Vortrag: Tradition und Idee einer christlichen Burschenschaft

Der folgende Impulsvortrag wurde am 15. April 2023 auf einem burschenschaftlichen Studientag in Bamberg gehalten.

Ich denke, der erste Entschluss, sich näher für einen Lebensbund zu interessieren, geht nicht in erster Linie über die Auseinandersetzung mit Traditionen, Ideen und Prinzipien, die anfangs vermutlich auch mehr oder weniger abstrakt bleiben müssen. Am Anfang stehen konkrete Begegnungen, Erfahrungen – und nennen wir es: „Atmosphärisches“.

Im folgenden Impuls möchte ich zwei Themen ansprechen. Als Erstes: Was charakterisiert eine christliche Burschenschaft? – im Blick auf ihre Traditionen, aber auch im Blick auf die Herausforderungen, die sich heute stellen, ein solches Profil zu leben. Und damit sind wir beim zweiten Punkt: Was kann, was sollte eine christliche Burschenschaft heute leisten?

Teil I: Zwei Charakteristika einer christlichen Burschenschaft

Mit der Bezeichnung „christliche Burschenschaft“ grenzte Hans Waitz (1864 – 1942) in seiner „Geschichte des Wingolfsbundes“ die 1836 gegründete Erlanger Uttenruthia und die 1851 gegründete Burschenschaft Germania zu Göttingen von seinem eigenen Bund ab. 1862 schlossen die Göttinger Germania und die Leipziger Alemannia ein Kartell als vertragliche Grundlage ihres Freundschaftsverhältnisses. Auch wenn das Kartell bereits 1866 formal abgebrochen wurde, als die Alemannia stark zusammengeschmolzen war, besteht das besondere Freundschaftsverhältnis mit wechselnder Intensität bis heute – aus einem Beitrag in den Burschenschaftlichen Mitteilungen der Alemannia: „Das Bündnis verstand und versteht sich […] als Wahrer eines christlich-burschenschaftlichen Wertekanons, der sich direkt auf die Urburschenschaft bezieht und mit seiner besonderen Prägung eine spezifische Strömung in der burschenschaftlichen Bewegung darstellt.“  Zwei Charakteristika möchte ich im Folgenden näher herausheben: die christlich-deutsche Gesinnung und die burschenschaftliche Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft.

1. Christlich-deutsche Gesinnung

Die für die Moderne geltende Autonomie der Bildung setzt eine eigene religiöse Praxis nicht zwingend voraus, das zeigen die Selbstverständnisse der christlichen Burschenschaften. Im Rahmen des Richtigen können verschiedene religiöse oder konfessionelle Bekenntnisse nebeneinanderstehen. Der einzelne bleibt aber herausgefordert, zwischen ihnen eine subjektive Entscheidung zu treffen.

Das Christianum fordert kein persönliches Glaubensbekenntnis, doch ist mit der Bindung an dieses Prinzip eine gewichtige Wertvorentscheidung getroffen. Gemeint ist ein formales Prinzip, ähnlich wie beim Gottesbezug des Grundgesetzes, so der Kulturpolitiker Thomas Sternberg: „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus.“ Es geht um die Gründung der sittlichen Person, die noch einer anderen Instanz, ihrem Gewissen, gegenüber verpflichtet ist. Es geht um eine Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen und einer Selbstüberschätzung des Menschen. Ohne Letztbezug wäre eine Bildung der sittlichen Person nicht möglich.

Ein kulturethischer Bezug zwischen Gott und Nation findet sich von der Zeit der Befreiungskriege bis zum Gottesbezug in der Präambel unseres heutigen Grundgesetzes. Auch wenn die Gottesformel nichtkonfessionell gemeint ist und für unterschiedliche individuelle Bekenntnisse offenbleibt, ist sie keineswegs wertneutral. Sie markiert als „Leerstelle“ jenes geistige Fundament, auf dem unser Gemeinwesen aufruht und das der moderne Staat, der selbst der Legitimation bedarf, nicht selbst garantieren kann.

Der Nationalstaat hat nicht ohne das Ringen mit der Kirche das Licht der Welt erblickt; der Kulturkampf in Deutschland hat bis heute Spuren hinterlassen. Die Hochzeiten nationaler Lutherdeutung und die für Deutschland prägenden „Los-von-Rom-Mythen“ waren alles andere als frei von antikirchlichen und antiklerikalen Affekten. Doch auch der säkularisierte Nationalstaat kann nicht gänzlich auf ein geistig-religiöses Fundament verzichten. In der Tradition, der sich die christlichen Burschenschaften verpflichtet fühlen, drückt sich dies in der Formel „christlich-deutscher Gesinnung“ aus.

Die Mitgliedschaft in einer christlichen Burschenschaft setzt ein persönliches Bekenntnis nicht zwingend voraus, wohl aber die ernsthafte geistige Auseinandersetzung mit religiösen und ethischen Fragen und die Bereitschaft, das besondere Profil einer christlichen Burschenschaft aktiv mitzutragen. Und dies bedarf, wie der leider viel zu früh verstorbene frühere Sprecher des Cartells Christlicher Burschenschaften, Marinus Klenk, angesichts abnehmender religiöser Sozialisation deutlich macht, auch fester Orte in den Semesterprogrammen und im Aktivenleben. Denn die aktuelle Ausformung des Christianum benötige – so Klenk in einem Beitrag für „Die Schwarzburg“ – „eine gewisse Grundanzahl von christlich fest gebundenen Aktiven in einer jeden Aktivitas, um verstanden zu werden“, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen seiner offenen Auslegung.                                                                             

An dieser Stelle haben christliche Burschenschaften, verstanden als akademische Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, einen entscheidenden Bildungsauftrag gegenüber ihren Mitgliedern, noch einmal Klenk: „Die Vermittlung des Christianum […] muss letztlich auf zwei Ebenen, der praktischen und der geistig-intellektuellen stattfinden. Die praktische hat hierbei zuvorderst zu erfolgen, da sie schlicht die für die meisten unmittelbar leichter zugängliche ist. […] Das große Ziel ist, dass ein jeder […] hierüber den persönlichen, inneren Schritt für die eigene Persönlichkeit von einer bloßen automatischen und letztlich noch unreflektierten Anwendung der Werte hin zu einer voll darüber durchreflektierten Haltung mit daraus abgeleiteten Handlungsoptionen geht. Um den neuen Füxen überzeugend nahe zu bringen, was das Christianum ist und worin es besteht, muss ein jeder Bundesbruder […] das Selbstverständnis einer christlichen Grundhaltung aktiv […] vorleben wie auch die hieraus erfolgten Handlungen in sich konsistent begründen können.“

Klenk macht in den meisten Bünden neben den beiden oben genannten Deutungen des Christianum eine mittlerweile überwiegend vorherrschende, dritte Deutung aus, die er als eine „säkulare“ kennzeichnet. Seine Diagnose lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Diese faktisch gelebte (Aktiven-)Realität umfasst bestenfalls – und dies nicht durchgängig – bloß noch die Einhaltung der goldene [sic!] Regel der praktischen Ethik ‚Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge keinem anderen zu‘ und darüber hinausgehend – dafür aber mit absolut zuverlässiger Durchgängigkeit – die effektive Maximierung des eigenen Spaß- und Lustgewinnes.“

Wir sollten diesen Fragen nicht ausweichen, wenn uns das Element christlich-deutscher Gesinnung weiterhin lieb ist. Die christlich geprägte Wertordnung unseres Vaterlandes wird gegenwärtig nicht allein durch Säkularisierung und Entkirchlichung infrage gestellt. Wir erleben auch einen beschleunigten Wertewandel, durch den sich Politik und Gemeinwesen immer stärker von einem christlich geprägten Personalismus und Humanismus verabschieden. In meinen Hochschulseminaren ist das immer stärker spürbar, etwa bei den Themen Abtreibung und Sterbehilfe.

2. Burschenschaftliche Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft

Die Idee der Burschenschaft wurde geboren aus der Sehnsucht nach dem größeren Vaterland, dem einen Deutschland, und seiner inneren Freiheit. Und dies getragen durch ein Bildungsverständnis, das den Einzelnen zur Selbsttätigkeit freisetzen will.

Denn die Nationalstaatsbildung konnte nicht gelingen, indem „Nation“ einfach zum Bildungsziel erhoben wurde. Nationwerdung beginnt vielmehr damit, dass die Einzelnen dazu befähigt werden, eine eigene Vorstellung von Nation zu entwickeln. Stellvertretend für diese Sicht kann Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) zählen. Keine Nation gleicht für Herder einer anderen. Ihre unverwechselbare Gestalt aber erhalte diese durch Bildung: Eine Nation müsse sich erst in ihrer Besonderheit erkennen und schließlich auch darstellen. Herder sprach von einem – pädagogisch zu weckenden – Erkenntnisprozess der eigenen Sitten und Gewohnheiten, der von ihm als „Bildung einer Nation durch sich“ bezeichnet wurde.

Gesellschaftliche Weiterentwicklung kann nur durch Bildung der Individuen gefördert werden, so der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin: „Bildung bezieht sich […] auf jenen Bereich des Menschen, der von der Natur nicht festgelegt ist und von der Gesellschaft nicht geformt werden kann oder soll.“ Die Universität hat der studierenden Jugend traditionell ein „Entwicklungsmoratorium“ zur Verfügung gestellt: eine Zeit, in der sich der einzelne nicht allein auf die Ausübung eines bestimmten Berufes vorbereiten sollte, sondern auf eine umfassende, aktive Rolle in Staat und Gesellschaft. Dabei geht es darum, den einzelnen zu befähigen, selbst tätig zu werden und eigenständig sittliche Urteile zu fällen. Das Studium bereitet nicht einfach auf eine Zukunft vor, die bereits vorgegeben ist, sondern soll den einzelnen dazu befähigen, diese Zukunft erst im Verein mit anderen hervorzubringen. An der historischen Rolle der burschenschaftlichen Bewegung lässt sich dies sehr deutlich ablesen. Diese war ein wichtiger Vorkämpfer für ein geeintes Deutschland.

Was Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit bedeuten, lässt sich nicht einfach aus ein für alle Mal gültigen Normen und Regeln ableiten, sondern muss immer wieder von neuem gesucht und angestrebt werden – im gemeinsamen Ringen um die höchsten Ziele und Inhalte des Lebens. Dies setzt selbständige Persönlichkeiten voraus, die gelernt haben, frei zu denken und zu handeln und für das einzustehen, was sie als gut und richtig erkannt haben.

Doch ist Bildung kein zwangsläufig ablaufender Prozess. Sich zu bilden, wird weder durch vollkommene Ungebundenheit noch durch bloße Beliebigkeit gelingen. Befähigung zur Mündigkeit setzt bestimmte Standards im sozialen Umgang voraus. In diesem Sinne ist eine Bildungsgemeinschaft normativ, aber unter dem Zwang zur Selbstbeschränkung; sie darf ihre Mitglieder nicht normieren und auf bestimmte Zwecke festlegen wollen. Ein Studium soll dazu befähigen, die „Welt selber zu denken“.

Hinzu kommt die Aufgabe gegenseitiger Erziehung: Die Gemeinschaft kann den Einzelnen dabei unterstützen, seine Freiheit zunehmend zu kultivieren und eine eigenständige Haltung zum Gelernten aufzubauen. Sie kann ihm Möglichkeiten aufzeigen, wie das Gelernte zu einem gelingenden Leben beitragen kann und wie mit ihm verantwortlich und gemeinwohlförderlich umzugehen ist. Sie kann den Einzelnen fördern – und zwar, indem sie den Einzelnen herausfordert, über das bisher Erreichte hinauszuwachsen. Wem die Forderung und Herausforderung, sich anzustrengen, fehlt, dem wird es schwerfallen, zu entdecken, was in einem steckt, und die eigene Persönlichkeit zunehmend eigenständiger in der Bewältigung der Herausforderung zu entwickeln. Wenn Erziehung nicht in Uniformierung, Manipulation oder Indoktrination umschlagen soll, ist eines aber nicht möglich: Die Aufgabe, „Ich“ zu sagen – zu entscheiden, wer ich sein will und wie ich leben will –, kann niemand dem Einzelnen abnehmen. Befähigung zur Selbstbestimmung ist nur als Aufforderung zur Selbsttätigkeit denkbar. Eine Burschenschaft vermittelt gehaltvolle soziale Erfahrungen und kann dem Einzelnen Hilfestellung geben, diese geistig zu verarbeiten. Dabei geht es um mehr als Wissen oder formale Fähigkeiten. Aus diesen soll vielmehr eine akademische Haltung werden: in der schöpferischen Auseinandersetzung mit kulturellen Werten und Traditionen, mit Sitte und Brauchtum, durch die Einübung gemeinsamer Regeln und das Ringen um gemeinsame Überzeugungen und durch Einbindung in eine gelebte Verantwortungsgemeinschaft, die durch das Tragen der Farben auch sichtbar nach außen gezeigt wird und den Einzelnen verpflichtet.

Bildung kann nicht selbst Sinn schaffen. Doch setzt Bildung, will der Einzelne nicht bloß ein Funktionär der bestehenden Verhältnisse oder der Interessen der Gemeinschaft sein, die Überzeugung voraus, dass es im menschlichen Leben etwas geben sollte, das über die Mittel der bloßen Daseinserhaltung hinausgeht. Andernfalls würde das Bewusstsein des Subjekts auf das Überlebensinteresse des Kollektivs reduziert. Der Dreiklang von „Gott – Freiheit – Vaterland“ in den christlichen Burschenschaften zeigt ein Wissen um diesen Zusammenhang. Die Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft einer christlichen Burschenschaft bietet dem Einzelnen eine Orientierung gebende Wertegemeinschaft, und damit jenen Raum, in dem die Sinnfrage gestellt und gemeinsam um Antworten gerungen werden kann. Die persönliche Antwort auf die Sinnfrage muss allerdings jeder selbst geben. Bildung kann zwar den Raum eröffnen, die Sinnfrage zu stellen, einen letzten Lebenssinn findet der Einzelne in ihr jedoch nicht. Bildung verweist den Einzelnen auf sich selbst, seinen Lebenssinn zu suchen und jene Wahrheit zu erkennen, die ihn frei macht – frei jenseits aller menschengemachten Bildungsanstrengungen.

Teil II: Verantwortung, Individualität und Freiheit

Blicken wir noch einmal auf die Anfänge der burschenschaftlichen Bewegung zurück. Einer ihrer Vordenker, Ernst Moritz Arndt, schreibt im „deutschen Studentenstaat“: „Wer diese höchste Zeit des Daseins, diese deutsche Studentenzeit durchlebt und durchgespielt und durchgefühlt hat, wer in ihr gleichsam alle Schatten eines dämmernden Vorlebens und alle Masken einer beschränkteren und mühevolleren Zukunft in verkleideten Scherzen und mutwilligen Parodien durchgemacht hat, der nimmt in das ärmere Bürgerleben, dem er nachher heimfällt, und dem er seinen gebührlichen Zins abtragen muss, einen solchen Reichtum von Anschauungen und Phantasien hinüber, der ihn nie ganz zu einer chinesischen Puppe und zu einem hohlen und zierlichen Lückenbüßer und Rückenbücker der Vorzimmer werden lässt.“

Wie sieht es heute aus? Was können wir aus den burschenschaftlichen Ideen für heute lernen? Ich möchte ein paar Impulse anhand der Stichworte Verantwortung, Individualität und Freiheit versuchen.

1. Befähigung zur Verantwortung

Vieles hat sich seit diesen Zeiten verändert. Immer wieder müssen wir danach fragen, wie unser burschenschaftlicher Auftrag, wie unsere akademische Freiheit und unsere politische Verantwortung im Kontext ihrer jeweiligen Zeit gelebt werden können. Der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz, der pointierte Formulierungen keinesfalls scheut und immer wieder scharfzüngig mit dem schwindenden Freiheitsbewusstsein unserer Zeit abrechnet, zählen zu den gegenwärtigen Umbrüchen innerhalb der universitären Kultur gerade jene „Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und die Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen. Verklärt wird das Ganze durch die konsumistische Rhetorik vom Studenten als Kunden.“

Können uns Arndts Worte angesichts einer solchen Zeitdiagnose überhaupt noch etwas sagen? Ich meine: Ja.

Ein befreundeter Kollege aus der Erziehungswissenschaft, Bernd Ahrbeck, schreibt in seinem neuesten Band „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“: „Die Gesellschaft ändert sich gravierend, in einer Geschwindigkeit und Richtung, die noch vor einem Jahrzehnt unvorstellbar war. Grundfeste der bürgerlichen Ordnung werden infrage gestellt: Nicht nur punktuell, wie es im Laufe der Zeit immer wieder und teils mit erfrischender Wirkung geschah. Nunmehr kumulieren einzelne, ursprünglich separierte Anliegen zu einer Bewegung, die sich machtvoll in Szene setzt und zunehmend an Einfluss gewinnt. Sie strebt einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel an, ein neues kulturelles Selbstverständnis, das mit dem bisherigen an entscheidenden Stellen bricht.“

Angesichts einer derartigen Zeitdiagnose scheint es nicht fern zu liegen, von Kulturkämpfen zu sprechen, die wir in unseren Tagen erleben. Dem damit verbundenen moralischen Druck kann sich kaum noch jemand entziehen, schon gar nicht in akademischen, politiknahen, pädagogischen oder wissenschaftlichen Berufen. Und ein Zweites: Was kann heute Einsatz für das Vaterland, Einsatz für den Staat bedeuten – in einer paradoxen Stimmung: Einerseits ist viel von Gesellschaft die Rede; die Rede von Gesellschaft hat akademisch sehr häufig die Rede vom Staat ersetzt. Von Letzterem ist allenfalls noch als Sozialstaat die Rede, dem gegenüber wir Ansprüche haben. Andererseits dringt der Staat immer deutlicher in immer mehr gesellschaftliche Bereiche ein und unterwirft diese seiner Steuerung.

Angesichts einer solchen Entwicklung werden Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften – etwa Burschenschaften –  umso wichtiger: Ihre Aufgabe bleibt es, zu Arndts Zeiten wie heute, ihre Mitglieder zu eigenständigen, reifen, verantwortungsfähigen Persönlichkeiten heranzubilden – nicht als strategischer Karrierevorteil (das kann es dann auch sein, aber sekundär), sondern als Ausdruck einer humanen Haltung, die dem Einzelnen Großes zutraut und davon überzeugt ist, dass nur so auch dem Gemeinwesen am besten gedient ist. Unser Gemeinwesen lebt von der Produktivität und freien Selbsttätigkeit der Einzelnen.

Akademische Berufe verlangen dem Einzelnen ein hohes Maß an Freiheit im Denken und Handeln, an Eigenverantwortung und sittlicher Reflexion, an Entscheidungsfähigkeit und Führungsstärke, an sprachlichem Differenzierungsvermögen und gedanklicher Klarheit ab: Fähigkeiten, die im Studium von Anfang an grundgelegt werden müssen. Eine Burschenschaft bietet einen Schutzraum, solche Fähigkeiten zu erproben: in der Führung von Conventen, beim Führen eines Präsidiums, in der akademischen Rede auf Bundesveranstaltungen oder im Schreiben von Beiträgen für die eigene Bundeszeitschrift. Aber: Diese Möglichkeiten müssen auch genutzt werden. Alten Herren ermöglicht die Burschenschaft – wie schon anfänglich gesagt – die Erfahrung einer Auszeit. Wir können wieder „auftanken“, den Konventionalitäten des Alltags für eine bestimmte Zeit entfliehen. Wir können uns gegenseitig stärken. Und das bleibt nicht ohne Wirkung und Ausstrahlung

2. Befähigung zur Freiheit

Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften können ihren Mitgliedern wertvolle Handlungsfähigkeiten vermitteln, die für eine aktive Rolle in Staat, Beruf und Gesellschaft unverzichtbar sind. Eine habituell disponierte Handlungsbereitschaft zu erzeugen, kann allerdings nicht ihr Ziel sein. Gemeinschaften, die eine solche – heute gern „woke“ – „Mission“ zu verfolgen versuchten, überwältigen, statt zur denkenden Auseinandersetzung anzuregen. Sie würden damit aber gerade das verfehlen, worauf der demokratische Verfassungsstaat unverzichtbar angewiesen bleibt: die Befähigung zum Vollzug von Freiheit. Und gerade diese ist es, die das Spezifikum des demokratischen Rechtsstaates ausmacht (eine an sozialer Gerechtigkeit oder Gleichheit orientierte Politik ist auch in anderen politischen Ordnungen denkbar).

Damit ist nicht gesagt, dass die freiheitliche Demokratie des engagierten Diskurses über republikanische Tugenden und Leitkategorien entbehren kann – im Gegenteil: Es braucht die leidenschaftliche Debatte um den Stellenwert von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, es braucht eine Vorstellung von Gemeinschaft und nationaler Zugehörigkeit, es braucht den engagierten Einsatz für das Recht und einen gesellschaftlichen Grundkonsens, es braucht den Willen zum Kompromiss und zur Kooperation. Umfassende Persönlichkeitsbildung, politisch-ethische Bildungsarbeit und interdisziplinäre „Brückenschläge“ sowie die Einführung in eine bildungsbezogene Kultur und deren Wertigkeit leisten hierzu einen unverzichtbaren Beitrag.

Wertorientierte Gruppierungen, die am Prinzip starker Individualität festhalten wollen und sich dem gegenwärtigen Trend zu einer „massendemokratischen Neujustierung der [sic!] Verhältnisses von Einzelnem und Gruppe“ widersetzen, haben in der gesellschaftlichen Landschaft aktuell aber einen schweren Stand. Das scharfe Urteil über den gegenwärtigen Trend zur Entindividualisierung stammt noch einmal aus der Feder Norbert Bolz. Erst jüngst hat eine polarisierende, aggressive Coronapolitik gezeigt, wie schnell viele bereit sind, einen autoritären, biopolitischen Neokollektivismus mitzutragen, wie schnell grundlegende Freiheitsrechte ohne sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Kraft gesetzt werden und Andersdenkende ausgegrenzt und diffamiert werden können.

Nicht mehr die individuelle Persönlichkeit, sondern der Rhythmus der Gruppe, nicht mehr die Freiheit der eigenen Meinung, sondern der „Teamgeist“, nicht mehr die individuelle Leistung, sondern die Gruppenzugehörigkeit stehen für Bolz gegenwärtig im Vordergrund: „Die Wissenschaft ist längst in den Dienst des Gruppenkults getreten: Und an dem typischen Campus-Phänomen der Politischen Korrektheit kann man sehen, dass heute nicht mehr die Wissenschaft verfolgt wird, sondern sie selbst die Verfolgung des heterodoxen Geistes organisiert. Auch an Universitäten darf man heute dumm sein, aber man darf nicht von der Parteilinie abweichen.“

Deutlich beschreibt Bolz jenes Klima, unter dem prinzipienorientierte Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften, beispielsweise studentische Korporationen, im Zeitalter schneller Internetkommunikation, flüchtiger „Freundschaften“ in sozialen Netzwerken oder temporärer, projektbezogener Bindungen leiden. Ein Lebensbund, erst recht ein männlicher, – dem Thema werden wir uns noch widmen – gilt als elitär, konservativ, irgendwie „rechts“, diskriminierend und verachtenswert. Hässliche Farbflecken an der Hauswand bezeugen es.

Den Kritikern geht es dabei oft weniger um ein bestimmtes äußeres Verhalten als vielmehr um Gesinnungskontrolle, weniger um Pluralismus und freie Vergemeinschaftung als um pseudopartizipatorische Selbstbekenntnisse und gesellschaftliche Gleichförmigkeit, weniger um Toleranz und den fairen Wettstreit konkurrierender Positionen als um Programme der Bewusstseinsbildung. Die Entwicklungen, die politisch und gesellschaftlich dahinterstehen, haben in den vergangenen Jahren noch deutlich an Fahrt aufgenommen – und werden wohl noch weiter an Dynamik gewinnen.

Wollten sich Burschenschaften auf die inquisitorische Prüfung von Gesinnungen und deren Kontrolle einlassen, würden sie, solange sie ihren jeweiligen spezifischen Charakter nicht verleugnen und das Toleranzprinzip nicht preisgeben wollen, vermutlich nur verlieren. Ein schneller „Klimawandel“ ist nicht in Sicht, Burschenschaften werden „unzeitgemäß“ bleiben. Sie werden aber Zukunft haben (wenn auch nicht mehr als milieugebundenes „Massenphänomen“), wenn sie das bieten, was das gegenwärtige, stark auf gesellschaftliche Zwecke finalisierte Bildungssystem möglicherweise immer weniger bietet: eine Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft, die groß vom Einzelnen denkt, die das Individuum zur Selbsttätigkeit freisetzen und nicht betreuen will, die zum Selbstdenken herausfordert und die den Mut zum eigenen Gedanken weckt, die um den Ernst des Daseins weiß (und daher auch religiöse Fragen nicht ausspart) und jene Kräfte stärkt, die notwendig sind, sich dem Zwang zum unproduktiven Gruppendenken zu widersetzen. Dies ist ein anspruchsvolles Programm und verlangt, den Einzelnen zu fördern, ihn aber auch zu fordern. Ein Lebensbund ist keine Einbahnstraße. Der Unterstützung im Lebensbund stehen die Verantwortung im Studium und das akademische Streben nach Studienerfolg gegenüber. Beides sind Kehrseiten ein und derselben Medaille. Wir werden später noch überlegen müssen, was dies für die Keilarbeit bedeutet.

Ausblick

Unser burschenschaftlicher Auftrag hat nicht an Bedeutung verloren. Und er kann, davon bin ich überzeugt, auch heute noch anziehend sein. Wir sollten unser burschenschaftliches Profil aber auch ins Fenster legen. Wir sollten es nicht verstecken, wir müssen es dann aber auch leben. Wir sollten unser burschenschaftliches Profil nicht unter Wert verkaufen. Denn wenn ich am Ende doch nur das finde, was alle bieten, muss ich mich keinem Lebensbund anschließen. Das kann ich auch anders haben.

Noch einmal gefragt: Was hat jeden von uns in den Lebensbund geführt? Wovon hat er sich anziehen und überzeugen lassen? Was ist es heute, weshalb ich mich für meine Burschenschaft engagiere? Was sind heute die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir unserem burschenschaftlichen Auftrag treu bleiben wollen? … Wenn wir uns als eine akademische Bildungsgemeinschaft begreifen, die starke Einzelne, eben Persönlichkeiten und Originale, keine Kopien oder Serienstücke in ihren Reihen haben will, dann kann die Antwort auf diese und ähnliche Fragen nur jeder Einzelne von uns selber geben. Damit ist die Diskussion eröffnet.

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