissenschaftliche Sozialethik im Besonderen. Zu Recht sprechen die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft zu Beginn ihrer Stellungnahme „eine zunehmende politische Polarisierung unserer Gesellschaft“ an. Ein gemeinsames Freiheitsbewusstsein ist zwischen beiden Stellungnahmen so gut wie nicht mehr auszumachen, dies gilt in diesem Zusammenhang auch für andere normativ besetzte Begriffe wie „Dialog“, „Vielfalt“ und „Pluralität“. Die Verständigung wird sicher nicht einfacher, wenn jetzt auch noch eine Verbindung zum Mord an Walter Lübcke hergestellt wird, der ohne Zweifel durch nichts zu rechtfertigen ist.
Soll ein „substantieller Dialog“ wirklich wieder gelingen, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Streit – hart in der Sache, aber fair im Umgang. Eine solche Streitkultur setzt voraus, dass sich alle Beteiligten ihrer formalen Freiheitsrechte sicher sein dürfen. Über Inhalte mag man dann trefflich streiten – und wenn es sein muss, auch mal polemisch. Davon geht die Welt nicht unter. Was gesellschaftlich gilt (erst vor kurzem hat Altbundespräsident Gauck eine „robuste Zivilität“ für die Debatte in Deutschland angemahnt), sollte auch innerkirchlich gelten. Warum der Vorwurf der „Doppelzüngigkeit“ an einen Bischof, mithin eine Person der Zeitgeschichte, in einem streitbaren Editorial seinen Verfasser schon aus der „diskursiven wissenschaftlichen Community“ hinausdrängt, bleibt unklar. Auch unsere Kirche verträgt mehr Streitkultur. An dieser Stelle kann an das Theologenmemorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“ erinnert werden, an dem auch deutschsprachige Sozialethiker führend beteiligt waren – darin heißt es: „Die Unruhe eines offenen Dialogs ohne Tabus ist nicht allen geheuer, schon gar nicht wenn ein Papstbesuch bevorsteht.“ Offenbar gilt dies nicht allein für Kirchenleitungen und nicht allein vor Papstbesuchen. Substantieller Dialog ohne die Unruhe eines offenen Dialogs wird nicht gelingen – das zeigt die aktuelle Kontroverse einmal mehr.