Josef Kraus im Interview: Der deutsche Untertan, vom Denken entwöhnt

Wie sieht die Version von Heinrich Manns Diederich Heßling 2021 aus?

KRAUS: Er ist der regierungstreue Untertan von der Stange, zu Tausenden auffindbar: in den Parteien, in den Parlamenten, in den Kirchen, in Hochschulen und Schulen, in den Medien, vor allem den öffentlich-rechtlichen und im Mainstream der meisten Printmedien. Der Diederich Heßling anno 2021 dient sich der Macht an. Er schwimmt mit im Strom, seine Haltung ist rundgelutscht bis zur Profillosigkeit, er will nirgends anecken, nicht auffallen, damit Karriere machen und zugleich Millionen nach seinem Ebenbild erziehen. Schauen Sie sich doch nur die Redaktionsleiter bestimmter ARD/ZDF-Magazine an. Sie gerieren sich als Leithammel-Untertanen und sind doch kaum anderes als Politkommissare. Sie nennen es „Haltung zeigen“, betreiben aber subtil und trickreich Hetze gegen alles, was angeblich rechts von Merkel steht.

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Noch zwei Wochen bis zur Bundestagswahl – ein pädagogischer Zwischenruf

In zwei Wochen sind die Bundesbürger wieder zur Wahl gerufen. Soll man einer Monatszeitung glauben, die aktuell titelt: „Die Egal-Wahl. Alles wird teurer. Besser wird nichts“? – eine deutliche Aussage. Ich meine, dass es bei dieser Wahl eine Alternative gibt. Aber so oder so: Der Mensch ist zur Politik verdammt, da wir uns nolens volens Gedanken über die Gestalt unseres Zusammenlebens machen müssen. Die Frage ist nur, wie der politische Diskurs geführt und gestaltet wird.

Eines bleibt dafür unverzichtbar – und Pädagogen sollten in besonderer Weise darum wissen: Politische Handlungskompetenz setzt die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmungsfähigkeit voraus. Unter diesen Preis dürfen wir nicht gehen. Im Prozess der politischen Bildung geht es um die Aneignung der für die politische Perspektive maßgeblichen Kategorien, mit denen Einsichten über Aufgaben und Probleme der politischen Praxis rational erarbeitet und Entscheidungen in politischen Konflikten verantwortlich getroffen werden. Und damit wären wir beim anspruchsvollen Programm einer Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft, das es immer wieder neu mit Leben zu füllen gilt: in schulischen und außerschulischen Bildungseinrichtungen, in Hochschulen und Akademien, in Kirchen und Verbänden, im ehrenamtlichen Engagement und überall dort, wo pädagogisch gedacht und gehandelt wird.

Schlaglicht: Anfragen an den gegenwärtigen Coronadiskurs

„Leben nach Vorschrift: Hygienisch, devot, sprechpuppenhaft, grün“ – so betitelt ein Magazin in seiner Herbstausgabe das aktuelle Lebensgefühl kurz vor der Bundestagswahl. Das derzeitige Hygieneregime – so der Philosoph Michael Esders (Tumult, 3/2021, S. 19 ff.) – „gründet sich auf einer politisch in globalem Maßstab durchgesetzen, medial flankierten und von den Digitalplattformen abgesicherten Definitionsmacht.“ Aufs Ganze gesehen, ist der öffentliche Coronadiskurs schon lange nicht unvoreingenommen und streitbar geführt worden, sondern vermachtet, einseitig, manipulativ und affektgeleitet. Dies zu belegen, wäre ein abendfüllendes Thema. An dieser Stelle sei nur auf die Abmahnschreiben von Landesmedienanstalten gegen Medien hingewiesen, die sich kritisch zur Coronapolitik der Bundesregierung geäußert haben – ein Vorgehen, das dem Zensurverbot unserer Verfassung zuwiderläuft.

Viel öffentliches Vertrauen ist auf diese Weise im Laufe der Coronapolitik zerstört worden. Bereits im Januar war absehbar für den, der genau hinhörte, dass das Versprechen der Politik, es werde keine Impfpflicht geben auf Sand gebaut war. Ein Betriebsarzt erklärte schon im Januar auf einer Informationsveranstaltung, dass im Bundesgesundheitsministerium an entsprechenden Plänen gearbeitet werde. Jetzt die geringe Impfquote als Argument vorzuschieben und eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu Sündenböcken zu machen, ist eine Schutzbehauptung.

Die Polarisierung, die mit dem Kursschwenk in der Impfpolitik nun politisch sehenden Auges und ganz offen in unangeahnte Höhen vorangetrieben wird, wird unser Zusammenleben „auf Jahrzehnte vergiften“, wie die „Welt“ Mitte August kommentierte. Und ich teile diese Befürchtung. Die jetzige Politik spaltet Partnerschaften, Familien, Vereine, Kollegien, Freundeskreise … Diese Wunden zu heilen, wird nicht mit billiger Versöhnung gelingen, wie Spahn oder Söder sie im Munde führen. Und diese Politik spielt mit unabsehbaren Folgschäden, für Verfassung, Grundrechte und demokratische Kultur in unserem Land – auch diese sind bei einer ethischen Güterabwägung zu berücksichtigen.

Was wir angesichts der von oben durchgesetzten „Neucodierung der Lebenswelt“ (Michael Esders) dringend bräuchten, wären freie Geister, die in der Lage sind, mit nüchterner Abwägung und unvoreingenommener Analyse den bedrohlichen Entwicklungen und schweren Wertkonflikten gegenzuhalten und Alternativen anzubieten, in der Wissenschaft, in den Medien, in den Kirchen oder anderen Bereichen der Kultur. Von der Politik scheint dies nicht mehr zu erwarten zu sein, wenn man einer Monatszeitschrift glauben will, die vor der Bundestagswahl auf ihrem Titel schreibt: „Die Egal-Wahl. Alles wird teurer. Besser wird nichts.“

In einer freiheitlichen Gesellschaft ist zunächst einmal alles erlaubt, was nicht verboten ist – und nicht umgekehrt. Damit sind Freiheitseinschränkungen begründungspflichtig, nicht die Inanspruchnahme von Grundfreiheiten. Einschränkungen von Grundfreiheiten sind nur um der Freiheit willen legitim, also wenn das Gesamt an Grundfreiheiten gestärkt wird. Hierfür muss ein gerechter Spargrundsatz gelten. Das heißt: Die Einschränkungen müssen maßvoll, zielführend, effizient, befristet und gut begründet sein und es müssen zunächst mildere Mittel ausgeschöpft werden (diese würden etwa mit konventionellen Impfstoffen zur Verfügung stehen, für die in einzelnen Ländern schon Zulassungsverfahren eingeleitet worden sind). Die gegenwärtige Coronapolitik lässt nicht erkennen, dass diese Kriterien eingehalten werden – schon allein deshalb nicht, weil nahezu wahnhaft jeden Tag eine neue Verschärfung, Androhung oder Steigerung der Freiheitseingriffe geschieht.

Das ist keine rationale Politik der Gefahrenabwehr, sondern eine affekt- und ressentimentgeladene. Wieder einmal wird eine Bevölkerungsgruppe zu Sündenböcken gemacht, wird die Bevölkerung gegeneinander aufgehetzt und wird eine Zweiklassengesellschaft herbeigeführt. Wenn der baden-württembergische Ministerpräsident erklärt, nicht die Politiker machten die Politik, sondern das Virus, dann kommt eine Entpersonalisierung ins Spiel, die ich als Theologe durchaus als diabolisch bezeichne.

Eine Impfpflicht ist ein scharfer Grundrechtseingriff, ein Übergriff auf das Recht am eigenen Körper, für den es äußerst zwingende Begründungen braucht. Eine solche Impfpflicht stellt angesichts der noch ungenau erforschten, neuartigen genbasierten, in ihren Langzeitkomplikationen noch gar nicht erforschten, unter Absehung üblicher Prüfstandards unterhalb einer Regelzulassung eingeführten und in ihrer Wirkung begrenzten Impfstoffe einen Tabubruch dar, der ethisch nicht hinnehmbar ist. Wenn die Impfung schützen würde, müssten die Geimpften ja keine Angst vor Ungeimpften haben.

Die beschlossenen Zwangsmaßnahmen, z. B. die Abschaffung solidarisch finanzierter Schnelltests, sind sogar kontraproduktiv, weil es medizinisch sinnvoll wäre, selbst Geimpfte, die weiterhin Überträger sein können, zu testen. Mildere Mittel als eine Zwangsimpfung wurden mitunter politisch gar nicht geprüft, obwohl Vorschläge für einen besseren Schutz vulnerabler Gruppen oder eine Antikörperteststrategie durchaus prüfenswert wären (ja, Minister Spahn hat sich im Wahlkampf jetzt sogar „verplappert“, indem er sagte, dass die Pandemie zahlenmäßig mit Antikörpertests nie enden würde). Nur am Rande: Und die CDU verkauft in ihrem Wahlwerbespot das private Frisieren ohne Hygienekonzept während des „Lockdown“ als Solidaritätsleistung, obwohl ein Besuch im Friseursalon mit durchdachten Hygiene- und Sicherheitsvorkehrungen vermutlich weniger riskant gewesen wäre.

Eine flapsige Bemerkung sei erlaubt: Ich kenne in meiner Umgebung mittlerweile nahezu tausend Personen, die ich für den Medizinnobelpreis vorschlagen möchte – etwa, weil sie mehr wissen als das Robert-Koch-Institut oder ausgebildete Virologen. Die Impfungen haben – anders als konventionelle Impfungen gegen andere Krankheiten – nur eine begrenzte Wirksamkeit, siehe oben. Virologen warnen, dass Langzeitkomplikationen keineswegs unwahrscheinlich seien. Und das Robert-Koch-Institut sagt, dass cancerogene Nebenwirkungen nicht auszuschließen sind. Bei jeder harmlosen Kopfschmerztablette gibt es den Hinweis „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“, bei den neuen Impfstoffen soll auf einmal sogar eine Impfung mehr oder weniger im Vorbeigehen auf dem Baumarktparkplatz oder an der Supermarktkasse möglich sein. Von Anfang an wurde bei der Coronaimpfung nicht mit offenen Karten gespielt, wie Michael Esders konstatiert: „Die Kommunikation zur Impfkampagne schichtete von Beginn an mehrere Motivkomplexe von pragmatisch-hedonistisch bis sublim-moralisch, die zum Teil gleichzeitig aktiviert wurden. Dabei profitierte die Kampagne von den positiven Konnotationen der Begriffe ‚Impfung‘ und ‚Schutzimpfung‘, die eine Kontinuität zum Bewährten suggerieren und die Neuartigkeit – damit auch die Risiken – des genbasierten Verfahrens ausblenden. Den Auftakt bildete der so plumpe wie wirkungsvolle Marketingtrick der künstlichen Verknappung, die mit sprachlichen Mitteln wie den im Frühjahr 2021 lancierten Neologismen ‚Impfneid‘ und ‚Impfdrängler‘ hergestellt wurde.“

Es besteht in einer Krisensituation wie jetzt eine moralische Pflicht – in der Tat: aber nicht zum Impfen, sondern zur sorgfältigen, verantwortlichen, differenzierten ethischen Güterabwägung. Diese moralische Pflicht sollte jeder erfüllen. Die Gemeinschaft aber hat die selbstbestimmte, eigenverantwortliche Entscheidung des Einzelnen zu achten. Dabei haben wir es mit gravierenden Wertkonflikten zu tun. Diese können nur über den Weg der praktischen Konkordanz gelöst werden – und nicht so, dass einzelne Teilhaberechte vollkommen suspendiert werden.

Selbstverständlich besitzt der Staat auch Schutzpflichten. Aber es muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Ansonsten könnte man mit Verweis auf Schutzpflichten, so der frühere Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer, jedes Grundrecht aushebeln. Denn „eine Schippe“ mehr an Schutz und Sicherheit geht immer – aber dann gibt es keine Freiheit mehr. Gesundheitsschutz ist Aufgabe des Staates, ja. Absoluter Gesundheitsschutz (in den Worten der AOK-Werbung: „Alles bleibt anders. Und Gesundheit das Wichtigste.“) gehört nicht zum freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat. Und Widerstand sollte erwachen gegen eine Politik, die nicht rationalen Abwägungen folgt, sondern affektgeleitet nach Sündenböcken sucht, abweichende Überzeugungen verunglimpft, durch ihre Sprung- und Wahnhaftigkeit nahezu unberechenbar geworden ist und die mildere Mittel oder alternative Vorschläge gar nicht mehr zu prüfen bereit ist, was angesichts der gravierenden Freiheitseingriffe ebenfalls politisch eine moralische Pflicht wäre. Über einen Testnachweis in bestimmten sensiblen Bereichen können wir reden. Massenveranstaltungen gehören dazu, das Infektionsrisiko in der Gastronomie wird vermutlich überschätzt. Dass eine völlige Freigabe von Massenveranstaltungen selbst bei einer hohen Impfquote sinnvoll wäre, mag bezweifelt werden.

Für eine 2-G-Regel gibt es überhaupt keine guten Gründe. Tests haben einen Unsicherheitsfaktor, ja. Aber auch Geimpfte können weiterhin Überträger sein, wie etwa Impfdurchbrüche in Diskotheken jetzt zeigen. Um des hohen Gutes der Freiheit willen ist eine Schlechterstellung von Getesteten gegenüber Geimpften nicht zu rechtfertigen, sondern ein Menschenrechtseingriff. Wer jetzt die 2-G-Regel akzeptiert, sollte so ehrlich sein und alsbald auch das überzogene Allgemeine Gleichstellungsgesetz abschaffen.

Überdies muss verwundern, wie schnell Theologen und Sozialethiker jetzt bereit sind, soziale Teilhaberechte zu entziehen, nachdem ethische Hochglanzbegriffe wie Teilhabe, Anerkennung, Partiziption oder Beteiligungsgerechtigkeit in den letzten Jahren geradezu zum fünften Evangelium in Theologie und Kirchen geworden sind. Angesichts dessen bleibt es sehr fraglich, wie stumm (oder sollte ich sagen: kleinlaut?) die sozialethische Disziplin angesichts der aktuellen Politik geworden ist. Ich habe den Verdacht, dass man den Staat als Ausspender aller möglichen sozialen Wohltaten romantisiert hat, den harten Konflikten, die in einer Pandemie zwangsläufig entstehen, aber hilf- und sprachlos gegenübersteht.

Noch ein Wort zu den Kosten, über die gegenwärtig gleichfalls debattiert wird: eine sehr heikle Debatte. Hier nur soviel in Kürze: Soll künftig auch das Motorradfahren (häufig ein gefährliches Hobby ohne zwingendes Mobilitätserfordernis) eingeschränkt werden, wenn Blutkonserven knapp werden? Warum sollen andere für ein solches Wochenendvergnügen zahlen, wenn es zu schweren Unfällen und aufwendigen Operationen kommt? Warum soll die Solidargemeinschaft für Skiunfälle oder Krankheiten zahlen, die sich jemand bei einer Urlaubsfernreise zugezogen hat? Viele weitere Beispiele ließen sich finden. Wenn wir mit dem Argument, warum solle die Gemeinschaft dafür zahlen, auf Suche gehen, werden wir ganz viele Dinge finden, die wir nicht mehr solidarisch umlegen sollten. Ich bezweifle, dass unser Zusammenleben damit an Humanität und Freiheit gewinnt.

Und ein Zweites: Wer über die Kosten der Teststrategie diskutiert, der sollte auch über die Kosten ideologischer Großprojekte der Merkelära nicht schweigen oder über jene Kosten, die der Staat für Bereiche ausgibt, die nicht zu seinen Kernaufgaben gehören. Stattdessen erleben wir schon seit langem einen Staat, der seinen Kernaufgaben im Bereich innerer und äußerer Sicherheit, Katastrophenvorsorge und Zivilschutz nur noch unzureichend nachkommt. Mangelnde Grenzsicherung, ein gescheiterter Bundeswarntag, Versagen im Vorfeld der jüngsten Flutkatastrophe, oder der Niedergang der Bundeswehr sind nur einige Belege für diese Diagnose.

Wenn ein Theologenquartett im vergangenen Jahr für eine „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“ (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2020) plädiert hat, dann geht es um einen Staat, der seine Kernaufgaben robust erfüllt und hierfür auch theologische Rückendeckung verdient, nicht einen Staat, der immer mehr gesellschaftliche Aufgaben an sich zieht, steuert, reguliert und bevormundet. Wenn Kritiker der aktuellen Coronapolitik von einem Staat sprechen, der Freiheitsrechte „nach Gutsherrenart“ zuteilt oder entzieht, dann stecken dahinter ganz konkrete Politikeräußerungen. Söder, um nur ein Beispiel zu nennen, hat schon vor dem Vertrauensbruch vom 10. August erklärt, dass er „Grundrechte zurückgeben“ wolle. Eine solche Politikeräußerung pervertiert den liberalen Rechts- und Verfassungsstaat und dessen Verfassungsordnung. Politiker geben keine Freiheiten zurück, sondern müssen sorgfältig begründen, wenn sie Freiheiten aus gerechten und notwendigen Gründen einschränken. Solche Gründe kann es geben. Aber je länger die Pandemie andauert, desto schlampiger werden die Begründungen der Exekutive für die freiheitseinschränkenden Maßnahmen.

Und die Moral von der Geschicht‘? Zwei sollen am Ende skizziert werden. Die aktuelle Stimmung im Land lässt den Eindruck entstehen, dass die seit den Neunzigerjahren forcierte Erziehung zu Toleranz, Zivilgesellschaft oder Demokratie offenbar wenig fruchtbar oder doch nur aufgesetzt war. Der herrschaftsfreie Diskurs verschwand, als er proklamiert wurde. Es wird viel Kraft und Anstrengung brauchen, die Polarisierung und Spaltung des öffentlichen Diskurses zu überwinden und zu einer rationalen Debatte zurückzukehren. Wir brauchen das streitbare Ringen um das bessere Argument und die beste Lösung. Und wir brauchen die sorgfältige, differenzierte ethische Abwägung. Beides findet sich gegenwärtig häufiger bei konservativen, freiheitlichen oder nationalliberalen Vertretern, weniger bei liberalen. Freiheit und Freiheit sind, wie der aktuelle Coronadiskurs zeigt, keineswegs immer dasselbe.

Zu einer rationalen Politik der Gefahrenabwehr gehört auch die Erkenntnis, dass Biosicherheit, zumal in einer globalisierten Welt, ein fragiles Gut ist: eine Erkenntnis, die im Vergleich zur atomaren Bedrohung auch schon zu Zeiten des Kalten Krieges politisch gern verdrängt wurde. Die Herausforderung, sich gegen bio-technologische Großschadensereignisse, etwa Infektionskrankheiten durch Zoonosen, Laborunfälle oder Bioterrorismus, zu wappnen, wird dem Staat auch „post coronam“ erhalten bleiben. Schon deshalb bleibt es wichtig, die gegenwärtigen Verwerfungen im politischen, medialen und öffentlichen Diskurs aufzuarbeiten:

„Wir brauchen“, so Ulrich Adam (ebd., S. 24 ff.) – „bewährte Handlungsstrategien, die nicht einfach – wie im Fall von Covid-19 – kurzerhand von staatlichen Stellen missachtet und durch ein Regime zentralisierter Bevormundung ersetzt werden können. Unvermeidlich wächst in ernsten Krisenlagen bei den zuständigen Politikern die Versuchung, die Gesellschaft in eine Art kollektiven ABC-Schutzanzug zu pressen. Aber eine solche Anmaßung ist zum Scheitern verurteilt; sie ist und bleibt, was sie schon Ende der 1980er Jahre zu Zeiten des Kalten Krieges war: eine kindlich-naive, wirklichkeitsfremde, hochgefährliche Illusion.“ Aufkeimende „Overkillangst“, hektischer Politaktionismus, ein affektgeleiteter Politikmodus, Diskursverengung, Verunglimpfungsstrategien und die Suche nach Sündenböcken bleiben schlechte Ratgeber, Corona sollte hier als warnender Präzedenzfall dienen. Stattdessen müssen wir den Diskurs führen über Deutungs- und Verhaltenskonzepte, die im Bedrohungsfall ein rationales Handeln ermöglichen und mit den Prinzipien eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates vereinbar sind. Denn wann, wenn nicht in der Krise, erweist sich, ob Verfassungsordnung und gesellschaftliches Ethos tatsächlich tragfähig sind.

In memoriam: Prof. Dr. phil. Hermann Giesecke +

Am 4. September 2021 verstarb in Lenglern bei Göttingen der Pädagoge Hermann Giesecke. Geboren am 9. August 1932 in Duisburg, erlangte er dort am Landfermann-Gymnasium 1952 das Abitur und studierte dann Geschichte und Latein in Münster. 1967 wurde Giesecke Professor für Pädagogik, Politikdidaktik und Sozialpädagogik an der damaligen Pädagogischen Hochschule Göttingen, die später in die dortige Universität integriert wurde. Die Emeritierung erfolgte 1997.

Die Sache des Kindes, des Schulkindes, die pädagogische Beziehung zwischen dem Pädagogen und dem Heranwachsenden sowie die Elternarbeit waren Themen, die den Verstorbenen begleiteten. Gieseckes Pädagogik orientierte sich etwa an Theodor Wilhelm. Man merkt seinen Schriften an, dass Giesecke auch an der Hochschule ein Lehrer durch und durch blieb, humanistisch geprägt, kritisch gegenüber zeitgeistigen Verirrungen der Pädagogik und orientiert am Kind. Giesecke ging es darum, den Unterrichtsauftrag der Schule zu stärken. Ein besonderes Anliegen war ihm der Göttinger Verein für Jugendfragen e. V. , der entwicklungsgefährdete Kinder durch gezielte Bildungs- und Fördermaßnahmen unterstützt.

Professor Dr. Hermann Giesecke war Unterzeichner des Offenen Briefes „Für Freiheit im Bildungssystem“.

Trauerfeier und Beisetzung beginnen am Samstag, 18. September 2021, um 14 Uhr in der Sankt-Martini-Kirche in Lenglern.

Möge das pädagogische Wirken des Verstorbenen nun bei Gott aufgehoben sein.

Have, pia anima. R. I. P.

Gibt es in der EU ein Recht auf Bildung?

Die Europäische Union (EU) befasste sich mit Bildung zunächst aus den praktischen Bedürfnissen des wirtschaftlichen Integrationsprozesses heraus. Grundsätzlich gilt, dass die Gemeinschaft nur dann in einem bestimmten Bereich tätig werden kann, wenn die Gründungsverträge Sie hierzu ermächtigen. Die heutigen Regelungen für den Bildungsbereich erkennen die nach und nach gewachsenen Bildungsaktivitäten auf europäischer Ebene in kodifizierter Form an. Der Vertrag von Nizza hat keine Neuregelung in Angriff genommen, doch ist für die nächste Zeit zumindest mittelbar mit einer Harmonisierung der Bildungspolitik in Europa zu rechnen.

Nach Art. 149 Abs. 1 des EG-Vertrages kann die Gemeinschaft im Bildungsbereich die Einzelstaaten lediglich unterstützen. Sie kann nur an vorhandene oder zumindest geplante Maßnahmen ihrer Mitglieder anknüpfen, was noch einmal unter den Vorbehalt der Erforderlichkeit gestellt wird: eine Negativschranke, die über das ohnehin geltende Subsidiaritätsprinzip hinausgeht. Dieses besagt, dass die höhere Ebene erst dann tätig werden soll, wenn ein Problem auf unterer Ebene nicht besser gelöst werden kann. Abs. 2 begrenzt die Zuständigkeit der EU auf europarelevante Ziele (z. B. Sprachförderung, Mobilität von Lehrenden und Lernenden, Austauschprogramme, Informations- und Erfahrungsaustausch oder Fernlernen). Abs. 3 erlaubt der EU, im Bildungsbereich mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten.

Kann die Gemeinschaft in der allgemeinen Bildung nur finanzielle Anreize setzen oder Lösungen vorschlagen, besitzt sie in der beruflichen Bildung nach Art. 150 weitergehende Möglichkeiten, mit Schwerpunkten in der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Hier führt die EU eine eigene Politik durch und kann auch selbst Rechtsakte erlassen.

Ein ausdrückliches Recht auf Bildung findet sich in den europäischen Gemeinschaftsverträgen nicht; doch kann als notwendige Bedingung aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit sowie dem allgemeinen Diskriminierungsverbot ein Zugangsanspruch zu Bildungseinrichtungen für jene abgeleitet werden, die von der Freizügigkeit in Europa Gebrauch machen. Auch die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989, mit der die soziale Dimension des Binnenmarktes feierlich proklamiert wurde, kennt nur Bestimmungen über die Freizügigkeit und ein Recht auf Berufsausbildung. Ein Wandel vollzieht sich mit der EU-Grundrechtecharta (GRCh) von 2000.

Stand die europäische Bildungspolitik bisher im Dienst des Binnenmarktes, wird die EU mit Art. 14 GRCh nun erstmals zum eigenständigen Garanten eines umfassenden Rechts auf Bildung. Die Charta wurde 1999/2000 vom ersten Europäischen Konvent ausgearbeitet und im Dezember 2000 feierlich proklamiert. Bundestag wie Bundesrat hatten die Charta zuvor empfohlen. Rechtskraft sollte sie als Teil des europäischen Verfassungsvertrages erhalten. Nachdem der EU-Verfassungsprozess politisch vorerst gescheitert ist, bleibt auch der Grundrechtecharta die volle Rechtsverbindlichkeit verwehrt. Dennoch dient sie bereits als Interpretationsdirektive. Der Ende 2009 in Kraft getretene Lissabonvertrag zur Reform der EU verweist in Art. 6 auf sie. Keine der Bestimmungen der GRCh darf zulasten von Grundfreiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention oder nationaler Verfassungen ausgelegt werden; Rivalitäten zwischen den jeweiligen Gerichten sind dabei absehbar.

Die Charta bietet einen Vollkatalog an Grundrechten und beschränkt sich nicht allein auf solche Rechte, für die eine Kompetenz auf Seiten der Gemeinschaft vorliegt; diese überschießenden Rechte werden als Ausdruck der europäischen Wertegemeinschaft gesehen und sollen als Vorratsrechte für spätere Kompetenzerweiterungen dienen. Da für die Anwendung der GRCh die zuvor genannten Bestimmungen des EG-Vertrages maßgebend bleiben, begründet diese keine allgemeine Zuständigkeit der Union für den Bildungsbereich. Adressaten sind die Organe und Einrichtungen der Union sowie deren Mitgliedstaaten, sofern sie Unionsrecht durchführen.

Die Aufnahme von Sozialrechten in die GRCh war keineswegs unumstritten. Im Falle des Rechts auf Bildung gab es Stimmen, die dieses lediglich als Abwehr-, nicht aber als Teilhaberecht festschreiben wollten. In der Folge wurde das Recht auf Bildung nicht unter die Solidaritätsrechte, sondern in die in Kapitel II festgehaltenen Freiheiten eingeordnet; ein geplantes Recht auf freie Wahl der Bildungsstätte wurde fallengelassen. Wird die Wirksamkeit der festgeschriebenen Sozialrechte gegenwärtig zurückhaltend bewertet, könnte die spätere Rechtsprechung deren Wirkung doch noch ausweiten.

Art. 14 Abs. 1 GRCh formuliert ein jedermann zustehendes Teilhaberecht auf freien Zugang zu Bildung, beruflicher Aus- und Weiterbildung. Ein Anspruch auf staatliche Leistungen wird an dieser Stelle nicht begründet, doch wird der Staat verpflichtet, einen Mindeststandard an schulischen Bildungseinrichtungen zu sichern. Betont werden der diskriminierungsfreie Zugang zu bestehenden Einrichtungen und die pädagogische Wahlfreiheit. Im Weiteren wird ein Teilhaberecht auf unentgeltlichen Pflichtschulunterricht formuliert. Verhindert werden soll, dass aus der Schulpflicht finanzielle Nachteile erwachsen. Die akademische Freiheit wird von Art. 13 GRCh geschützt.

Art. 14 Abs. 3 GRCh sichert das Erziehungsrecht der Eltern und die Gründungsfreiheit von Lehranstalten, sofern diese demokratischen Grundsätzen genügen: ein „Sonderfall“ des Rechts auf unternehmerische Freiheit. Ein staatliches Schulmonopol ist damit ausgeschlossen. Positive Leistungspflichten des Staates ergeben sich auch hier nicht. Staatlichen Eingriffen in den Erziehungsprozess soll vorgebeugt werden. Aus Sicht des Kindes sichert der betreffende Absatz das Recht, unter elterlichem Einfluss aufzuwachsen.

Ein wesentlicher Prüfstein dieser Bildungsfreiheit ist der Umgang mit Religion in der öffentlichen Schule. Kinder haben ein Recht, auch religiös sprachfähig zu werden. Und Eltern haben ein Recht, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen, auch im Rahmen der Schule.

Schlaglicht: Christliche Sozialethik scheitert angesichts einer Impfpflicht durch die Hintertür

„Es ist gerecht und solidarisch, dass Ungeimpfte die negativen Konsequenzen ihrer Entscheidung tragen müssen“, befand Andreas Lob-Hüdepohl, Ethiker an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Mitglied des Nationalen Ethikrates, am 29. August 2021 in der Fernsehsendung „Berlin direkt“. Die am 10. August beschlossene 3-G-Regel sei akzeptabel. Alles in einem verbindlichen, freundlichen, lächelnden Tonfall vorgetragen, ganz „nüchtern“, wie er selber sagt.

Man reibt sich die Augen: Partizipation, soziale Teilhabe, Respekt und Anerkennung waren in den vergangenen Jahren Lieblingsthemen der Christlichen Sozialethik, und dies mitunter gesteigert bis zur unmittelbaren Anerkennung von Bedürfnissen, selbstbestimmten Identitäten und Gefühlen. Doch jetzt soll die Verweigerung sozialer Teilhaberechte, die Suche nach den ungeimpften Sündenböcken, die Spaltung in eine Zweiklassengesellschaft gerecht und solidarisch sein? Für Lob-Hüdepohl schon, wie er den Fernsehzuschauern erklärt: Denn die Solidargemeinschaft respektiere schließlich das Selbstbestimmungsrecht, nur müssten die Ungeimpften dann eben auch die negativen Konsequenzen tragen.

Richtig ist, dass Freiheit und Verantwortung die notwendigen Kehrseiten ein und derselben Medaille sind. Wer Freiheit in Anspruch nimmt, muss auch für die Folgen seiner Entscheidungen eintreten. Allerdings gilt dies im Rahmen einer Verfassungsordnung, die vom Vorrang des freien Subjekts und seiner Selbstbestimmung ausgeht. Lob-Hüdepohl stellt im Interview hingegen diese Verfassungsordnung auf den Kopf: Der Staat wird dazu legitimiert, Grundfreiheiten nach Gutsherrenart zuzuteilen oder zu entziehen. Doch nicht die Inanspruchnahme von Freiheit ist im liberalen Rechts- und Verfassungsstaat begründungspflichtig, sondern deren Beschränkung. Und hierfür bedarf es triftiger Gründe.

Eine Impfpflicht durch die Hintertür einzuführen, wie es seit Mitte August geschieht, wobei die Daumenschrauben nahezu wöchentlich immer mehr angezogen werden, ist eine Misstrauenserklärung gegen das freie Subjekt. Wer die Selbstbestimmung achten will, darf eine bestimmte Entscheidung nicht gleichzeitig zur Pflicht für andere machen wollen oder eine abweichende Entscheidung als „unethisch“ verunglimpfen. Dies gilt erst recht, wo elementare Freiheitsgüter wie das Recht am eigenen Körper bedroht sind. Der Pädagoge und Germanist Peter J. Brenner hat Anfang September in seinem Bildungsblog gewarnt: „Damit ist die vorletzte Bastion des abendländisch-neuzeitlichen Menschenbildes bedroht. Das ‚Recht auf körperliche Unversehrtheit‘ – Art. 2,2 GG, aber was zählt das schon – ist zur Disposition gestellt. Immerhin: Die letzte Bastion bürgerlicher Grundrechte wankt noch nicht. Jeder kann weiterhin denken, was er will, auch wenn es nicht unbedingt ratsam ist, diese Gedanken zu äußern. Hier gilt die Maxime, die Kant in seinem berühmten Aufklärungsaufsatz Friedrich II. zugeschrieben hat: ‚Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!'“

Einem Mitglied des Nationalen Ethikrates hätte angesichts der gravierenden Wertkonflikte, mit denen wir es zu tun haben, eine differenziertere und sorgfältigere ethische Urteilsbildung gut angestanden. Das fängt schon beim Blick auf die empirischen Anteile an. Die Impfung sei „kein tödliches Instrument“, in der Diskussion über etwaige Impfschäden, Nebenwirkungen oder Langzeitfolgen würde etwas „hochgezogen, was abwegig ist“. Wie andernorts auch, folgt der Berliner Ethiker einem vermachteten Diskurs, in dem kritische Stimmen nicht vorgesehen sind. Statt Gegenpositionen zu prüfen, werden diese verunglimpft. Doch ist es gerade ein schon seit langem einseitig, manipulativ und affektgeleitet geführter öffentlicher Diskurs, der die Coronapolitik in eine Sackgasse geführt hat, sodass die Regierung nun mit immer mehr Druck gegen Teile der eigenen Bevölkerung arbeiten muss und glaubt, allein so Handlungsfähigkeit demonstrieren zu können.

Erst im August diagnostizierten Wissenschaftler mit einer in „Forschung & Lehre“, der Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbandes, veröffentlichten Erklärung: Kritischer Geist in der Krise. Pate im Hintergrund stand nicht zuletzt der Coronadiskurs, bei dem kritische, abweichende Stimmen deutlich an den Rand gedrängt wurden – mit deutlichen Folgen: Ein maßlos gewordenes Hygieneregime übernimmt quasireligiöse Funktionen und entpersonalisiert unser Zusammenleben. Nicht wir machen diese Politik, sondern das Virus, erklärte erst kürzlich der baden-württembergische Ministerpräsident. Entlarvender kann man es nicht sagen. Doch Entpersonalisierung ist nahezu ein diabolischer Vorgang. Wo niemand persönlich verantwortlich ist, erstirbt das Subjekt, am Ende aber auch die Rede von Gott. Denn das Virus spricht nicht von Gott.

Auch in einem anderen Punkt stellt Lob-Hüdepohl den medialen Dominanzdiskurs nicht in Frage: Wenn die Impfung die Geimpften schützen soll, müsste sich niemand vor Ungeimpften fürchten. Oder anders gesagt: Der Geimpfte hätte dann gar keinen ethischen Grund vom anderen Solidarität einzufordern. Der Risikoträger, der nicht geimpft ist, mag sich vielleicht selbst schaden. Aber das ist in Kauf zu nehmen, wenn die freie Entscheidungsfähigkeit gewollt ist. Der Staat hat seine öffentliche Schutzaufgabe erfüllt, sobald ein Impfangebot für alle vorliegt. Mehr kann und darf der liberale Rechts- und Verfassungsstaat nicht fordern.

Lob-Hüdepohl geht allerdings gar nicht davon aus, dass eine freie Entscheidung überhaupt sinnvoll sein könne. Doch es mag viele gute, zumindest ethisch respektable Gründe geben, warum sich Einzelne nach sorgfältiger, ethischer Abwägung nicht für eine Impfung entscheiden. Eine solche Entscheidung für oder gegen eine Impfung mit den neuen genbasierten Impfstoffen hängt vom persönlichen Risiko, der persönlichen Lebensführung, der individuellen Gefährdungslage, den eigenen Opportunitätskosten, von persönlichen Wertpräferenzen oder der Einschätzung der individuellen Vor- und Nachteile ab. Doch all diese Fragen kommen bei Lob-Hüdepohl nicht vor. Mindestens die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der eingeleiteten Zwangsmaßnahmen müsste ein namhafter Ethiker im Blick haben – sollte man meinen. Doch wo Moralisierung über die nüchterne Abwägung den Sieg davonträgt, scheint selbst basales Lehrbuchwissen verloren gegangen zu sein, etwa das Wissen über ethische Vorzugsregeln für die notwendige Güter- und Übelabwägung oder die Notwendigkeit, freiheitseinschränkende Maßnahmen daraufhin zu prüfen, ob diese geeignet und maßvoll sind. Da auch Gimpfte weiterhin das Virus übertragen könen, dürfte der Verzicht auf solidarische finanzierte Bürgertests ab Herbst geradezu kontraproduktiv sein.

Bei der drohenden 2-G-Regel, die dann Ungeimpfte zwangsläufig von bestimmten sozialen Vollzügen gänzlich ausschließt, kommt dem nationalen Ethikberater dann doch ein leiser Zweifel, aber auch nicht mehr. Ja, hier könnten Daseinsgrundfunktionen auf „sehr problematische“ Weise berührt sein. Als Fernsehzuschauer hätte man schon gern gewusst, wo für ihn eine rote Linie überschritten wäre. Doch kein Wort darüber, wie wichtig Berechenbarkeit, Klugheit und Augenmaß für den freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat sind. Am Ende bleibt alles schwammig, eben verbindlich und freundlich. Man hat den Eindruck, der Ethiker aus der Hauptstadt wolle nicht anecken, wolle sich die eigenen guten Gesprächskontakte in die Politik nicht verderben oder das eigene Netzwerk nicht gefährden.

Viele politische und gesellschaftliche Akteure sind an dieser Krise gescheitert, und leider eben vielfach auch die Vertreter der Kirchen und der Christlichen Sozialethik. Unser Land hat an Würde und Anstand verloren, mit langfristigen Folgeschäden für das soziale Zusammenleben und den öffentlichen Diskurs. Lob-Hüdepohl meldet sich immerhin zu Wort. Allenthalben jedoch herrscht in den Kirchenleitungen und theologischen Fakultäten vorwiegend dröhnendes Schweigen angesichts der impfpolitischen Kehrtwende. Grundwerte und Grundrechte unserer Verfassungsordnung müssen sich gerade in der Krise bewähren und tragfähig sein. Doch das zeigt sich in der aktuellen Coronapolitik gerade nicht.

Wer sonst immer von sozialer Teilhabe, Anerkennung und anderen sozialethischen Hochglanzbegriffen redet, dürfte angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen nicht schweigen – oder er wird unglaubwürdig. Das lautstarke Pochen auf Beteiligungsgerechtigkeit erweist sich nun als hohles Pathos. Warum dies so ist, hat viele Gründe. Auch Furcht vor persönlicher Repression dürfte eine Rolle dabei spielen, besser nichts zu sagen. Aber auch ein gewaltiger Verlust an religiöser Kraft kommt hinzu. Eine Kirche, die sich in Innerweltlichem und Vorletztem verliert (wobei ich als Sozialethiker keineswegs leugne, dass dies nicht auch Sache der Kirche wäre), weiß am Ende auch hierzu nichts Relevantes mehr zu sagen.

Wir werden lange daran arbeiten müssen, die Verwerfungen und Verletzungen, die jetzt entstehen, aufzuarbeiten. Und wir werden in der Tat sehr lange daran arbeiten müssen, wieder einen pluralismusfähigen, unvoreingenommenen öffentlichen Diskurs und auch gegenseitiges Vertrauen zurückzugewinnen. Einfach mal so von einer „Geste der Versöhnung“ zu sprechen, mit welcher der bayerische Ministerpräsident Ende August in einer Pressekonferenz die neuen Coronamaßnahmen seiner Regierung verkaufen wollte, wird nicht ausreichen.

Aber gegenwärtig müssen wir erst einmal aus der Krise herausfinden – ein Ende der Polarisierung und Spaltung unseres Zusammenlebens, wozu es sozialethisch viel zu sagen gebe, ist gegenwärtig alles andere als absehbar. Es geht um viel: Verfassungsordnung, Grundrechte und demokratische Kultur. Es bleibt zu hoffen, dass sich am Ende doch noch Sozialethiker finden lassen, die zu nüchterner Abwägung aus christlicher Verantwortung in der Lage sind, wo sich Irrationales und Wahnhaftes auf so beunruhigende Weise auszubreiten scheint – aber hoffentlich mit mehr Rückgrat, auf eine differenziertere, glaubwürdigere Weise und mit mehr Überzeugungskraft als der Kollege in seinem Fernsehauftritt.

Erklärung kann mitgetragen werden: Kritischer Geist in der Krise – Zur Aufgabe von Wissenschaft

Die Erklärung Kritischer Geist in der Krise. Zur Aufgabe von Wissenschaft, die in der Augustausgabe der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ des Deutschen Hochschulverbandes veröffentlicht wurde, findet sich unter folgendem Link und kann, auch von Nichtwissenschaftlern, dort mitgetragen werden:

Im Hintergrund der Erklärung steht der coronapolitische Diskurs, der schon lange vermachtet, einseitig, manipulativ und affektgeleitet geführt wird. Jetzt kann die Regierung nur noch mit immer mehr Zwang reagieren. Nicht zuletzt wurde der Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft, zwischen Entscheidung und Beratung sträflich vernachlässigt. Beide Teilpraxen unterschiedliche Aufgaben. Entscheidende Anstöße zur Erklärung kamen nicht zuletzt aus der Medizin. Dies alles aufzuarbeiten, wird nur sehr mühsam und langsam gelingen. Wir gehen auf eine Situation zu, in der – wie die „Welt“ Mitte August kommentierte – das gesellschaftliche Klima „auf Jahrzehnte vergiftet“ sei könnte. Ich teile diese Einschätzung, hätte aber gern Unrecht.

Leider steht es nicht gut um die Freiheit in unserem Land, im Gegenteil. Das freie Subjekt wird zurückgedrängt. Der ungebrochenen Einzelnen sind nur noch wenige. Prof. Dr. Peter J. Brenner (Technische Universität München) schrieb Anfang September in seinem Bildungsblog: „Das durch politischen, sozialen und bald auch ökonomischen Druck verordnete Impfregime bringt nun eine grundsätzlich neue Qualität in den Maßnahmenkatalog. Es erlaubt den staatlichen Zugriff auf den Körper. Damit ist die vorletzte Bastion des abendländisch-neuzeitlichen Menschenbildes bedroht. Das ‚Recht auf körperliche Unversehrtheit‘ – Art. 2,2 GG, aber was zählt das schon – ist zur Disposition gestellt. Immerhin: Die letzte Bastion bürgerlicher Grundrechte wankt noch nicht. Jeder kann weiterhin denken, was er will, auch wenn es nicht unbedingt ratsam ist, diese Gedanken zu äußern. Hier gilt die Maxime, die Kant in seinem berühmten Aufklärungsaufsatz Friedrich II. zugeschrieben hat: ‚Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!'“ Der Körper ist nicht mehr tabu. Wer weiß, wie lange sich der kritische Geist noch behaupten kann. Umso wichtiger ist es, dass wir für die Freiheit eintreten – als Wissenschaftler und Staatsbürger, als ethisch Denkende und kritische Geister.

HIER DER TEXT DER ERKLÄRUNG IM WORTLAUT:

Kritischer Geist in der Krise

Zur Aufgabe von Wissenschaft

Autoren:

Prof. Dr. Rainer Baule, Lehrstuhl für Bank- und Finanzwirtschaft, FernUniversität in Hagen

Jun.-Prof. Dr. Alexandra Eberhardt, Juniorprofessur für Deutsch als Zweitsprache, Universität Paderborn

Prof. Dr. Ursula Frost, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik, Schwerpunkt Bildungstheorie, Universität zu Köln

Prof. Dr. Katrin Gierhake, LL.M. (Nottingham), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universität Regensburg

Prof. Dr. Alexandra Grund-Wittenberg, Lehrstuhl für Altes Testament, Philipps Universität Marburg

Honorarprofessor Dr. Lothar Harzheim, Fachgebiet Numerische Berechnungsverfahren im Maschinenbau, TU Darmstadt

Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann, Lehrgebiet Praktische Philosophie I: Ethik – Recht – Ökonomie, Fernuniversität in Hagen

Prof. Dr. Jochen Krautz, Professor für Kunstpädagogik, Fakultät für Design und Kunst, Bergische Universität Wuppertal

Prof. Dr. Robert Obermaier, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling, Universität Passau

Jun.-Prof. Dr. Luna Rösinger, Juniorprofessur für Kriminologie und Strafrecht, Eberhard Karls Universität Tübingen

Prof. Dr. Peter Rohner, Titularprofessor für Wirtschaftsinformatik, Universität St. Gallen

Prof. Dr. med. Klaus-Martin Schulte, FRCS, FRACS, Ordinarius für Chirurgie, Australian National University

Dr. (rer. nat.) Jens Schwachtje, Molekularbiologe, Nürtingen

Prof. Dr. Harald Schwaetzer, Philosophisches Seminar der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte, Bernkastel-Kues

Prof. Dr. Anke Steppuhn, Fachgebiet Molekulare Botanik, Universität Hohenheim

Prof. Dr. André Thess, Lehrstuhl für Energiespeicherung, Universität Stuttgart

Prof. Dr. Christin Werner, Professur für Musikdidaktik Grundschule, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Gerade in Krisenzeiten muss es die Aufgabe von Wissenschaft bleiben, fragwürdige Umstände als solche zu benennen und zu hinterfragen. Eine der Aufklärung verpflichtete Wissenschaft konstituiert sich dabei durch selbständiges, selbstkritisches, umfassendes, systematisches und konsequentes Streben nach Erkenntnis. Sie tut dies aus der ihrem Wesen gemäßen Freiheit heraus, welche der Rechtsstaat um seiner selbst willen anerkennt.

Von der Wissenschaft zur Expertokratie

Wir beobachten derzeit eine Reduktion von Wissenschaft als konstruktiv-kritischem Diskurs aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Bereitstellen von Expertise, die dazu dienen soll, politische Maßnahmen daraus abzuleiten und zu rechtfertigen. Dies ist in mehrfacher Hinsicht problematisch:

Wissenschaftler, die als Experten auftreten, sind in dieser Rolle nicht mehr uneingeschränkt Wissenschaftler. Die politische Erwartung an Experten ist oft, eindeutige Aussagen zu in der Regel aktuellen Problemkreisen zu treffen, die dann unmittelbar als Handlungsanweisungen übernommen werden können.

Einerseits geht dabei notwendig verloren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse selten eindeutig und in der Anwendung immer deutungsbedürftig sind: Sie sind daher auch in der Wissenschaft selbst meist kontrovers. Diese Kontroversen bilden sich aber in einzelnen, von der Politik abgefragten Expertenäußerungen nicht ohne weiteres ab. Dieser kaum zu umgehende Umstand wird dann problematisch, wenn nur noch einzelne Experten gehört werden, nicht aber die notwendige Vielfalt der Zugänge zum Problem.

Andererseits sind politische Maßnahmen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht direkt ableitbar. Zwar sollten politische Entscheidungen Bezug auf solche Erkenntnisse nehmen, sie gründen aber auf Werturteilen und sind letztlich Willensentscheidungen, die sich auf normative Überzeugungen stützen und demokratisch legitimiert sein müssen. Sie beziehen eine Vielzahl von Interessenlagen ein, die sie zum Ausgleich bringen wollen. Sie sind ferner an geltendes Recht, insbesondere die Verfassung gebunden. Insofern ist es falsch und rechtsstaatlich bedenklich, wenn politische Maßnahmen gerade in gravierenden Fragen wie der Einschränkung von Grundrechten als alternativlos dargestellt werden, weil dies der „Stand der Wissenschaft“ gebiete. Denn zum einen ist nichts alternativlos, und zum anderen hängen Entscheidungen über zu wählende Alternativen von den verfolgten Zwecken ab. Diese kann „die Wissenschaft“ aber weder selbst setzen, noch bei Zielkonflikten demokratisch legitimiert gegeneinander abwägen. Außerdem müssen die Zwecke ihrerseits legitim, d.h. freiheitlich begründet sein.

Aufgabe von Wissenschaft in Krisenzeiten

Angesichts der hier angesprochenen Instrumentalisierung von Wissenschaft betonen wir deren Aufgabe in einem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen:

Öffentlicher Vernunftgebrauch

Wissenschaft ist immer Anwältin eines Theorie und Praxis umfassenden Vernunftgebrauchs. Wenn ein demokratischer Staat tiefgreifende Grundrechtseingriffe mit wissenschaftlicher Expertise begründet, dann darf auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur an einzelnen Stellen Bezug genommen werden. Rationalität gerade in einem Klima von Verunsicherung, Angst und kakophonen Debatten sicherzustellen, kann ein Beitrag der Wissenschaft sein. Das aber muss die Politik auch zulassen, indem sie den Entscheidungen breite wissenschaftliche Evidenz zugrunde legt, den dazugehörigen Diskurs erträgt und nicht entscheidungsbasiert Fakten kommuniziert. Eine sich auf Wissenschaft beziehende Politik muss nachvollziehbar argumentieren, differenzieren, abwägen und reflektieren, sowohl in Bezug auf fachlich relevante Einzelfragen wie auf fundamentale Fragen von Demokratie und Rechtsstaat.

Dazu muss die Politik die ganze interdisziplinäre Breite der wissenschaftlichen Expertise einbeziehen. Unterlässt sie dies, entsteht ein Klima von dann berechtigtem Misstrauen, Irrationalität und daraus folgenden polemischen Kontroversen. Gerade jene Wissenschaftler, die das Gehör der Politik finden, haben die Verantwortung, ihre eigene Expertise durch andere zu ergänzen und zu kontrastieren. So kann Wissenschaft einen Beitrag zu öffentlichem Vernunftgebrauch leisten, von dem eine den Prinzipien der Aufklärung verpflichtete Demokratie abhängt.

Kritik und Debattenklima

Wissenschaft hat gerade in der Demokratie eine kritische Funktion. Kritik ist dabei nicht als negativ und destruktiv zu verstehen, sondern sie zielt auf Retardierung bei vermeintlich naheliegenden Lösungen, auf Besinnung in der Diskussion und auf die Öffnung des Problemhorizonts.

Krinein meint die Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und zu begründeten Urteilen zu kommen. Kritik bedeutet daher gerade in Krisenzeiten, scheinbare Selbstverständlichkeiten, vermeintlich eindeutige Phänomene und Ergebnisse und daraus resultierende „Alternativlosigkeiten“ zu hinterfragen.

Kritik zielt dabei auch auf den Erhalt ihrer eigenen Bedingung, nämlich der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit in der Demokratie. Wenn solche Kritik in einem aufgeheizten Debattenklima nicht mehr möglich ist, dann sind Wissenschaft und Demokratie fundamental gefährdet. Hiergegen muss sich Wissenschaft wehren, denn sonst droht die Gefahr der Dogmatisierung in Form der Diffamierung von Alternativen als Immunisierung gegen Kritik. Der Dogmatismus kann nur durch kritische Prüfung überwunden werden. Daher bedarf es steter Skepsis und Ideologiekritik, damit das Ideal einer kritischen Rationalität an Boden gewinnt.

Wahrheitssuche und Erkenntnisgrenzen

Vornehmste Aufgabe von Wissenschaft in einem der Aufklärung verpflichteten Gemeinwesen ist die freie und unabhängige Orientierung am Ideal der Wahrheitsfindung. Dies schließt den begründeten Zweifel nicht aus, sondern ein. Wenn die Wissenschaft aber vorrangig den Erwartungen der Politik folgt und dabei ihre Themensetzungen den finanziellen Förderungsangeboten anpasst, dann unterläuft sie selbst eben diese Aufgabe.

Zudem muss sich Wissenschaft der grundsätzlichen Frage stellen, wo sie ihre Erkenntnisgrenzen erreicht. Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn in komplexen Systemen Strukturen und Kausalitäten gesucht werden und daraus die Effekte von Eingriffen in solche Systeme mit hinreichender Genauigkeit vorhergesagt werden sollen. Je komplexer das System, desto schwieriger ist das Erkennen von Kausalitäten und desto fehleranfälliger sind die Vorhersagen für die Konsequenzen von Systemeingriffen. Darin steckt die Gefahr, vermeintlich effiziente, aber vielleicht sogar schädliche Maßnahmen zu priorisieren und tatsächlich wirksame zurückzustellen oder zu übersehen.

Pluralität und Kontroverse

Zentrale Merkmale von Wissenschaft wie Ergebnisoffenheit, Pluralität der Zugänge und Kontroversität ihrer Ergebnisse sind also nicht störende Eigenheiten verquerer Intellektueller, die den politischen Prozess und die Krisenbewältigung hemmen. Vielmehr sind sie Bedingung dafür, dass nicht im Namen oder mit Hilfe der Wissenschaft Regierungspraktiken etabliert werden, die rechtsstaatlich mindestens fragwürdig sind. Sachliche Kontroverse und plurale Problemzugänge als Kennzeichen von Wissenschaft halten zugleich auch den Raum der demokratischen Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger offen.

Freiheit und Verantwortung

Bedingung für alles Vorgenannte ist die öffentliche Anerkennung und zugleich aktive Inanspruchnahme der Freiheit von Wissenschaft, die dadurch zu einer freiheitlichen Demokratie beiträgt. Freiheit der Wissenschaft ist wie alle Freiheit in der Demokratie daher notwendig verantwortete Freiheit. Verzichtet Wissenschaft etwa in ausgerufenen Krisenzuständen selbst auf den verantwortlichen Gebrauch ihrer Freiheit, dann wird sie ihrer gerade in der Krise bedeutenden Aufgabe für die Demokratie nicht gerecht. Der Rückzug aus dem verantwortlichen Freiheitsgebrauch führt dazu, dass die wissenschaftliche wie politische Freiheit schleichend abgebaut werden kann.

Bildung und Diskurs

Schließlich verweisen diese Zusammenhänge insgesamt auf den wesentlichen Beitrag universitärer bzw. akademischer Lehre und Forschung zu Bildung und Mündigkeit. Beide sind Voraussetzung der Diskursfähigkeit in einer lebendigen Demokratie. Beide wurden jedoch bereits im Zuge der „Bildungsreformen“ der letzten zwanzig Jahre an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt.

Wissenschaft muss durch freie und auf das Selbstdenken hinleitende Lehre zu sachlicher Urteilsfähigkeit, Kritikfähigkeit und Persönlichkeitsbildung junger Menschen beitragen. „Lehre“ ist dabei nicht mit der Bereitstellung von Informationen zu verwechseln, Bildung ist eine reflexive und ethische, keine rein technisch (z.B. durch Digitalisierung) lösbare Aufgabe. Dazu ist Lehre in Präsenz und in geschützten Räumen unabdingbar, denn eben jener offene, sachliche und kritische Diskurs, der hier eingefordert wird, muss im Studium erprobt und geübt werden. So schadet die Verschulung, Vereinheitlichung und Verflachung von Studiengängen der Diskursfähigkeit genauso wie die Reduktion oder gar Verfemung von Meinungspluralität und Kontroverse in der aktuellen Krise. Diese erweist sich somit auch als Krise der Wissenschaft und als Krise der wissenschaftlichen Bildung. Beides neu zu fundieren, muss daher eine Konsequenz aus den aktuellen Erfahrungen sein.