Kinder seien als selbständige Subjekte und Träger eigener Rechte anzuerkennen. Kinder hätten ein Recht auf wirksame Beteiligung. Kinder sollten die Möglichkeit haben, politisch etwas zu verändern. Bestehende Asymmetrien zwischen Kindern und Erwachsenen müssten abgebaut werden. So tönt es im Kinderrechtsdiskurs – etwa bei der Sozialethikerin Anna Maria Riedl, deren Dissertation zum Kindeswohlbegriff sich auf Judith Butler stützt. Riedl lässt keinen Zweifel daran, dass aus einem erweiterten Beteiligungsbegriff auch erweiterte Rechtsansprüche der Kinder gegenüber Staat und Gesellschaft abzuleiten seien. Über den Einfluss der Erzieher und Eltern müsse machtkritisch reflektiert werden.
Solche Überlegungen finden keineswegs allein im akademischen Elfenbeinturm statt. Nur ein Beispiel: Die politischen Pläne der grünen Bundestagsfraktion für ein neues Gesetz zur sexuellen Selbstbestimmung sehen vor, dass Heranwachsende bereits mit dem vierzehnten Lebensjahr ihr Geschlecht wechseln und hormonelle oder operative Maßnahmen einleiten könnten, auch ohne medizinische Indikation und auch ohne Zustimmung der Eltern.
Was in der sexuellen Selbstbestimmung recht ist, muss aber noch keineswegs beim täglichen Mittagessen billig sein. Schauen wir uns noch ein zweites Beispiel an: Kinder seien keineswegs autonom, der Staat trage daher eine besondere Verantwortung für das Wohl der Kinder, erklärte jüngst die Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Alena Buyx, in einem Interview mit dem Fachblog Ernährungsmedizin. Der Staat müsse sich mehr um die Verpflegung in Schulen und Kindertageseinrichtungen kümmern: „Es ist eben nicht nur Privatsache, was ich esse, denn die Ernährung hat auch viele Effekte nach außen hin: Krankheitskosten, soziale Kosten, ökologische Kosten und so weiter“, belehrt uns die Medizinethikerin.
Zwischen pubertärer Selbstbestimmung und libertärem Paternalismus
Pubertätsblocker ja, Pommes nein. Auf der einen Seite werden Schutzaltersgrenzen abgebaut, auf der anderen Seite wird der Staat zu Eingriffen in das private Ernährungsverhalten ermächtigt. Und alles im Namen von Kindeswohl, Kinderrechten und daraus abgeleiteten Beteiligungsansprüchen. Ethische Hochglanzbegriffe scheinen beliebig verwendbar: Mal legitimieren sie eine weitreichende Entscheidungsfreiheit, ohne dass Schutzbedürfnisse überhaupt noch Erwähnung finden. Dann wiederum legitimieren sie weitreichende Eingriffe des Staates in alltägliche Entscheidungen – nach dem Motto: Auch das Private ist politisch.
Frühe Maßnahmen einer Geschlechtsangleichung können einen sozialen Druck aufbauen, der die Lösung pubertärer Identitätskonflikte erschwert. Mit jugendlichem Protest- oder Nachahmungsverhalten wird nicht mehr gerechnet. Heranwachsenden mit noch nicht abgeschlossener Persönlichkeitsentwicklung schon eine voll ausgebildete Entscheidungsfreiheit zu unterstellen, wie es in der Debatte um sexuelle Selbstbestimmungsrechte geschieht, könnte sich als Erwachsenenprojektion herausstellen. Die Diskussion um erweiterte transsexuelle Kinderrechte zeigt, wie die Vulnerabilität Heranwachsender, auf welche gerade die Kinderrechte reagieren wollen, mit kinderrechtlichen Argumenten übergangen wird.
Doch offenbar lauern die Gefahren eher am Mittagstisch. Und hier soll ein libertärer Paternalismus, wie es in der ethischen Fachsprache heißt, kein Problem sein. Schließlich geht es nicht um staatliche Ernährungseingriffe, wie die Presse böswillig titelte, sondern um „die sinnvolle Gestaltung der Entscheidungsarchitekturen“, wie Alena Buyx es ausdrückt. Na bitte, das hört sich doch schon ganz anders an. Der fürsorgliche Staat weiß am Ende besser, was der Einzelne tun oder lassen sollte. Man muss die Freiheitseingriffe nur richtig verkaufen: „Entscheidend ist die Ernährungskommunikation, mit der man die Umgestaltung der Entscheidungsarchitektur begleitet.“
Ethische Antworten werden beliebig
Bei permanenter Machtkritik kann schon einmal der Überblick verloren gehen. Offenbar sind eher Eltern, die ihrer Erziehungsverantwortung nachkommen, ein problematischer Machtfaktor als ein Staat, der ja nur unser Bestes will. Eine Ethik, die alles allein aus machtkritischer Perspektive betrachtet, verliert das Gespür dafür, was Macht von Autorität unterscheidet. Eine Ethik aber, die nicht mehr zu unterscheiden vermag, verliert am Ende selbst an Autorität. Ihre Antworten werden offenbar beliebig. Mal so, mal so – je nach Zeitgeist und eigenem Gusto. Das eine Mal eben für unhinterfragbaere Selbstidentifikation und Entscheidungfreiheit. Das andere Mal für staatliche Bemutterung und Regulierung.
Wo etwa im Umgang mit Geschlechtlichkeit eine Gleichrangigkeit an Verantwortung, Selbständigkeit und Erfahrung, die pädagogisch, entwicklungspsychologisch und emotional nicht gegeben ist, proklamiert und die Differenz zwischen den Generationen verleugnet wird, wird der Erziehungsaufgabe der Boden entzogen. Wo aber der Erziehungsgedanke sich verflüchtigt und das Bewusstsein für die besondere erzieherische Verantwortung der Elterngeneration schwindet, besteht die Gefahr, dass die Heranwachsenden notwendige pädagogische Förderung und Unterstützung verlieren und am Ende mit den zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben alleingelassen werden. Denn wo die besondere Verwiesenheit der Heranwachsenden auf ihre Eltern und umgekehrt deren pädagogische Verantwortung verkannt werden, wird es auch kommunikativ schwerfallen, das besondere pädagogische Angewiesensein der Kinder und Jugendlichen sowie deren Recht auf Erziehung zu thematisieren.
In die Lücke springt ein Staat, der immer schon weiß, was gut für uns ist – sei es eine unbedingt anzuerkennende gesellschaftliche Vielfalt, bei der entwicklungspsychologische Vorbehalte gegenüber der sexuellen Autonomie Heranwachsender gar nicht mehr geäußert werden dürfen. Oder sei es der freundliche Stups am Mittagstisch, damit wir uns beim Mittagessen nicht selber schaden. Eben mal so, mal so.
Ein Trostpflaster bleibt: Mitunter regt sich doch Widerstand, wenn es der Staat mit seiner vermeintlichen Fürsorge übertreibt. Berlin, das sich mittlerweile selbst schwer damit tut, ordnungsgemäße Wahlen durchzuführen, lieferte im September den Beleg. Der dortige Senat hatte eine 2G-Regel für Kinder beschlossen, selbst wenn für diese noch gar keine Impfempfehlung vorliegt. Der gemeinsame Restaurant-, Museums- oder Zoobesuch für Familien wäre damit ausgeschlossen worden. Was zählen schließlich schon Kinderrechte und soziale Teilhabeansprüche von Kindern, wenn Gesundheit in Zeiten wie den unsrigen das Allerwichtigste ist!? Die Regelung hielt genau einen Tag, dann musste man nachbessern. Zu groß war die Kritik von Bürgern, Verbänden und Vereinen.
Staatlichkeit ja, aber kein übergriffiger Etatismus
Wer Unterstützung braucht, sollte diese erhalten. Dies gilt etwa bei Konflikten in der geschlechtlichen Identitätsentwicklung, allerdings mit der notwendigen Beratung, Sorgfalt und im Einklang mit dem Elternrecht. Es hat seinen guten Sinn, Kinder mit solchen Konflikten nicht allein zu lassen. Und zunächst einmal bleibt zu unterstellen, dass Eltern ihre Kinder im Sinne des Kindeswohls dabei erzieherisch klug und wohlwollend unterstützen. Der Staat bleibt begründungspflichtig, wenn er im Einzelfall anderes unterstellt.
Doch staatliche Eingriffe in die private Handlungsfreiheit dürfen nicht zum Regelfall erklärt werden. Allzu oft erleben wir gegenwärtig einen Etatismus, der staatliche Schutzpflichten als Freiheitsgewinn verkauft und nicht wahrhaben will, wie sehr der Einzelne dadurch unmündig und abhängig gehalten wird.
Dies zu erkennen, bräuchte es eine Ethik, die wieder ein rationales, nüchternes Verhältnis zum Staat entwickelt. Einer Ethik, die allzu gern von Gesellschaft redet, den Grundauftrag robuster Staatlichkeit aber aus dem Blick verloren hat, fällt dies allerdings schwer. Wir brauchen einen durchsetzungsfähigen Staat, der seinen Kernaufgaben innerer und äußerer Sicherheit gerecht wird, die Einhaltung des Rechts garantiert und in sozialen Notsituationen verlässliche Hilfe sichert. Wir brauchen aber keinen Staat, der in immer mehr gesellschaftliche Teilbereiche vordringt, die Eltern-Kind-Beziehung unterläuft und die private Handlungsfreiheit durch wohlmeinenden Paternalismus ins Gegenteil verkehrt.
Zwischen beidem zu unterscheiden, braucht es in der Ethik nicht die richtige Haltung, sondern solides Methodenwissen, etwa ein klares Verständnis des Subsidiaritätsprinzips und die Kenntnis ethischer Vorzugsregeln. Eine solche Ethik muss sich versagen, bestimmte Themen, die gerade en vogue zu sein scheinen, absolut zu setzen. Und Ethik braucht ein gesundes Maß an Skepsis sich selbst gegenüber, damit sie nicht der Gefahr wohlmeinender Moralisierung erliegt: Die Ansprüche und Instrumente einer „moralischen Profession“ müssen immer wieder der ethischen Selbstkritik ausgesetzt und auf ihre Lebensdienlichkeit hin befragt werden. Nur dann wird eine normative Diszipliln erkennen, wo sich der eigene Fachdiskurs auf wissenschaftliche Moden und zeitgeistige Trends zu verengen droht. Ein übergriffiger Etatismus, der den Wert des Einzelnen verkennt und staatliche Schutzpflichten überdehnt, gehört aktuell hierzu.