„Leben nach Vorschrift: Hygienisch, devot, sprechpuppenhaft, grün“ – so betitelt ein Magazin in seiner Herbstausgabe das aktuelle Lebensgefühl kurz vor der Bundestagswahl. Das derzeitige Hygieneregime – so der Philosoph Michael Esders (Tumult, 3/2021, S. 19 ff.) – „gründet sich auf einer politisch in globalem Maßstab durchgesetzen, medial flankierten und von den Digitalplattformen abgesicherten Definitionsmacht.“ Aufs Ganze gesehen, ist der öffentliche Coronadiskurs schon lange nicht unvoreingenommen und streitbar geführt worden, sondern vermachtet, einseitig, manipulativ und affektgeleitet. Dies zu belegen, wäre ein abendfüllendes Thema. An dieser Stelle sei nur auf die Abmahnschreiben von Landesmedienanstalten gegen Medien hingewiesen, die sich kritisch zur Coronapolitik der Bundesregierung geäußert haben – ein Vorgehen, das dem Zensurverbot unserer Verfassung zuwiderläuft.
Viel öffentliches Vertrauen ist auf diese Weise im Laufe der Coronapolitik zerstört worden. Bereits im Januar war absehbar für den, der genau hinhörte, dass das Versprechen der Politik, es werde keine Impfpflicht geben auf Sand gebaut war. Ein Betriebsarzt erklärte schon im Januar auf einer Informationsveranstaltung, dass im Bundesgesundheitsministerium an entsprechenden Plänen gearbeitet werde. Jetzt die geringe Impfquote als Argument vorzuschieben und eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu Sündenböcken zu machen, ist eine Schutzbehauptung.
Die Polarisierung, die mit dem Kursschwenk in der Impfpolitik nun politisch sehenden Auges und ganz offen in unangeahnte Höhen vorangetrieben wird, wird unser Zusammenleben „auf Jahrzehnte vergiften“, wie die „Welt“ Mitte August kommentierte. Und ich teile diese Befürchtung. Die jetzige Politik spaltet Partnerschaften, Familien, Vereine, Kollegien, Freundeskreise … Diese Wunden zu heilen, wird nicht mit billiger Versöhnung gelingen, wie Spahn oder Söder sie im Munde führen. Und diese Politik spielt mit unabsehbaren Folgschäden, für Verfassung, Grundrechte und demokratische Kultur in unserem Land – auch diese sind bei einer ethischen Güterabwägung zu berücksichtigen.
Was wir angesichts der von oben durchgesetzten „Neucodierung der Lebenswelt“ (Michael Esders) dringend bräuchten, wären freie Geister, die in der Lage sind, mit nüchterner Abwägung und unvoreingenommener Analyse den bedrohlichen Entwicklungen und schweren Wertkonflikten gegenzuhalten und Alternativen anzubieten, in der Wissenschaft, in den Medien, in den Kirchen oder anderen Bereichen der Kultur. Von der Politik scheint dies nicht mehr zu erwarten zu sein, wenn man einer Monatszeitschrift glauben will, die vor der Bundestagswahl auf ihrem Titel schreibt: „Die Egal-Wahl. Alles wird teurer. Besser wird nichts.“
In einer freiheitlichen Gesellschaft ist zunächst einmal alles erlaubt, was nicht verboten ist – und nicht umgekehrt. Damit sind Freiheitseinschränkungen begründungspflichtig, nicht die Inanspruchnahme von Grundfreiheiten. Einschränkungen von Grundfreiheiten sind nur um der Freiheit willen legitim, also wenn das Gesamt an Grundfreiheiten gestärkt wird. Hierfür muss ein gerechter Spargrundsatz gelten. Das heißt: Die Einschränkungen müssen maßvoll, zielführend, effizient, befristet und gut begründet sein und es müssen zunächst mildere Mittel ausgeschöpft werden (diese würden etwa mit konventionellen Impfstoffen zur Verfügung stehen, für die in einzelnen Ländern schon Zulassungsverfahren eingeleitet worden sind). Die gegenwärtige Coronapolitik lässt nicht erkennen, dass diese Kriterien eingehalten werden – schon allein deshalb nicht, weil nahezu wahnhaft jeden Tag eine neue Verschärfung, Androhung oder Steigerung der Freiheitseingriffe geschieht.
Das ist keine rationale Politik der Gefahrenabwehr, sondern eine affekt- und ressentimentgeladene. Wieder einmal wird eine Bevölkerungsgruppe zu Sündenböcken gemacht, wird die Bevölkerung gegeneinander aufgehetzt und wird eine Zweiklassengesellschaft herbeigeführt. Wenn der baden-württembergische Ministerpräsident erklärt, nicht die Politiker machten die Politik, sondern das Virus, dann kommt eine Entpersonalisierung ins Spiel, die ich als Theologe durchaus als diabolisch bezeichne.
Eine Impfpflicht ist ein scharfer Grundrechtseingriff, ein Übergriff auf das Recht am eigenen Körper, für den es äußerst zwingende Begründungen braucht. Eine solche Impfpflicht stellt angesichts der noch ungenau erforschten, neuartigen genbasierten, in ihren Langzeitkomplikationen noch gar nicht erforschten, unter Absehung üblicher Prüfstandards unterhalb einer Regelzulassung eingeführten und in ihrer Wirkung begrenzten Impfstoffe einen Tabubruch dar, der ethisch nicht hinnehmbar ist. Wenn die Impfung schützen würde, müssten die Geimpften ja keine Angst vor Ungeimpften haben.
Die beschlossenen Zwangsmaßnahmen, z. B. die Abschaffung solidarisch finanzierter Schnelltests, sind sogar kontraproduktiv, weil es medizinisch sinnvoll wäre, selbst Geimpfte, die weiterhin Überträger sein können, zu testen. Mildere Mittel als eine Zwangsimpfung wurden mitunter politisch gar nicht geprüft, obwohl Vorschläge für einen besseren Schutz vulnerabler Gruppen oder eine Antikörperteststrategie durchaus prüfenswert wären (ja, Minister Spahn hat sich im Wahlkampf jetzt sogar „verplappert“, indem er sagte, dass die Pandemie zahlenmäßig mit Antikörpertests nie enden würde). Nur am Rande: Und die CDU verkauft in ihrem Wahlwerbespot das private Frisieren ohne Hygienekonzept während des „Lockdown“ als Solidaritätsleistung, obwohl ein Besuch im Friseursalon mit durchdachten Hygiene- und Sicherheitsvorkehrungen vermutlich weniger riskant gewesen wäre.
Eine flapsige Bemerkung sei erlaubt: Ich kenne in meiner Umgebung mittlerweile nahezu tausend Personen, die ich für den Medizinnobelpreis vorschlagen möchte – etwa, weil sie mehr wissen als das Robert-Koch-Institut oder ausgebildete Virologen. Die Impfungen haben – anders als konventionelle Impfungen gegen andere Krankheiten – nur eine begrenzte Wirksamkeit, siehe oben. Virologen warnen, dass Langzeitkomplikationen keineswegs unwahrscheinlich seien. Und das Robert-Koch-Institut sagt, dass cancerogene Nebenwirkungen nicht auszuschließen sind. Bei jeder harmlosen Kopfschmerztablette gibt es den Hinweis „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“, bei den neuen Impfstoffen soll auf einmal sogar eine Impfung mehr oder weniger im Vorbeigehen auf dem Baumarktparkplatz oder an der Supermarktkasse möglich sein. Von Anfang an wurde bei der Coronaimpfung nicht mit offenen Karten gespielt, wie Michael Esders konstatiert: „Die Kommunikation zur Impfkampagne schichtete von Beginn an mehrere Motivkomplexe von pragmatisch-hedonistisch bis sublim-moralisch, die zum Teil gleichzeitig aktiviert wurden. Dabei profitierte die Kampagne von den positiven Konnotationen der Begriffe ‚Impfung‘ und ‚Schutzimpfung‘, die eine Kontinuität zum Bewährten suggerieren und die Neuartigkeit – damit auch die Risiken – des genbasierten Verfahrens ausblenden. Den Auftakt bildete der so plumpe wie wirkungsvolle Marketingtrick der künstlichen Verknappung, die mit sprachlichen Mitteln wie den im Frühjahr 2021 lancierten Neologismen ‚Impfneid‘ und ‚Impfdrängler‘ hergestellt wurde.“
Es besteht in einer Krisensituation wie jetzt eine moralische Pflicht – in der Tat: aber nicht zum Impfen, sondern zur sorgfältigen, verantwortlichen, differenzierten ethischen Güterabwägung. Diese moralische Pflicht sollte jeder erfüllen. Die Gemeinschaft aber hat die selbstbestimmte, eigenverantwortliche Entscheidung des Einzelnen zu achten. Dabei haben wir es mit gravierenden Wertkonflikten zu tun. Diese können nur über den Weg der praktischen Konkordanz gelöst werden – und nicht so, dass einzelne Teilhaberechte vollkommen suspendiert werden.
Selbstverständlich besitzt der Staat auch Schutzpflichten. Aber es muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Ansonsten könnte man mit Verweis auf Schutzpflichten, so der frühere Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer, jedes Grundrecht aushebeln. Denn „eine Schippe“ mehr an Schutz und Sicherheit geht immer – aber dann gibt es keine Freiheit mehr. Gesundheitsschutz ist Aufgabe des Staates, ja. Absoluter Gesundheitsschutz (in den Worten der AOK-Werbung: „Alles bleibt anders. Und Gesundheit das Wichtigste.“) gehört nicht zum freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat. Und Widerstand sollte erwachen gegen eine Politik, die nicht rationalen Abwägungen folgt, sondern affektgeleitet nach Sündenböcken sucht, abweichende Überzeugungen verunglimpft, durch ihre Sprung- und Wahnhaftigkeit nahezu unberechenbar geworden ist und die mildere Mittel oder alternative Vorschläge gar nicht mehr zu prüfen bereit ist, was angesichts der gravierenden Freiheitseingriffe ebenfalls politisch eine moralische Pflicht wäre. Über einen Testnachweis in bestimmten sensiblen Bereichen können wir reden. Massenveranstaltungen gehören dazu, das Infektionsrisiko in der Gastronomie wird vermutlich überschätzt. Dass eine völlige Freigabe von Massenveranstaltungen selbst bei einer hohen Impfquote sinnvoll wäre, mag bezweifelt werden.
Für eine 2-G-Regel gibt es überhaupt keine guten Gründe. Tests haben einen Unsicherheitsfaktor, ja. Aber auch Geimpfte können weiterhin Überträger sein, wie etwa Impfdurchbrüche in Diskotheken jetzt zeigen. Um des hohen Gutes der Freiheit willen ist eine Schlechterstellung von Getesteten gegenüber Geimpften nicht zu rechtfertigen, sondern ein Menschenrechtseingriff. Wer jetzt die 2-G-Regel akzeptiert, sollte so ehrlich sein und alsbald auch das überzogene Allgemeine Gleichstellungsgesetz abschaffen.
Überdies muss verwundern, wie schnell Theologen und Sozialethiker jetzt bereit sind, soziale Teilhaberechte zu entziehen, nachdem ethische Hochglanzbegriffe wie Teilhabe, Anerkennung, Partiziption oder Beteiligungsgerechtigkeit in den letzten Jahren geradezu zum fünften Evangelium in Theologie und Kirchen geworden sind. Angesichts dessen bleibt es sehr fraglich, wie stumm (oder sollte ich sagen: kleinlaut?) die sozialethische Disziplin angesichts der aktuellen Politik geworden ist. Ich habe den Verdacht, dass man den Staat als Ausspender aller möglichen sozialen Wohltaten romantisiert hat, den harten Konflikten, die in einer Pandemie zwangsläufig entstehen, aber hilf- und sprachlos gegenübersteht.
Noch ein Wort zu den Kosten, über die gegenwärtig gleichfalls debattiert wird: eine sehr heikle Debatte. Hier nur soviel in Kürze: Soll künftig auch das Motorradfahren (häufig ein gefährliches Hobby ohne zwingendes Mobilitätserfordernis) eingeschränkt werden, wenn Blutkonserven knapp werden? Warum sollen andere für ein solches Wochenendvergnügen zahlen, wenn es zu schweren Unfällen und aufwendigen Operationen kommt? Warum soll die Solidargemeinschaft für Skiunfälle oder Krankheiten zahlen, die sich jemand bei einer Urlaubsfernreise zugezogen hat? Viele weitere Beispiele ließen sich finden. Wenn wir mit dem Argument, warum solle die Gemeinschaft dafür zahlen, auf Suche gehen, werden wir ganz viele Dinge finden, die wir nicht mehr solidarisch umlegen sollten. Ich bezweifle, dass unser Zusammenleben damit an Humanität und Freiheit gewinnt.
Und ein Zweites: Wer über die Kosten der Teststrategie diskutiert, der sollte auch über die Kosten ideologischer Großprojekte der Merkelära nicht schweigen oder über jene Kosten, die der Staat für Bereiche ausgibt, die nicht zu seinen Kernaufgaben gehören. Stattdessen erleben wir schon seit langem einen Staat, der seinen Kernaufgaben im Bereich innerer und äußerer Sicherheit, Katastrophenvorsorge und Zivilschutz nur noch unzureichend nachkommt. Mangelnde Grenzsicherung, ein gescheiterter Bundeswarntag, Versagen im Vorfeld der jüngsten Flutkatastrophe, oder der Niedergang der Bundeswehr sind nur einige Belege für diese Diagnose.
Wenn ein Theologenquartett im vergangenen Jahr für eine „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“ (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2020) plädiert hat, dann geht es um einen Staat, der seine Kernaufgaben robust erfüllt und hierfür auch theologische Rückendeckung verdient, nicht einen Staat, der immer mehr gesellschaftliche Aufgaben an sich zieht, steuert, reguliert und bevormundet. Wenn Kritiker der aktuellen Coronapolitik von einem Staat sprechen, der Freiheitsrechte „nach Gutsherrenart“ zuteilt oder entzieht, dann stecken dahinter ganz konkrete Politikeräußerungen. Söder, um nur ein Beispiel zu nennen, hat schon vor dem Vertrauensbruch vom 10. August erklärt, dass er „Grundrechte zurückgeben“ wolle. Eine solche Politikeräußerung pervertiert den liberalen Rechts- und Verfassungsstaat und dessen Verfassungsordnung. Politiker geben keine Freiheiten zurück, sondern müssen sorgfältig begründen, wenn sie Freiheiten aus gerechten und notwendigen Gründen einschränken. Solche Gründe kann es geben. Aber je länger die Pandemie andauert, desto schlampiger werden die Begründungen der Exekutive für die freiheitseinschränkenden Maßnahmen.
Und die Moral von der Geschicht‘? Zwei sollen am Ende skizziert werden. Die aktuelle Stimmung im Land lässt den Eindruck entstehen, dass die seit den Neunzigerjahren forcierte Erziehung zu Toleranz, Zivilgesellschaft oder Demokratie offenbar wenig fruchtbar oder doch nur aufgesetzt war. Der herrschaftsfreie Diskurs verschwand, als er proklamiert wurde. Es wird viel Kraft und Anstrengung brauchen, die Polarisierung und Spaltung des öffentlichen Diskurses zu überwinden und zu einer rationalen Debatte zurückzukehren. Wir brauchen das streitbare Ringen um das bessere Argument und die beste Lösung. Und wir brauchen die sorgfältige, differenzierte ethische Abwägung. Beides findet sich gegenwärtig häufiger bei konservativen, freiheitlichen oder nationalliberalen Vertretern, weniger bei liberalen. Freiheit und Freiheit sind, wie der aktuelle Coronadiskurs zeigt, keineswegs immer dasselbe.
Zu einer rationalen Politik der Gefahrenabwehr gehört auch die Erkenntnis, dass Biosicherheit, zumal in einer globalisierten Welt, ein fragiles Gut ist: eine Erkenntnis, die im Vergleich zur atomaren Bedrohung auch schon zu Zeiten des Kalten Krieges politisch gern verdrängt wurde. Die Herausforderung, sich gegen bio-technologische Großschadensereignisse, etwa Infektionskrankheiten durch Zoonosen, Laborunfälle oder Bioterrorismus, zu wappnen, wird dem Staat auch „post coronam“ erhalten bleiben. Schon deshalb bleibt es wichtig, die gegenwärtigen Verwerfungen im politischen, medialen und öffentlichen Diskurs aufzuarbeiten:
„Wir brauchen“, so Ulrich Adam (ebd., S. 24 ff.) – „bewährte Handlungsstrategien, die nicht einfach – wie im Fall von Covid-19 – kurzerhand von staatlichen Stellen missachtet und durch ein Regime zentralisierter Bevormundung ersetzt werden können. Unvermeidlich wächst in ernsten Krisenlagen bei den zuständigen Politikern die Versuchung, die Gesellschaft in eine Art kollektiven ABC-Schutzanzug zu pressen. Aber eine solche Anmaßung ist zum Scheitern verurteilt; sie ist und bleibt, was sie schon Ende der 1980er Jahre zu Zeiten des Kalten Krieges war: eine kindlich-naive, wirklichkeitsfremde, hochgefährliche Illusion.“ Aufkeimende „Overkillangst“, hektischer Politaktionismus, ein affektgeleiteter Politikmodus, Diskursverengung, Verunglimpfungsstrategien und die Suche nach Sündenböcken bleiben schlechte Ratgeber, Corona sollte hier als warnender Präzedenzfall dienen. Stattdessen müssen wir den Diskurs führen über Deutungs- und Verhaltenskonzepte, die im Bedrohungsfall ein rationales Handeln ermöglichen und mit den Prinzipien eines freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaates vereinbar sind. Denn wann, wenn nicht in der Krise, erweist sich, ob Verfassungsordnung und gesellschaftliches Ethos tatsächlich tragfähig sind.