„Miteinander reden und lachen;
sich gegenseitig Gefälligkeiten erweisen;
zusammen schöne Bücher lesen;
sich necken, dabei aber auch einander Achtung erweisen;
mitunter auch streiten,
freilich ohne Gehässigkeit,
wie man es wohl auch einmal mit sich selbst tut;
manchmal auch in den Meinungen auseinandergehen
und damit die Eintracht würzen;
einander belehren und voneinander lernen;
die Abwesenden schmerzlich vermissen
und die Ankommenden freudig begrüßen –
lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe,
die aus dem Herzen kommt,
sich äußern in Miene, Wort und tausend freundlichen Gesten
und wie Zunder den Geist in Gemeinsamkeit entflammen,
so daß aus den Vielen eine Einheit wird.“
Diese Worte sind tausendsechshundert Jahre alt. So umschreibt der abendländische Kirchenvater Augustinus in seinen „Confessiones“ (IV 8, 13; Übers. zitiert nach Negel, S. 6) die Lebensform der Freundschaft.
Doch was macht deren besonderen Wert aus? Drei Antworten sollen anhand des umfangreichen, tiefgehenden und überaus lesenswerten Bandes aus der Feder Joachim Negels erschlossen werden. Auch wenn der Klappentext des Bandes vorsichtig davon spricht, der Titel bestehe aus zwanzig Essays, die das Thema aus unterschiedlichen Richtungen in den Blick nehmen, ergeben diese für den Leser einen inneren, stimmigen Zusammenhang. Der folgende Dreiklang verweist auf den philosophischen, politischen und geistlichen Gehalt des Freundschaftsversprechens.
(1) Der Fundamentaltheologe an der Universität Freiburg in der Schweiz und Burgpfarrer auf Burg Rothenfels umschreibt die Lebensform der Freundschaft folgendermaßen: „Freundschaft ist zunächst und vor allem Gespräch. Freunde sind im Gespräch miteinander, und je intensiver das Gespräch, umso größer der Raum, der sich zwischen ihnen eröffnet. In ihm wird die Welt bedeutsam; man hört, was die Dinge sagen wollen; man sieht (in) ihr Antlitz und gerät dadurch in eine Tiefe und Weite der eigenen Seele wie auch der Welt, die es vorher nicht gab“(Negel, S. 51). Und so könne die Freundschaft auch als Geburt der Philosophie bezeichnet werden.
Erinnert sei etwa an Vergil. Dieser bedeutendste Vertreter der augusteischen Dichtung führte nicht allein die lateinische Sprache zu besonderer Blüte, was ihm bis heute einen Platz in der humanistischen Bildung sichert. Er setzte in seinem Epos Aeneis dem Freundespaar Euryalus und Nisus ein ewiges Denkmal. Das Ideal ihrer Freundschaft, das Vergil schildert, steht nicht allein für die Tugend römischer Tapferkeit, sondern verkörpert die seelische Größe der Hochherzigkeit, deren Verpflichtung letztlich selbst das Scheitern der Tat überstrahlt.
(2) Die amicitia ist aber nicht allein eine philosophische, sondern zugleich auch eine eminent politische Tugend. So schreibt Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik: „Die Erfahrung lehrt, daß Freundschaft die Polisgemeinden zusammenhält, denn die [politische] Eintracht hat offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Freundschaft.“ Gemeinsame Orientierungswerte, sozialer Zusammenhalt und Bürgersinn stehen als Ressourcen nicht beliebig zur Verfügung. Die Fundamente, auf denen Staat und Gesellschaft ruhen, müssen gepflegt werden. Ein Gemeinwesen sollte daher mit seinen Traditionen, dem Wissen um seine kulturelle Herkunft und Identität nicht allzu verschwenderisch oder leichtfertig umgehen, wenn die Fundamente nicht bröckeln sollen.
Das gemeinsame Ethos unseres Gemeinwesens will gepflegt werden. Gerechtigkeit im Staat gründet im Kern auf der Tugend seiner Bürger. Der Mensch ist unhintergehbar ein zoon politikon, wie Aristoteles formuliert hat, gemeinschaftsfähig wie gemeinschaftsbedürftig zugleich. Für Michel Foucault könne Eintracht als „Freundschaft unter Bürgern“verstanden werden. Diese Tugend ist für Negel unverzichtbar für ein humanes und geordnetes Zusammenleben. Unser gesellschaftliches Ethos „beruht auf der Vorzüglichkeit ihrer seelischen Veranlagung, auf der konzentrierten Pflege solcher Veranlagung im Austausch mit den Freunden sowie auf der daraus sich erbildenden vernünftigen Einsicht“ (ebd., S. 127). Wo dieses Ethos zerfällt, setzen über kurz oder lang politische, soziale und kulturelle Verteilungskämpfe ein, auf Dauer degeneriere der Staat zur Tyrannis, zur Ochlokratie oder zur Oligarchie.
Ein Freundschaftsideal zu pflegen, hat insofern eine eminent politische Bedeutung, die wir nicht unterschätzen sollten, und dieses Pfund sollten wir – gerade als Christen – nicht hinter Mauern im Privaten verstecken, sondern im Beruf, im Engagement für das Gemeinwesen und in der gesellschaftlichen Diakonie gelebten Glaubens einsetzen, damit es reichen Zins bringt.
(3) Und ein dritter Gedanke: „Nur am Du bildet sich ein Ich.“ Ohne liebendes Du könne es auch kein Ich geben – so habe es Martin Buber in seiner Dialogphilosophie stark gemacht. Dies mag der Grund sein, warum das Thema Freundschaft die Gemüter aller Epochen der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder bewegt hat. Wo sich Menschen in Freundschaft verbinden, öffnen sich unverhoffte Möglichkeiten, erleben wir uns als beschenkt und können auch andere beschenken: Ich kann dem Leben trauen, weil ein anderer zu mir steht.
Freundschaft bedeute Treue und Trost – so heißt es schon in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur. „Es gibt Gefährten, die gereichen zum Verderben. Mancher Freund aber ist anhänglicher als ein Bruder“(Spr 18, 24), heißt es im Buch der Sprichwörter. Und „ein treuer Freund ist ein Trost im Leben; ihn findet, wer den Herrn fürchtet“ (Sir 6, 16), sagt der Weisheitslehrer Jesus Sirach.
Trost und Treue: Nicht umsonst sei in der christlichen Tradition versucht worden, auch die innertrinitarische Beziehung in Freundschaftskategorien zu denken und die Beziehung zu Gott als Gottesfreundschaft zu deuten.
Freundschaft ist ein großes Versprechen. Letztlich versprechen wir mit jeder Freundschaft mehr, als wir Menschen in unserer Sterblichkeit halten können. Mit der Treue, die wir einander versprechen, eröffnen sich existentielle Fragen religiöser Natur, so Negel. Es gehe um den Grund des Lebens, der mich trägt. In einer säkularen Gesellschaft wirkten Fragen danach oft peinlich. Selbst in kirchlichen Zusammenhängen mag es oft nicht mehr leicht fallen, diese Fragen zu stellen. Und doch: Wir können ihnen am Ende nicht ausweichen. „Die Religion war mir seit langem zuwider, und trotzdem spürte ich auf einmal eine Sehnsucht, mich auf etwas beziehen zu können. Es war unerträglich, einzeln und mit sich allein zu sein.“ – zitiert Negel den Schriftsteller Peter Handke mit seinem „Kurzen Brief zum langen Abschied“.
Für Christen könne der tragende Grund des Lebens letztlich vom Menschen nicht selbst gemacht werden oder von ihm ausgesucht werden; er übersteige das, was der Mensch sich selbst geben kann. Für Christen sei es ein ganz Anderer, der uns sagt: Du sollst sein. Theologen sprechen von Gnade. An ihr habe die Freundschaft Anteil. Und so öffne uns die Freundschaft eine Tür in die Unendlichkeit, in die Ewigkeit.
Gespräch und Hochherzigkeit, Eintracht und vernünftige Einsicht, Treue und Trost – sind Kurzformeln für jene Tiefe der Freundschaft, die Negel in seinem Essayband auf sehr berührende Weise erschließt. Hier wird theologische Reflexion zu literarischem Genuss. Das Werk füllt in der Debatte über Freundschaft eine zentrale Lücke, indem nicht allein philosophische, psychologische oder kulturwissenschaftliche Fragen verhandelt werden. Unaufdringlich gelingt es Negel, auch die politischen Implikationen und nicht zuletzt religiösen Hintergründe des Freundschaftsideals auszuleuchten.
Allerdings vermeidet Negel zu recht die Falle, die Tugend der Freundschaft nahtlos zu einer normethischen Kategorie zu erheben, aus der sich vorschnell politische Forderungen ableiten lassen, wie es etwa in jüngeren sozialethischen Veröffentlichungen immer wieder zu erleben ist, nicht zuletzt wenn von Gastfreundschaft im Rahmen der migrationsethischen Debatte die Rede ist. Die Verfassung steckt den Rahmen ab, in dem Freiheit sich entfalten kann. Wie dieser Rahmen so ausgefüllt wird, dass ein lebensdienliches wie gemeinwohlförderliches Zusammenleben sich entfalten kann, muss immer wieder ausgehandelt werden, im Rahmen einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, welche die Tätigkeit des Staates und den produktiven Willen der Einzelsubjekte zusammenbringt.
Christen werden dabei ihre Orientierungswerte, etwa die Tugend der Gastfreundschaft, einbringen. Sie wissen aber auch um die Differenz zwischen religiöser und politischer Sphäre, nach der unnachahmlichen Formel bei Matthäus: Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Denn das christliche Evangelium stemmt sich nicht allein politischen Heilslehren entgegen, die sich selbst absolut setzen, es liefert umgekehrt auch nicht einfach ein umfassendes göttliches Gesetz. Vielmehr eröffnet das Evangelium den Raum für eine Politik aus christlicher Verantwortung, die im politischen Diskurs Kontur gewinnt und eine Verschiedenartigkeit säkularer Gesetze zulässt.
Joachim Negel: Freundschaft. Von der Vielfalt und Tiefe einer Lebensform, Freiburg im Breisgau: Herder 2019, 533 Seiten.