Am 1. Februar 2016 hat Reinhard Bingener im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen unter der Überschrift „Zweifach in Verantwortung“ das Verhalten der Kirchen angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrise kommentiert. Im ersten Teil seines Kommentars würdigt er, wie die Kirchen durch ehrenamtliches Engagement und finanzielle Soforthilfe auf diese Krise reagieren. Im zweiten Teil geht er kritisch auf die sozialethische Beurteilung dieser Krise ein – und schreibt dabei wörtlich: „[…] jeder Vorschlag wurde umgehend als Verstoß gegen christliche Moralvorstellungen denunziert. Beide Kirchen gehörten damit zu jenen Kräften im Land, die dazu beigetragen haben, dass über Monate eine Debatte darüber verweigert wurde, wie man sogenannte Pull-Effekte noch rechtzeitig abstellen kann, um nicht in jene Existenzkrise der EU zu geraten, in die man sich inzwischen vollends hineinmanövriert hat.“
Der Leitartikel hat eine außergewöhnlich lange, sehr grundsätzliche Leserbriefdiskussion nach sich gezogen, die zentrale Konfliktlinien der sozialethischen Debatte offenlegt, über die selten derart freimütig gestritten wird.
Am 4. Februar 2016 veröffentlichte die F.A.Z. zwei Leserbriefe zu dem genannten Leitartikel, die sich kritisch mit dem Verhalten der Kirchen auseinandersetzten. Beide Leserbriefe treffen sich im Verweis auf den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, der in der aktuellen Debatte zu Tage trete. In der Zuschrift von Dr. Dagmar Wendler heißt es u. a.: „Die Haltung der Bischöfe ist auch deshalb erstaunlich, weil die unausweichliche zunehmende Islamisierung in Deutschland und Europa nicht das Christentum fördern wird.“
Am 8. Februar 2016 folgte noch einmal ein weiterer Leserbrief von Dr. Dr. h. c. Wilhelm Hüffmeier, dieses Mal mit anderer Stoßrichtung: Der Schreiber hält die Vorwürfe gegen die Kirchen für unberechtigt, springt vor allem dem Ratsvorsitzenden der EKD bei und verweist auf dessen Beitrag in der F.A.Z. vom 7. Dezember 2015. Hüffmeier stellt vor dem Hintergrund der Barmer Erklärung die Aufgabe des Staates derjenigen der Kirche gegenüber: „Demnach hat der Staat ‚nach göttlicher Anordnung die Aufgabe … für Recht und Frieden zu sorgen‘. Die Kirche hingegen hat die Pflicht, den Staat ‚an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten‘ zu erinnern.“
Hüffmeiers Leserbrief widersprach am 15. Februar 2016 Professor em. Dr. Johannes Fischer aus Zwingenberg: „Wer mit der Nächstenliebe moralischen Druck aufbaut, hat von ihr nichts begriffen.“ Der Leserbrief betont den Widerfahrnischarakter jeder Nächstenliebe und wendet sich gegen die Position der Kirchen, Nächstenliebe fälschlicherweise zum sozialethischen Prinzip aufzubauen. Zwingenbergs Argumentation läuft am Ende auf eine Kritik am Prinzip einer „Option für die Armen“ hinaus, das den größeren Teil der sozialethischen Debatte beherrscht: „Leider kennzeichnet dieser prinzipielle Charakter diejenige Ethik, die von höchsten kirchlichen Repräsentanten für das Reden und Handeln ‚der Kirchen‘ formuliert wird (so als wären ‚die Kirchen‘ die ethischen Subjekte und nicht die Menschen, die ihnen angehören). Das Prinzip heißt dann ‚Option für die Schwachen‘, und hieraus wird als Maxime für das Reden und Handeln ‚der Kirchen‘ abgeleitet, dass man den Flüchtlingen helfen muss. Freilich, wer ihnen mit dieser Begründung hilft, der hilft ihnen gerade nicht aus Nächstenliebe, das heißt in Ansehung ihrer Not, sondern eben aus Prinzip.“
Am 3. März – einen Monat später – folgte noch einmal ein Leserbrief mit ähnlicher Stoßrichtung, dieses Mal von Professor Dr. Klaus-Peter Martens. Das christliche Ethos der Nächstenliebe – so Martens – werde begrenzt durch den Bezug „wie dich selbst“: „Die Liebe reicht zwar bis zur gänzlichen Preisgabe seiner Selbst, aber das Gebot nur bis zur Grenze des Selbsterhalts.“ Sozialethisch gewendet, heißt das: Die staatliche Fürsorge findet für Martens ihre Grenze an der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Stabilität des Gemeinwesens.
Die Debatte muss weitergeführt werden – um der Sache willen. Denn es besteht die Gefahr, dass sich christlich vielleicht gutgemeinte Anliegen am Ende ins Gegenteil verkehren. Sehr pessimistisch hat dies der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg am 2. März 2016 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen in einer Replik auf den Münchner Soziologen Armin Nassehi zusammengefasst: „Geht es noch lange fort mit der Politik faktisch offener Grenzen, so wird die christdemokratische Kanzlerin gerade nicht die gewesen sein, die den Boden dafür bereitet hat, dass die Bundesrepublik ihren Status als Einwanderungsland anerkennt. Sie wird dann diejenige gewesen sein, die die Bedingungen der Möglichkeit dieser Anerkennung aufs Spiel gesetzt, vielleicht zerstört hat.“