Deutschland als Bildungsstandort – heute und morgen
„Die Antwort auf unsere behauptete oder tatsächliche Orientierungslosigkeit ist Bildung – nicht Wissenschaft, nicht die Information, nicht die Kommunikationsgesellschaft, nicht moralische Aufrüstung, nicht der Ordnungsstaat.“ – so beginnt Hartmut von Hentig sein leidenschaftliches Plädoyer für einen Gegenstand, der einige Zeit nach Erscheinen seines Essays in der öffentlichen Debatte tatsächlich zum sogenannten – wie man manchmal hört – „Megathema“ geworden ist. Wenn man die Bildungsdebatte verfolgt, kann man jedoch den Eindruck gewinnen, die Orientierungslosigkeit fange damit erst recht an. Mitunter ist zu hören, Bildung sei im Grunde ein „Containerwort“, in das jeder alles hineinpacken kann, was er später gern darin finden möchte. Wer sich an der Bildungsdebatte beteiligt, kann ein gemeinsames Verständnis von Bildung jedenfalls nicht unbedingt voraussetzen. Ich möchte daher zunächst (1.) deutlich machen, von welchem Bildungsverständnis ich bei meinen Überlegungen ausgehe. Daran anschließend möchte ich im Anschluß an das vorangegangene Referat drei Bereiche der gegenwärtigen Bildungsdebatte ansprechen, in denen der Bildungsstandort Deutschland meiner Meinung nach vor zentralen Weichenstellungen steht: Plädieren möchte ich (2.) für eine Pluralität an Bildungsangeboten, (3.) ein wertgebundenes Bildungsverständnis sowie (4.) eine starke Wissenschaftsorientierung unseres Bildungssystems.
(1) Bildung – wovon sprechen wir?
Bildung ist zunächst und in erster Linie von einem pädagogischen Verständnis aus zu bestimmen. Von Bildung zu sprechen, führt geradezu in den Kernbereich pädagogischen Denkens und Handelns. Der Mensch ist weder vollständig durch seine Natur festgelegt noch wird er allein durch Sozialisation bestimmt. Er ist vielmehr entwicklungsfähig und weltoffen. Dies ermöglicht dem einzelnen ein Handeln, das über zweckorientiertes, instinktgebundenes oder fremdgesteuertes Verhalten hinausgeht; ein Handeln, das vernunftorientiert, sinngebunden und vom Willen und Entschluß des Subjekts abhängig ist. Ein solches Handeln muß aber erlernt und ausgestaltet werden. Der Mensch ist immer beides zugleich: bildungsbedürftig aufgrund seiner dialektischen Existenz zwischen Unspezialisiertheit und Weltoffenheit und bildungsfähig durch seine planende, wertende und urteilende Vernunft.
Selbstverantwortliches Handeln erwächst aus Geltungsansprüchen, die ein Fremder an den Handelnden oder dieser an sich selbst stellt. Mit jedem Geltungsanspruch ist eine Aufforderung zum Lernen verbunden, insofern sich der einzelne ihm gegenüber verhalten muß. Er muß ihn gedanklich einholen, er kann ihn verwerfen oder akzeptieren. Bildung meint genau diese Fähigkeit des Menschen, sich selbstbestimmt, selbstverantwortlich und schöpferisch mit sachlichen oder sittlichen Geltungsansprüchen auseinandersetzen zu können. Der einzelne eignet sich im Bildungsprozeß die kulturelle Welt an, erschließt sich diese für sein eigenes lernendes Ich und wird durch die faktischen Werte, die ihm dabei begegnen zum Urteilen herausgefordert. Bildung ist Selbstgestaltung der eigenen Person und prägt einen aktiven Lebensstil aus. Wer sich bildet, soll sein Leben nicht einfach nur ertragen oder erdulden. Der sich Bildende soll selbständig und eigenverantwortlich Stellung nehmen können. Und – daran muß die Bildungspolitik in Zeiten wie den unsrigen nicht selten erinnert werden – Bildung ist nicht beliebig zu beschleunigen: Bildung ohne Freiheit und Muße wäre vielmehr Abrichtung.
Zu allen Zeiten sieht sich der Mensch vor die Bildungsaufgabe gestellt, auch wenn diese jeweils nur in einem konkreten geschichtlichen Kontext bestimmt und ausgefüllt werden kann. Ist die Idee der Bildsamkeit des Menschen in diesem Sinn auch überzeitlich, hat sich Bildung als pädagogischer Begriff dennoch nicht zufällig zugleich mit der neuzeitlichen Aufklärung herausgebildet, zu einem Zeitpunkt also, da Handlungsregeln nicht mehr aus teleologischen Konzepten abgeleitet werden können, sondern vom einzelnen selbsttätig gefunden werden müssen. Bildung wird zum modernen Integrationsbegriff, der den Verlust des bis dahin geschlossenen praktischen Zirkels und das Aufbrechen der bisher bestimmenden Lebenstotalität kompensiert sowie weiterhin die Allgemeingültigkeit pädagogischen Handelns angesichts eines fehlenden kollektiven Ethos garantieren soll.
Durch Bildung gewinnt der einzelne einen vertieften Zugang zu sich selbst sowie zu seiner Mit- und Umwelt; sein Leben wird beziehungsreicher, was ein gewichtiger Grund dafür ist, daß Bildung nicht zuletzt als Lebensgenuß, Freude und Bereicherung der eigenen Existenz erfahren werden kann. Viele Bildungsteilnehmer, die oft einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Freizeit für Weiterbildung, einen höheren Bildungsabschluß oder ähnliches opfern, werden dies bestätigen können. Gerade dieser Zusammenhang könnte meines Erachtens noch stärker als bisher als Motivationsfaktor betont und innerhalb der pädagogischen Arbeit genutzt werden.
Der Mensch ist kraft der ihm aufgegebenen Freiheit Werk seiner selbst. Diese Freiheit anzunehmen und zu verwirklichen, fordert ihm ständig Entscheidungen ab. Diese begründet und selbstverantwortlich vollziehen zu können, setzt Orientierungswissen und die Kompetenz voraus, mit Kontingenz und Differenz, mit widersprüchlichen Rollenkonzepten und divergierenden Erwartungen umgehen zu können. Bildung – ausdrücklich nicht: Wissen – ist heute in einer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert und spezialisiert, pluralisiert und beschleunigt zur entscheidenden Ressource für die Verwirklichung eigener substantieller Freiheit geworden. Wenn die Lebenschancen des einzelnen aber immer stärker vom Zugang zu Bildung abhängen, bedeutet dies zugleich, daß Bildung heute – in stärkerem Maße als zu früheren Zeiten – zentraler Teil der Sozialen Frage ist. Nicht zuletzt die Debatte um die sogenannte „Unterschicht“ hat das im vergangenen Jahr einmal mehr gezeigt. Wer nicht gelernt hat, mit der Vielfalt an Angeboten und Meinungen, die tagtäglich auf ihn einstürmen, umzugehen, über den wird sehr leicht entschieden – aber eben von anderen.
(2) Für eine Pluralität an Bildungsangeboten!
Die Bildungschancen sind unter den einzelnen Individuen höchst ungleich verteilt. Die Ursachen können beispielsweise in der eigenen persönlichen Konstitution, im familiären Kontext, in der sozialen Herkunft oder auch der vorangegangenen eigenen Bildungsbiographie zu suchen sein. Ein Bildungssystem, das sich an der Idee eines individuellen Rechts auf Bildung orientiert und das – schon aus gesundem gesellschaftlichem Eigeninteresse – alle Bildungspotentiale bestmöglich ausschöpfen will, muß bestrebt sein Bildungsbenachteiligungen möglichst weitgehend zu kompensieren. Ohne haushaltspolitische Umschichtungen wird ein solches Bildungssystem ehrlicherweise nicht zu haben sein.
Allerdings sind nicht alle Ungleichheiten selbst bei bester pädagogischer Förderung zu kompensieren, beispielsweise aufgrund bestimmter psychischer oder physischer Voraussetzungen. Daher steht dem Ziel, ungleiche Ausgangsbedingungen für Bildungsbeteiligung abzubauen, die Verpflichtung zur Seite, jedem durch geeignete Institutionen und Bildungsangebote zu helfen, seine Potentiale entsprechend seinen individuellen Voraussetzungen bestmöglich entwickeln und nutzen zu können. Dies gilt auch für die Förderung bestimmter herausgehobener Begabungen – nicht auf Kosten anderer Begabungen, sondern im Sinne eines verantwortlichen Forderns und Förderns, das die Aktivierung der persönlichen Potentiale durch geeignete Problemstellungen herausfordert und zugleich mit der Fähigkeit zur sozialen Kooperation verbindet. Wo ein pädagogisch verantworteter Leistungsgedanke schwindet, greifen sehr schnell andere Selektionsmechanismen, die auf individuelle ökonomische oder soziale Ausgangsbedingungen Bezug nehmen.
Das Gesagte setzt begabungsgerechte Förderangebote und – darin gebe ich dem Referenten nachdrücklich recht – Instrumente zur Bildungsberatung voraus. Eine strukturelle Uniformierung unseres Bildungssystems – sei es ein einziges Schulmodell für alle oder die Einheitshochschule für alle – wäre meines Erachtens allerdings eine falsche Antwort. Unterschiedliche Begabungen bestmöglich zu fördern und unterschiedlichen Lernbedürfnissen gerecht zu werden, setzt ein auf allen Ebenen plurales und in sich vielfältig differenziertes, aber durchlässiges Bildungssystem voraus, einschließlich der Möglichkeit, bestimmte Bildungsangebote in späteren Lebensphasen – beispielsweise berufsbegleitend oder durch Fernstudienangebote – nachholen zu können. Insgesamt scheint mir aber die Schulstrukturfrage innerhalb der gegenwärtigen Bildungsdebatte deutlich überbewertet zu werden.
Zu den elementaren Bildungsvollzügen, die für die Verwirklichung individueller Autonomie von entscheidender Bedeutung sind, zählt auch die Elementarbildung. Nachhaltige Bildungseffekte sind aber nur dann zu erzielen, wenn diese nicht mit Betreuung verwechselt wird und zielgenaue Angebote für Kinder mit besonderem Förderbedarf entwickelt werden. Die vom Referenten angemahnte Verzahnung mit dem Primarbereich möchte ich dabei ausdrücklich unterstreichen. Ob eine vollständige Akademisierung des Kindergartenbereichs hierfür notwendig ist, wie politisch mitunter gefordert, bleibt für mich jedoch nicht allein aus finanziellen Gründen fraglich. Am Rande gesagt: Die quantitative Ausweitung akademischer Qualifikationen wird in vielen Bereichen weniger zu einer qualitativen Aufwertung als faktisch vielmehr zu einer Absenkung der Akademikergehälter führen – mit unbeabsichtigten Folgewirkungen in anderen Bereichen, beispielsweise der Familien-, Sozial-, Steuer- oder Arbeitsmarktpolitik.
Wissenschaftspropädeutisch ausgerichtete Oberstufenangebote und tertiäre Bildungswege beispielsweise erfüllen andere Bildungsbedürfnisse als duale Bildungswege – zum Beispiel durch das höhere Maß an Selbständigkeit, das sie verlangen. Eine qualitativ hochwertige Ausbildung ist daher für den einzelnen nicht in jedem Fall ohne weiteres durch ein Studium zu ersetzen oder umgekehrt. Überdies garantiert eine zunehmende Vereinheitlichung oder internationale Anpassung von Bildungsangeboten nicht in jedem Fall auch ein wirkliches Mehr an Flexibilität, Mobilität und Durchlässigkeit. Die großangelegte Umstrukturierung des Hochschulsystems erweist sich vielfach eher als bürokratisches Monstrum, das für Lehrende wie Lernende neue Freiheitsbeschränkungen aufbaut statt solche abzubauen.
(3) Für ein wertgebundenes Bildungsverständnis!
In einem pluralen Bildungssystem ist ein Wettbewerb um die pädagogische Qualität von Bildungsangeboten durchaus wünschenswert. Allerdings ist Bildung nicht in allem unter Marktbedingungen zu organisieren, wenn bestimmte Bildungsgüter die einzelnen erst einmal zur verantwortlichen und selbstbestimmten Teilnahme an ökonomischen, politischen oder gesellschaftlichen Prozessen – und damit auch an Marktprozessen – befähigen sollen.
„Unser Produkt ist gute Bildung“, wirbt eine Berliner Schule für sich. Doch kann dies so einfach gelingen? – Das Recht auf Bildung ist zu lesen als ein Recht auf qualitätvolle Bildungsvollzüge, die jedem einzelnen die Chance bieten, sich die sachlichen Anforderungen, die tatsächlich notwendigen Inhalte und Kompetenzen, in einem solchen Maß anzueignen, wie er diese für ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben in einem ganz bestimmten sozialen Kontext benötigt. Dies setzt voraus, daß Lehrerbildung, Andragogik und Vermittlung dann auch auf einem so hohen fachlichen wie didaktischen und methodischen Niveau angesetzt sind, daß ein angemessener Bildungserfolg erwartet werden kann.
Allerdings entbindet das den einzelnen keineswegs von der moralischen Verantwortung, sich aktiv am Bildungsvollzug zu beteiligen. Inwieweit sich der einzelne diese Verantwortung im Einzelfall zurechnen lassen muß, bleibt Gegenstand moralischer und pädagogischer Reflexion. Bildung ist keine Ware, die sich beliebig „produzieren“ läßt. Einen anderen Eindruck zu erwecken, wäre sowohl unrealistisch als auch pädagogisch wenig verantwortlich. Bildung ist ein Entfaltungsvorgang der inneren Entwicklungspotentiale des Subjekts. Ihr aktiver Vollzug kann didaktisch, methodisch und erzieherisch angeleitet und durch den Dozenten oder Lehrer angestoßen werden. Der Bildungs- und Erkenntnisakt muß aber immer im einzelnen Subjekt – im Teilnehmer oder Schüler – stattfinden (weshalb es dann den Erwachsenenbildner im strengen Wortsinn auch gar nicht geben kann).
Der einzelne sollte darin unterstützt werden, seiner Verantwortung gegenüber den Bildungsansprüchen, die andere an ihn oder er selbst an sich richtet, gerecht zu werden und diese weiterzuentwickeln. Die Verantwortung des sich Bildenden erschöpft sich nicht allein im aktiven Mittun des einzelnen bei den angezielten Lernprozessen. Darüber hinaus muß der einzelne im Bildungsgeschehen als sittliches Subjekt herausgefordert werden, sich zu den Wissens- und Kompetenzinhalten in ein wertendes Verhältnis zu setzen. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Bildung und anderen Formen der Wissensaneignung, nicht in der falschen Entgegensetzung von Berufs- und Allgemeinbildung. Erst dann können Wissenseinheiten zu Bildungsinhalten werden. Und erst dann und nur dann wird der einzelne zum „Bildungsmanager in eigener Sache“ oder zum „Makler der eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen“ werden können – ein Punkt, der mir besonders wichtig ist und den ich noch etwas weiter ausführen möchte.
Zu jedem Bildungsprozeß gehört es entscheidend hinzu, den einzelnen aufzufordern, eine eigenständige sittliche Haltung einzunehmen – eine Aufgabe, die beide Seiten herausfordert: den sich Bildenden wie den Pädagogen. Lehrer oder Eltern kennen Entgegnungen jener Art, wonach ein Museumsbesuch „langweilig“ oder die Lektüre eines bestimmten Buches „voll ätzend“ sei. Sich mit derart knappen Antworten zu begnügen, mag ein einfacher und auf den ersten Blick sehr bequemer Weg sein; ihrer Bildungsaufgabe werden Erziehende damit keinesfalls hinreichend gerecht. Ein Grund, warum es dem deutschen Schulsystem zu wenig gelingt, „Kinder und Jugendliche so zu fördern, daß sie bis an die Grenzen ihres jeweiligen persönlichen Leistungspotentials vorstoßen können“, ist meines Erachtens auch darin zu suchen, daß Lehrer und Eltern sich zu wenig trauen, Kindern und Jugendlichen gegenüber auf Einlösung der Wertfrage zu bestehen und pädagogische Führung im wohlverstanden Sinne zu beanspruchen. Lehrer bräuchten hierfür auch mehr pädagogisches Vertrauen seitens der Eltern und Schulverwaltungen, als dies gegenwärtig vielfach der Fall ist.
Die Lokalzeitung meiner Heimatstadt hat vor kurzem anläßlich der Einführung von Studienbeiträgen Abiturienten nach ihren Studienplänen befragt. Bei den Antworten fällt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eines ins Auge: Nicht das Interesse an einem bestimmten Fach oder ein spezifisches Berufsziel sind das, worüber die Jugendlichen im Blick auf die vor ihnen liegende Studienentscheidung sprechen, sondern die Möglichkeit, zu Hause wohnen bleiben zu können, die Höhe der Studiengebühren in einem Bundesland oder die möglichen Karriereaussichten. Die Antworten weisen meines Erachtens auf zweierlei hin: zum einen auf Fehlsteuerungseffekte, die aus den Studienbeiträgen resultieren; zum anderen aber auch auf eine Orientierungslosigkeit, die aus der Vernachlässigung der erzieherischen Seite von Bildung rührt. Alle Befragten werden vermutlich den formalen Bildungstitel Abitur – also die Allgemeine Hochschulreife – erreichen. Die Schüler scheinen aber nicht in der Lage zu sein, sich für ein bestimmtes Fach zu begeistern oder sich selbst ein fachlich motiviertes Berufsziel zu setzen, für das es sich lohnt, auch über Jahre hinweg Anstrengung, Leistung und Opfer zu bringen – also sich zu dem in der Schule Gelernten in ein subjektiv bestimmendes Verhältnis zu setzen.
Die Erwartungen der Schüler entsprechen einer Bildungsrhetorik, die zwar von Bildung spricht, aber allein Wissensvermittlung oder formale Bildungstitel meint – oft mit der Folge, daß Verantwortung und notwendiges Eigenengagement der sich Bildenden unterschätzt und Fehlerfolge zunehmend den Lehrern und Dozenten angelastet werden. Bildung und Qualifikation sind nicht einfach „zwei unterschiedliche Arten der Aneignung und der Vermittlung von Methoden und Inhalten“. Richtig ist: Wer selbstverantwortlich handeln will, muß ein sachlich fundiertes Verhältnis zu sich selbst sowie zu seiner Mit- und Umwelt entwickeln – häufig zusammengefaßt als Selbst-, Sozial-, Sach- und Methodenkompetenz. Doch ist der Mensch mehr als nur ein „Kompetenzbündel“. Dies gilt für die Schule genauso wie für die Weiterbildung, auch wenn sich Bildungsorte, Unterrichtsformen und Methoden notwendigerweise unterscheiden müssen. In allen Lebensphasen bedürfen die verschiedenen Kompetenzen der Zentrierung auf das eigenverantwortlich und selbstbestimmt handelnde Subjekt – eine Aufgabe, die nicht allein nach Konzepten lebenslangen Lernens verlangt, sondern nach lebensbegleitender Bildung. Denn es geht darum, die in jedem einzelnen angelegte Fähigkeit zur Verantwortung in tatsächlich wahrgenommene Verantwortungsfähigkeit zu vermitteln. „Vermitteln“ meint dabei nicht einfach nur lehren oder „beibringen“, sondern bedeutet, die Potentiale des einzelnen zu entbinden, seine in ihm angelegten Fähigkeiten zu wecken und zum Wirken kommen zu lassen.
(4) Für eine starke Wissenschaftsorientierung des Bildungssystems!
Ein letztlich auf Wissen verkürztes, instrumentelles Bildungsverständnis greift nicht nur im Blick auf die durch Bildung angestrebte Selbstbestimmung des Menschen zu kurz. Auch gesellschaftlich kann ein solches Bildungsverständnis nicht genügen: Denn Innovationsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit erreichen wir nicht, indem wir bei der Vermittlung von Inhalten und Kompetenzen stehenbleiben, sondern nur dann, wenn die einzelnen sich diese schöpferisch aneignen und kreativ weiterentwickeln. Hätten wir nur noch Schüler und Studierende, die sich bloß Wissen aneignen und das auch noch möglichst zügig, statt sich im umfassenden Sinne zu bilden, dann wären wir schnell bei einer Gesellschaft angelangt, die nur noch zu kopieren, Plagiate herzustellen oder allenfalls Bestehendes zu verbessern, aber nicht mehr Alternativen zu antizipieren und wirklich Neues zu entwickeln, zu entdecken und zu erforschen in der Lage wäre. Die formale Akademikerquote zu erhöhen und das tertiäre System auf schnelle Berufsqualifizierung umzustellen, wird den Bildungsstand in Deutschland und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht erhöhen. Vermeintlich effiziente Bildung kann sich in einer Wettbewerbssituation als ausgesprochen ineffizient erweisen.
Gerade die Studieneingangsphase sollte für die Herausbildung wissenschaftlicher Interessen sowie einer Grundhaltung wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens nicht unterschätzt werden. Hierzu gehören beispielsweise: das Streben nach Wahrheit; der Wille zur Objektivität; das Bemühen um gedankliche und sprachliche Präzision; die Fähigkeit, auch unbequeme Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen; das Vermögen, den eigenen Standpunkt in Zweifel zu ziehen oder das Interesse, eigenständige und weiterführende Fragestellungen zu entwickeln. Dies alles kann nicht erst in späteren Semestern gleichsam „draufgesattelt“ und nachgeholt werden. Dies alles sind auch nicht allein Fragen, die nur diejenigen betreffen, die dauerhaft in der Wissenschaft verbleiben wollen.
Deutschland hat durchaus Grund, auf seine universitäre Tradition stolz zu sein – es ist nicht das Schlechteste, was unsere Geschichte hier zu bieten hat. Demgegenüber sollte es mehr als nachdenklich stimmen, wie gering heute der Wert eines wissenschaftlichen Studiums für zahlreiche Berufe veranschlagt wird, wie leichtfertig universitäre Lehre und Forschung gegeneinander ausgespielt werden und wie schnell Wissenschaftlichkeit mit Praxisferne gleichgesetzt wird. Das Klima der gegenwärtigen Hochschulreformen läßt für die künftige geistige Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft wenig Gutes erahnen. Lehrende wie Lernende, „für die Kultur nur ein Wissensstoff ist, können Kultur nicht tradieren“. Dabei ist zu bedenken, daß bestimmte Fähigkeiten auch kollektiv verloren gehen können. Wissenschaftliche Studiengänge erfüllen innerhalb des Bildungssystems eine andere Aufgabe als stärker praxisbezogene und können nicht einfach ohne Substanzverlust durch letztere ersetzt werden. Nicht berufsqualifizierende Studiengänge sind in erster Linie entscheidend, sondern beschäftigungssichernde und begabungsangemessene Bildungsangebote, nicht ein uniformes, sondern ein differenziertes und durchlässiges Hochschulwesen.
Wer allein auf die Ausbildung schnell verwertbarer Berufsfertigkeiten, die Vermittlung eines „handwerklichen“ Instrumentariums und die Aneignung praxistauglicher Wissensbestände setzt, wird nicht bis zur Substanz der Kultur- und Geistesinhalte vordringen. Die Pflege einer wissenschaftlichen Kultur hat nicht nur einen Wert für den inneren Kreis einer jeden Fachdisziplin: Jede Wissenschaft besitzt eine kulturelle Bedeutung, die über ihren eigenen Bereich hinausweist. Eine Gesellschaft, die allzu leichtfertig auf die breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Gegenständen unseres Geisteslebens, der Kultur und der Natur meint verzichten zu können, wird an Humanität, Kreativität, schöpferischer Kraft und geistiger Vitalität verlieren. Deutschland ist gerade um seiner Wettbewerbsfähigkeit willen auf eine starke Wissenschaftsorientierung seines Bildungssystems angewiesen – hierzu gehört die Wissenschaftsorientierung unseres Schulsystems ebenso wie eine hochwertige Wissenschaftspropädeutik auf dem Weg zur Hochschulreife und nicht zuletzt wissenschaftlich starke und gut ausgestattete Universitäten.
(5) Schlußwort
Ich komme zum Schluß: Kernziel von Bildung ist die Ermächtigung des Individuums zu einem selbstbestimmten Leben – ein Ziel, das aber auch gesellschaftlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Dem privaten Nutzen von Bildung stehen zugleich hohe externe, öffentliche Effekte gegenüber. Mitbestimmung, die produktive Beteiligung am Gemeinwesen und der aktive Einsatz für das Gemeinwohl, die für eine demokratische Gesellschaft zentral sind, setzen gerade jene Selbständigkeit im Denken und Handeln voraus, die ohne Bildung nicht zu erreichen sein wird. Nicht zuletzt deshalb bedarf Bildung der Freiheit und Vielfalt.
Bildung bereitet lebenslang auf das Leben vor, indem sie gerade nicht auf das Leben vorbereitet. Das mag paradox klingen: Bildung ist stets schöpferisch und geht immer über Gewohnheit, Konvention und Routine hinaus. Bildung, die ohne kritische Distanz gegenüber äußeren Vorgaben, nichtpädagogischen Ansprüchen und gesellschaftlichen Erwartungen, ohne Widerständigkeit und ohne den Mut zum Widerspruch auskommen will, verdient diesen Namen letztlich nicht mehr.
Warum es aber sinnvoll ist, sich zu bilden, verlangt eine Antwort, die sich nicht allein auf bloße Zweckmäßigkeit gründet, sondern aus Sinnressourcen schöpft, die über notwendige Funktionsüberlegungen hinausgehen. Um diesen Lebenssinn muß sich jede einzelne Person selbst mühen, über ihn darf niemand anderes verfügen. Auch kann niemand dafür garantieren, daß die individuelle Suche nach Sinn gelingt. Der Staat und die einzelnen Bildungsträger können nur die Rahmenbedingungen setzen, daß der einzelne Räume und Möglichkeitsbedingungen vorfindet, die ihm eine solche Sinnsuche ermöglichen.
Der Beitrag basisert auf einem Korreferat zu Prof. Dr. Klaus Hurrelmann vor der „Fachgruppe Anbieter“ im „Forum DistancE-Learning“ am 16. April 2007 im Forum Berufsbildung in Berlin-Kreuzberg.