Workshop im Rahmen der Märzfachtagung des Bundesverbands evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik (BeA) am 14./15. März 2019 in Gotha
PÄDAGOGIK ALS MENSCHENRECHTSPROFESSION
Schule legitimiert sich nicht vorrangig durch ihren gesellschaftlichen Auftrag. Bildung zielt zuallererst auf die Mündigkeit des Einzelnen: in kultureller, beruflicher, sozialer und politischer Hinsicht. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Schule müssen pädagogisch so transformiert werden, dass sie den Bedürfnissen und Interessen der Einzelnen entsprechen. Die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten sollte Teil umfassender Persönlichkeitsbildung sein. Dieser Anspruch gilt grundsätzlich für alle. Der Einzelne soll nicht allein funktionales Wissen erwerben, sondern urteils- und entscheidungsfähig werden. Er soll das Gelernte lebensdienlich wie gemeinwohlförderlich einsetzen können.
Die pluralistische Willensbildung ist nicht nur ein Ziel von Schule, sondern notwendiges Grundprinzip der Schule in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Der Zugang zu Bildung muss jedem möglich sein, unabhängig von äußeren Merkmalen. In der spätmodernen Gesellschaft gibt es kaum noch einen Lebensbereich, der nicht auf Bildungsprozesse angewiesen ist. Ohne Bildung wird sich der Einzelne in nahezu allen Lebensbereichen schwer tun. Bildung ist als eigenständiges Menschenrecht geschützt, das den Einzelnen davor bewahrt, von anderen manipuliert oder geformt zu werden.
Bildung ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung aller anderen Menschenrechte. Die Menschenrechte sichern dem Einzelnen die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Leben. Der menschenrechtlich gesicherte Zugang zu Bildung ist hierfür von entscheidender Bedeutung.
Umgekehrt bedürfen die Menschenrechte der Förderung durch pädagogisches Handeln: durch eine entsprechende Werterziehung, durch eine gelebte Kultur der Anerkennung und Wertschätzung im pädagogischen Umgang und durch die altersgemäße Beteiligung von Kindern an Entscheidungen, die sie betreffen. Pädagogische Berufe können daher als wichtige Menschenrechtsprofessionen bezeichnet werden.
Selbstkritisch müssen Pädagogen aber auch über die Grenzen ihres eigenen Handelns reflektieren, besitzen sie doch keineswegs unerhebliche Eingriffsmöglichkeiten in die Lebensumstände der Heranwachsenden, die ihnen anvertraut sind. Schule verteilt Berechtigungen und beeinflusst dadurch Lebensentscheidungen. Werden Bildungsinhalte verzerrt dargestellt oder nicht so aufbereitet, dass sie vom Lernenden gedanklich nachvollzogen werden können, besteht die Gefahr, dass der Einzelne überwältigt, manipuliert oder indoktriniert wird. Bildungseinrichtungen sind nicht primär politische Akteure, aber sie üben eine politische Wirkung aus durch das, was sie den Heranwachsenden mit auf den Lebensweg geben – oder auch nicht. Der Schulraum ist ein modellhafter Lernort für den Umgang mit Gerechtigkeitsfragen.
Die Lernenden sollten im Verlauf ihrer Ausbildung nicht allein ein Handlungswissen für die zukünftig angestrebte Erziehungstätigkeit erwerben, so wichtig dies ist. Sie sollten auch in der Lage sein, ihre Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten aktiv zu nutzen, etwa im Rahmen des Teams, in Gremien des Trägers, in Berufsverbänden oder im kommunalpolitischen Engagement. Sie sollten gegenüber der fachlichen und politischen Debatte über Elementarbildung ein eigenständiges, begründetes Urteil einnehmen können und in der Lage sein, daraus Konsequenzen für die eigene Erzieherrolle abzuleiten.
Derartige Kompetenzen müssen angeeignet, entwickelt sowie ziel- und lernerorientiert organisiert werden, wobei motivationale Aspekte eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Sich mit den Rechten im Rahmen der eigenen Berufsrolle auseinander zu setzen und diese reflexiv beurteilen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung, ein professionelles Selbstverständnis auszubilden sowie berufliche Urteils- und Handlungskompetenzen zu erwerben: zum einen im Hinblick auf die Fähigkeit, die Bedingungen des eigenen beruflichen Handelns mitzugestalten und die eigenen Mitbestimmungsmöglichkeiten aktiv zu nutzen; zum anderen im Hinblick auf die berufsethisch verantwortliche Gestaltung des eigenen professionellen Handelns und die Ausbildung einer eigenständigen Erzieherpersönlichkeit. In der Erzieherausbildung wird dies – im Rahmen der Theorie-Praxis-Verknüpfung – über die Reflexion der am Lernort Praxis gesammelten Erfahrungen angebahnt werden.
Über die eigenen Rechte, aber auch Beschränkungen sowie damit verbundenen Gefühle und Reaktionen zu reflektieren, kann dazu beitragen, Kommunikations- und Empathiefähigkeit sowie Sensibilität gegenüber den Gefühlen anderer zu stärken – Fähigkeiten, die dem erzieherischen Handeln wiederum zugutekommen.
Die dominierende Perspektive bei der Beschäftigung mit dem Recht auf Bildung in seinen verschiedenen Facetten wird in der Erzieherausbildung eine pädagogische sein, das heißt: Sie wird ihren Ausgangspunkt von den Anforderungen her zu nehmen haben, die sich aus dem beruflichen Auftrag zu Bildung und Erziehung ergeben und darauf aufbauend rechtliche Fragestellungen integrieren. Auf diese Weise kann die Beschäftigung mit dem Recht auf Bildung einen möglichen Beitrag dazu leisten, über die spezifischen pädagogischen Bedingungen, Anforderungen und Ziele des eigenen beruflichen Handlungsfeldes aufzuklären.
1. Möglichkeiten und Grenzen schulischer Demokratie- und Menschenrechtsbildung
Zu unterscheiden bleibt zwischen dem gesellschaftlichen und dem gemeinschaftlichen Charakter von Demokratie. Die freiheitliche Gesellschaft kennt einen legitimen Pluralismus an widerstreitenden Interessen, die mitunter heftig aufeinanderprallen können und die mit Hilfe geregelter Verfahren ausgehandelt werden müssen. Engagement gegen den Klimawandel oder für Inklusion zum Beispiel scheint unumstritten zu sein; man erstellt hierzu im Rahmen des Unterrichts Plakate oder Flyer, die zur Umkehr ermuntern. Tatsächlich aber handelt es sich um ein Konfliktthema, nicht nur, weil es sogenannte Klima- oder Inklusionsskeptiker gibt, sondern vor allem deshalb, weil konkurrierende Anliegen ebenfalls Anspruch auf gesellschaftliche Ressourcen erheben (z. B. Arbeitsplatzsicherung, Mobilität oder Denkmal¬schutz im ersten Fall) oder weil sich die konkrete Realisierung menschenrechtlicher Ansprüche nicht einfach nach einer mathematischen Formel aus einem abstrakten Prinzip ableiten lässt. Über beide Fragen muss verhandelt werden, etwa bildungspolitisch.
Interessengegensätze dürfen nicht vorschnell kleingeredet werden. Politik zu verstehen, heißt auch, das Ringen um Macht und Einfluss zu durchschauen sowie sich an demokratischen Verfahren und politischen Abstimmungen kompetent zu beteiligen. Und sich gerade nicht durch diffuse Gefühle oder fremde Vorgaben bestimmen zu lassen. Sonst bleibt schnell der Eindruck haften, Politik sei „ein schmutziges Geschäft derjenigen da oben“, dem der Einzelne allenfalls hilflos gegenübersteht. Auch Pädagogen mag diese Haltung nicht immer fremd sein.
Die Bedeutung sozialer Tugenden oder Bürgerhaltungen, auf die eine funktionierende Demokratie angewiesen bleibt, soll nicht geleugnet werden, doch sind diese nicht wie ein bestimmter Unterrichtsstoff intentional vermittelbar. Diese entwickeln sich im gesellschaftlichen und personalen Umgang innerhalb der Schulgemeinde, sind eine Frage der Erziehung. Es braucht die leidenschaftliche Debatte um den Stellenwert von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, es braucht den engagierten Einsatz für das Recht und einen gesellschaftlichen Grundkonsens, es braucht den Willen zum Kompromiss und zur Kooperation. An einer Kultur der Menschenrechte zu arbeiten und jenes Ethos zu fördern, auf das die Menschenrechte angewiesen sind, bleibt eine beständige Aufgabe. Eine gefestigte Demokratie wird aber auch ein bestimmtes Maß an politischem Desinteresse, an Gleichgültigkeit oder Indifferenz vertragen müssen. Eine Gesellschaft, in der es all dies nicht mehr geben dürfte, wäre eine uniformierte, totalitäre Gesellschaft.
2. Wertkonflikte im Bildungsbereich
Ihre Grenze finden Demokratiepädagogik und Menschenrechtsbildung in der Schule dort, wo nicht allein Handlungskompetenzen, sondern Einstellungen oder Haltungen bildungspolitisch gesteuert werden sollen, wo eine bestimmte zu den Menschenrechten und zur Demokratie passende Disposition auf Seiten der Lernenden herzustellen versucht wird. Solche pädagogischen Versuche geraten schnell in die Gefahr, die Educandi im Sinne gesellschaftspolitisch erwünschter Meinungen zu überwältigen, und erreichen dadurch genau das Gegenteil: Die Lernenden werden daran gehindert, sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Bildung in der Demokratie hat drei zentrale Voraussetzungen: (1.) Die Schüler müssen vor Manipulation und Indoktrination sicher sein. (2.) Sie müssen sich mit kontroversen Positionen auseinandersetzen können, damit sie ein eigenständiges Urteil erlangen. (3.) Und sie müssen Kompetenzen erwerben, die es ihnen erlauben, für ihren eigenen Standpunkt wie für die Interessen der Gesamtheit selbstbewusst einzutreten. Andernfalls stünden am Ende nicht Demokraten, die vermeintlich „richtig denken“, sondern Demokraten, die es überhaupt verlernt haben, selbständig zu denken. Selbständig und frei denken zu können, ist aber gerade der aufklärerische Anspruch jeglicher Bildung.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert, wie bereits eingangs gezeigt wurde, mit Art. 26 Abs. 2 ein eigenes Recht auf Menschenrechtsbildung. Die Menschenrechte sind ein relevanter Bildungsinhalt, für sich genommen aber noch kein hinreichendes Bildungsziel. Die Menschenrechte müssen angewandt, ausgelegt und, da ihre positiv-rechtliche Ausformung historisch-vorläufig bleibt, angesichts politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen möglicherweise angepasst, fortgeschrieben und weiterentwickelt oder auch auf ihren eigentlichen Kern zurückgeführt oder begrenzt werden. Dabei können menschenrechtlich begründete Ansprüche durchaus miteinander in Konflikt geraten (z. B. die Rechte auf Bildung und Religionsfreiheit) und müssen zum Ausgleich gebracht werden. Menschenrechtsbildung ist daher kein Ersatz für ethische Bildung. Vielmehr bedarf ein angemessener Umgang mit den Menschenrechten der Befähigung zur sittlichen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung.
Ethische Fallbesprechungen können ein Weg sein, die hierfür erforderlichen Kompetenzen einzuüben. Das im Folgenden näher vorgestellte Beispiel, das bereits in unterschiedlichen Unterrichtssituationen erprobt wurde, ist anschlussfähig an verschiedene thematische Kontexte, die im Lehrerhandeln eine Rolle spielen: z. B. Integration und Identität, Normen und Werte in der Erziehung, Heterogenität und Interkulturelle Pädagogik, Inklusion und pädagogischer Umgang mit unterschiedlichen Bedürfnissen, politische Bildung und Demokratiepädagogik, Rahmenbedingungen erzieherischen Handelns und Ausgestaltung pädagogischer Institutionen. Abhängig vom Kontext und von den Erfahrungen der Lerngruppe, sind vorbereitend sozial- und berufsethische Prinzipien einzuführen, die für eine begründete Abwägung der betroffenen Werte und eine sachlich informierte Fallbesprechung wichtig sind. Zugleich ist der empirische Anteil der angesprochenen Wertfragen auszuleuchten, beispielsweise in Form von Auszügen aus Integrationsstudien. Das Fallbeispiel initiiert sehr rasch ein Gespräch über Wertkonflikte in pädagogischen Institutionen. Der Lehrkraft fällt dabei eine moderierende und advokatorische Funktion zu; sie hat darauf zu achten, dass möglicherweise vernachlässigte Positionen und Perspektiven in die Diskussion eingebracht werden.
3. Fortbildungsmodul „Pädagogische Berufsethik“
Vorzubereiten sind zwei Plakate, Flipchartpapiere oder ein Tafelbild mit den Speiseplänen (Tagesmenü) zweier Kindertageseinrichtungen oder Ganztagsschulen, die erst zu Beginn der Fallbesprechung aufgedeckt werden. Die eine Einrichtung bietet in etwa folgende Auswahlessen an: zum einen Putenschnitzel mit Leipziger Allerlei und Pommes, zum anderen Gemüsepizza, dazu Schokoladenpudding ohne Gelatine. In der anderen Einrichtung gibt es ausschließlich Schweineschnitzel mit Leipziger Allerlei und Pommes, dazu dann Wackelpudding mit Vanillesoße.
Durchführung
Die „Pipi-Langstrumpf-Schule“ (oder auch: das Kinderhaus „Kunterbunt“) bietet mittags nur ein Schweinefleischgericht an, die „Astrid-Lindgren-Schule“ (oder: das Kinderhaus „Regenbogen“) hingegen ein Gericht mit Putenfleisch und alternativ zusätzlich noch ein vegetarisches Essen … Die Lernenden werden vermutlich rasch merken, dass es bei diesen fiktiven Speiseplänen nicht allein um Fragen der Küchenorganisation geht. Hinter beiden Speiseplänen stecken Wertentscheidungen, welche die „Rechte in der Bildung“ betreffen und die in der gemeinsamen Diskussion sichtbar gemacht werden sollen: Was ist einer Bildungseinrichtung wichtiger? Geht es in öffentlichen Kindergärten in erster Linie um Gleichheit oder um die Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen? Wie weit darf eine Bildungseinrichtung Anpassung von denen erwarten, die sie besuchen? Wie weit sind individuelle Bedürfnisse und Weltanschauungen zu berücksichtigen? Und was fördert Integration besser?
Im Pädagogikunterricht kann ein ethischer Konflikt nur simuliert werden. Dennoch sollen die Schüler am Ende begründet eine konkrete Handlungsoption formulieren. Charakteristisch für menschenrechtsethische Konflikte ist, dass diese allein im praktischen Vollzug aufgelöst werden können, wobei nach einer Lösung zu suchen ist, bei der alle betroffenen Werte und Güter geachtet werden, soweit dies in der konkreten Konfliktsituation möglich ist; um der Unteilbarkeit der Menschenwürde kann nicht einfach ein bestimmtes Recht über alle anderen gestellt, ein anderes aufgegeben werden. Ziel ethischer Fallbesprechung ist kein Konsens. Das sollte einleitend in der Lerngruppe auch angesprochen werden. Es kann und darf abweichende Voten geben, auch wenn sich die Gruppe am Ende auf eine Lösung verständigen soll. Folgende Schritte sind möglich:
1. Hinführung zum Thema: Die Lernenden äußern spontan ihre Gedanken zu den vorgelegten Speiseplänen und stellen Vermutungen an, was diese mit dem pädagogisch-ethischen Unterrichtskontext zu tun haben. Im Verlauf der Einstiegsphase sollten die Schüler und Schülerinnen eine Ahnung davon bekommen, dass die beiden unterschiedlichen Speiseplanformate nicht zufällig zustande gekommen sind. Schließlich können erste Hypothesen gesammelt werden, was die dahinterstehenden Motive sein könnten.
2. Intuitiver Zugang: Jeder Gesprächsteilnehmer bringt immer schon erste Intuitionen bei der Beurteilung von Wertkonflikten mit. Diese sollten eingangs durchaus zugelassen werden; so ergibt sich bereits zu Beginn der Fallbesprechung ein erstes Meinungsbild.
3. Erarbeitung: Allerdings sollten die Lernenden dabei nicht stehenbleiben, wenn die Fallbesprechung dazu verhelfen soll, die eigene Position zu klären und zu differenzieren. Am Ende sollte eine geklärte Entscheidung für eine konkrete Handlungsoption stehen, die auch argumentativ begründet werden kann. Daher ist es wichtig, nach dem intuitiven Zugang, eine gewisse Distanz zu schaffen. Die Lerngruppe kann nach Zufall geteilt werden; beide Teilgruppen erhalten – unabhängig von der persönlichen Meinung jedes Einzelnen – den Auftrag, nach Motiven und Gründen zu suchen, warum die „eigene“ Bildungseinrichtung einen Speiseplan wie den vorgelegten verwendet.
4. Sicherung: Die Ergebnisse werden im Plenum gesammelt und vom Moderator im Tafelbild einander gegenüber gestellt. Die einzelnen Positionen können in Form von Plädoyers vorgetragen werden; jede Gruppe verteidigt dann ihr pädagogisches Konzept, das im jeweiligen Speiseplan seinen konkreten Niederschlag findet.
5. Auswertung: Im Auswertungsgespräch wird es darauf ankommen, die Kerngedanken beider Positionen herauszuarbeiten. Dabei wird deutlich, dass beide Einrichtungen möglicherweise ähnliche Motive gesellschaftlicher Integration oder Toleranz verfolgen – aber auf zwei unterschiedlichen Wegen: Im einen Fall werden gleichheitsorientierte Ansprüche höher gewichtet, im anderen Fall freiheitsorientierte Ansprüche. Im ersten Fall geht es darum, dass in Bildungseinrichtungen „das Gemeinsame“ im Mittelpunkt steht. Etwaige individuelle kulturelle oder religiöse Bedürfnisse müssen dahinter zurücktreten. Im zweiten Fall steht die Anerkennung von Vielfalt stärker im Mittelpunkt. Die einzelne Bildungseinrichtung muss sich auf individuelle Bedürfnisse einlassen, da eine gemeinsame kulturelle Auffassung, beispielsweise hinsichtlich der Ess- und Speisekultur, nicht mehr vorausgesetzt werden darf.
6. Formulierung einer eigenen Entscheidung: Haben die Schüler die vorliegenden Beispiele zunächst im Rahmen vorgegebener Rollen analysiert und entsprechend argumentiert, steht nun die Formulierung einer eigenen Entscheidung an. Die vom Konflikt betroffenen Werte stehen inzwischen an der Tafel allen sichtbar vor Augen. Nun ist dem Einzelnen abzuverlangen, sich im erörternden Gespräch mit den anderen eine eigenständige Position zu erarbeiten und argumentativ zu vertreten. Mögliche Leitfragen können sein: Welche Werte und Kriterien stehen hinter meiner Entscheidung? Welche ethischen Prinzipien habe ich höherrangig gewichtet und aus welchem Grund? Welche Handlungsoptionen sehe ich? Wie verhalten sich die positiven und negativen Auswirkungen der einzelnen Optionen zueinander? Zu welcher Handlungsoption komme ich am Ende? Welche ethischen Kriterien waren hierbei ausschlaggebend? Habe ich auch die Gegenprobe vorgenommen: Welche Folgen hätte die gegenteilige Lösung. – Dabei geht es nicht um „richtige“ oder „falsche“ Antworten. Entscheidend bleibt die Stimmigkeit der ethischen Argumentation, mit welcher der Einzelne seine Position begründet und gegenüber den anderen vermittelt. Aufgabe des Moderators ist es an dieser Stelle, durch aktives Zuhören, gezielte Impulse oder vertiefte Nachfragen, dazu anzuregen, die eigene Position argumentativ auszuweisen, abzusichern oder noch einmal an anderen Perspektiven zu messen und gegebenenfalls zu überdenken.
In pädagogischen Lehrveranstaltungen wird vorrangig auf zwei Aspekte zu fokussieren sein: (1.) Wie soll in öffentlichen Bildungsinstitutionen mit den Rechten der einzelnen pädagogischen Akteure umgegangen werden? Welche Freiheitsrechte müssen gesichert sein? (2.) Welche gesellschaftliche Funktion soll Schule (oder auch: Elementarbildung) erfüllen? Wie kann Schule ihrer Integrationsaufgabe gerecht werden? Wie soll diese pädagogisch umgesetzt werden?
7. Mögliche Vertiefung (auch fächerübergreifend mit dem Religions- oder Ethikunterricht zu verbinden): Das gewählte Beispiel wirft die Frage auf, welchen Stellenwert Religion in öffentlichen Bildungseinrichtungen erhalten soll. Wird Integration stärker dadurch gefördert, dass Schule eine gemeinsam gelebte Kultur einfordert und religiöse Unterschiede möglichst aus dem Schullalltag heraushält? Oder gelingt Integration besser, wenn öffentliche Bildungseinrichtungen kulturell-religiöse Unterschiede gerade sichtbar machen und sich darauf einstellen? Welchen gesellschaftlichen und individuellen Wert besitzen kulturelle oder religiöse Identitätsmerkmale? Welche Gemeinsamkeiten braucht eine Gesellschaft, damit sie nicht auseinander fällt? Wie weit reichen diese? Geht es dabei nur um Fragen formaler Sittlichkeit und gemeinsam geteilte Grundrechte (Anerkennung des Grundgesetzes, der Menschenrechte, „Verfassungspatriotismus“ …) oder auch um gemeinsam geteilte, inhaltlich gefüllte Traditionen und Identitätsmerkmale? In welchem Maße ist Kultur wandelbar und ist dieser Wandel auch zu akzeptieren?
Didaktische Anforderungen
Das Fallbeispiel, das erkennbar konstruiert ist, besitzt reale Hintergründe. Während es in Deutschland zumeist erwartet wird, dass Mensen Auswahlgerichte anbieten, worunter sich mindestens ein vegetarisches Gericht, zunehmend auch ein Gericht ohne Schweinefleisch befinden sollte, sieht dies in Frankreich schon anders aus. Schon im Vergleich mit unserem unmittelbaren Nachbarland zeigen sich deutliche Unterschiede in der politischen Kultur. Unter Verweis auf republikanische Werte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit; Laizität) und das Ziel gesellschaftlicher Integration gehen französische Schulen und Kommunen nicht selten dazu über, nur ein Gericht für alle anzubieten.
In Berlin kam es vor einiger Zeit zu Protesten, weil in einer Jugendhaftanstalt generell kein Schweinefleisch mehr angeboten werden sollte. Der Konflikt wurde mitunter plakativ auf die Frage verkürzt: „Gibt es ein Recht auf Leberwurst?“. In Stuttgart musste der Oberbürgermeister „zurückrudern“, als Gerüchte aufkamen, in den Schulkantinen der Landeshauptstadt solle kein Schweinefleisch mehr serviert werden. Geht es hier lediglich um pragmatische Lösungen für die Gemeinschaftsverpflegung, beispielsweise aus Ressourcengründen, oder um Entscheidungen, die den Einzelnen in seiner Identität und Entfaltung deutlich einschränken? Jeder kann sich selbst fragen, wie er antworten würde, sollte er einmal im Krankenhaus oder Pflegeheim auf Großküchenkost angewiesen sein. Geht hier möglicherweise mehr verloren – ein Stück traditioneller Esskultur und damit ein durchaus wichtiger Bestandteil sozialer Identität und Beheimatung im eigenen Land? Wie verhalten sich Ansprüche der Mehrheitsbevölkerung gegenüber denen zugewanderter Gruppen?
Die vorgeschlagene Fallbesprechung greift aktuelle politische Debatten auf und lässt grundsätzlich mehrere Handlungsoptionen offen. Diese Diskussionsoffenheit darf vom Lehrer nicht eingeschränkt werden, sie muss sowohl bei der Einführung in die Thematik als auch in der Fallbesprechung ohne Abstriche aufrechterhalten werden. Der zur Diskussion stehende Fall macht zentrale Konflikte um die Rechte in Bildungseinrichtungen und den Umgang mit den Freiheitsräumen der Lernenden (und ihrer Eltern) sichtbar; der Lehrkraft wird dabei ein hohes Maß an fachdidaktischer Sensibilität abverlangt, wenn das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsens geachtet werden sollen. Vermieden werden muss, dass Schüler etwa durch „gutgemeinte Gegenpropaganda“ oder eine Überbetonung möglicher Vorteile der ein oder anderen Handlungsoption manipuliert werden. Die Lehrkraft darf Perspektiven ergänzen, muss aber aushalten können, dass Positionen vertreten werden, die der eigenen widersprechen. Gerade dies kann ein Lackmustest für die gelebte Freiheit im Pädagogikunterricht sein, der damit implizit selbst zu einem modellhaften Lernort für den Umgang mit Freiheitsrechten in der Bildung wird.
4. Pädagogische Freiheit
Pädagogik hat innerhalb der menschlichen Gesamtpraxis die spezifische Aufgabe, den Einzelnen zur Selbstbestimmung zu befähigen und die für ein gutes Leben notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen in der nachfolgenden Generation auf Dauer zu stellen. Lernen findet durchaus auch in anderen menschlichen Teilpraxen statt, doch zeigt sich die Eigenart der pädagogischen Denkart und ihre spezifische Leistung gerade in der didaktischen und methodischen Strukturierung von Lernvorgängen. Im Rahmen des Bildungs- und Erziehungsprozesses sollen die Educandi überdies ein subjektiv bestimmendes Verhältnis zum Gelernten einnehmen: Ziel ist nicht allein funktionales Verhalten, sondern ein bewusstes Handeln, nicht allein Wissen oder Kompetenz, sondern die Ausformung einer individuell geprägten Haltung.
Soll dieses Ziel erreicht werden, muss pädagogisches Handeln mehr sein als eine bloße Ordnungsleistung. Als soziale Interaktion und damit als ein Prozess, der zentral auf Kommunikation beruht, ist pädagogisches Handeln in entscheidender Weise personal bestimmt. Oder anders gesagt: Pädagogisches Handeln wird gelebt und erlebt. Lernende und Lehrende können – schon um der Einheit von Unterrichten und Erziehen willen – kein bloß distanziertes Verhältnis zueinander einnehmen. Pädagogisches Handeln als Hilfe zur Selbstentwicklung und Welterschließung setzt Empathie, moralischen Respekt und soziale Wertschätzung füreinander voraus.
Dabei trägt der Lehrende eine besondere sittliche Verantwortung gegenüber dem Educandus, insofern er auf die Persönlichkeit des Lernenden tatsächlich Einfluss ausübt, einen Einfluss, der nicht zu gering bewertet werden sollte und den der Heranwachsende nicht einfach abschütteln kann. Die Entscheidungen des Lehrenden können den gegenwärtigen, aber auch späteren Möglichkeits- und Erfahrungsraum der ihm anvertrauten Educandi erweitern oder ebenso deutlich beschneiden – zumal der Lehrer eine voll ausgebildete Verantwortungsfähigkeit auf Seiten des Schülers noch keineswegs voraussetzen kann, soll letzterer doch erst im Bildungs- und Erziehungsprozess dazu befähigt werden.
Wenn Lernen der Erweiterung der Selbstbestimmung dienen soll, muss der Schüler darauf vertrauen können, dass die gesetzten Inhalte sinnvoll und des Lernens wert sind. Umgekehrt muss der Lehrer dem Schüler gegenüber als Person für die Bedeutsamkeit der vermittelten Inhalte und für sein pädagogisches Handeln einstehen können. So steht er in seinem pädagogischen Handeln vorbildhaft für eine bestimmte fachliche Haltung und eine konkrete Sinnoption und lebt beides seinen Schülern vor, ohne diese allerdings auf seine eigenen Motive oder Zwecke festlegen zu dürfen. Lehrer brauchen daher auch immer beides zugleich: fachliche wie pädagogische Kompetenz.
Nur indem der Lehrende als Person in Erscheinung tritt und ein personales Verhältnis zum Schüler gewinnt, kann er Menschlichkeit und Verantwortlichkeit des zu Erziehenden stärken und dessen Freiheit entsprechen – einer Freiheit, die stets an die soziale Verantwortung gegenüber den Mitmenschen gebunden bleibt. Das personale Handeln, das dem Lehrer im Bildungs- und Erziehungsprozess abverlangt wird, begründet die eigentliche Professionalität des Lehrberufes.
Der Staat schützt dieses personale Handeln in Form einer rechtlich garantierten pädagogischen Freiheit, die über den Schul- und Hochschulbereich hinaus in dieser Form kein Pendant in anderen Berufen des Öffentlichen Dienstes kennt. Geschützt ist dabei ausdrücklich die individuelle Autonomie der Lehrenden. Dies schließt, wie der UN-Sozialpaktausschuss formuliert, „die Freiheit jedes Einzelnen ein, seine Meinung über die Einrichtung oder das System, in dem er tätig ist, frei zu äußern, seine Aufgaben ohne Diskriminierung oder Furcht vor Unterdrückung durch den Staat oder sonstige Akteure wahrzunehmen, in berufsständischen Vereinigungen […] mitzuwirken und in den Genuss aller […] Menschenrechte zu gelangen, die für andere Personen in demselben Hoheitsbereich gelten.“
Professionelle Lehrerinnen und Lehrer sollten auch in der Lage sein, die wissenschaftliche und politische Schuldiskussion zu verfolgen, zu bewerten und mitzugestalten, sei es im Rahmen von Schulgremien, Berufsverbänden oder überhaupt der bildungspolitischen Öffentlichkeit. Sie sollten hinsichtlich der künftigen Entwicklung von Schule ein eigenständiges, fachlich begründetes Urteil einnehmen können und schließlich dann auch in der Lage sein, daraus Konsequenzen für die eigene Lehrerrolle und die eigene Berufsethik abzuleiten, beides jeweils im Spannungsfeld von gelebter Realität und „offizieller“ Schulkultur. Auf eine Formel gebracht: Über die Schule theoriegeleitet nachzudenken, soll dazu befähigen, Schule selber zu denken.
Derartige Kompetenzen müssen angeeignet, entwickelt sowie ziel- und lernerorientiert organisiert werden, wobei motivationale Aspekte eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Sich mit den Rechten im Rahmen der eigenen Berufsrolle auseinander zu setzen und diese reflexiv beurteilen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung, ein professionelles Selbstverständnis auszubilden sowie berufliche Urteils- und Handlungskompetenzen zu erwerben: zum einen im Hinblick auf die Fähigkeit, die Bedingungen des eigenen beruflichen Handelns mitzugestalten und die eigenen Mitbestimmungsmöglichkeiten aktiv zu nutzen; zum anderen im Hinblick auf die verantwortliche Gestaltung des eigenen beruflichen Handelns und die Ausbildung eines eigenen Berufsethos.
Über die eigenen Rechte, aber auch Beschränkungen sowie die damit verbundenen Gefühle und Reaktionen zu reflektieren, kann überdies dazu beitragen, Kommunikations- und Empathiefähigkeit sowie Sensibilität gegenüber den Gefühlen anderer zu stärken – Fähigkeiten, die dem erzieherischen Handeln wiederum zugute kommen.
Die dominierende Perspektive bei der Beschäftigung mit den Menschenrechten im Rahmen der Lehrerbildung wird eine bildungswissenschaftliche oder pädagogische sein, das heißt: Sie wird ihren Ausgangspunkt von den Anforderungen her zu nehmen haben, die sich aus dem beruflichen Auftrag zu Bildung und Erziehung ergeben und darauf aufbauend rechtliche Fragestellungen integrieren. Auf diese Weise können ethische oder menschenrechtsbezogene Fragen einen möglichen Beitrag dazu leisten, über die spezifischen pädagogischen Bedingungen, Anforderungen und Ziele des eigenen beruflichen Handlungsfeldes aufzuklären.
Axel Bernd Kunze, Schulleiter, EFSP Weinstadt/Privatdozent für Erziehungswissenschaft, Universität Bonn