Der folgende Beitrag wurde am 23. Juli 2021 als Schulleitungsrede im Rahmen einer feierlichen Zeugnisübergabe am Ende des schulischen Teils der Erzieherausbildung gehalten.
Ein in vielerlei Hinsicht denkwürdiges und besonderes Schuljahr liegt hinter uns. Gleiches gilt für Ihre Arbeit in der Praxis. Aus der schulischen Ausbildung, die Sie heute abschließen, wissen Sie, wie wichtig die Frage nach Nähe und Distanz, nach dem ausgewogenen Verhältnis von Nähe und Distanz für den pädagogischen Beruf ist. Die pandemiebedingten Einschränkungen haben vielfach Distanz erzwungen. Und auf diese Weise konnte der besondere Wert von Nähe, Beziehung und Präsenz, die für pädagogische Arbeit unverzichtbar sind, wenn auch schmerzlich, aufs Neue bewusst werden.
Dennoch gingen Schule und Ausbildung weiter, wenn auch mit deutlichen Einschränkungen. Sie konnten Ihre schulische Ausbildung erfolgreich abschließen. Und das wollen wir heute im feierlichen.
Freispielzeit am Morgen – plötzlich gibt es Streit zwischen zwei Jungen, die sich um ein Spielzeugauto balgen. Die Erzieherin muss schlichten: „Ich will auch mal. Der hat schon die ganze Zeit das Auto“, mault einer der beiden Kontrahenten. Oder gemeinsames Essen am Nachmittag: Ein Kind in der Gruppe feiert Geburtstag, der Kuchen ist aufzuteilen. Soll jedes Kind ein gleich großes Stück vom Kuchen erhalten? Oder sollen die kleineren Kinder weniger große Stücke als die älteren in der Gruppe erhalten? – Die Beispiele zeigen: Immer wieder stellen sich im Kindergartenalltag Gerechtigkeitsfragen. Die Kindergartengruppe ist ein wichtiger Ort, an dem Kinder schon sehr früh Gerechtigkeitsprobleme erleben. Und die Erzieherin spielt dabei eine wichtige Rolle: An ihrem Vorbild können die Kinder konkret erleben, wie im sozialen Miteinander mit Gerechtigkeitsproblemen umgegangen werden kann.
Im Kindergartenalltag stellen sich immer wieder Gerechtigkeitsprobleme, die von den Kindern und pädagogischen Fachkräften gelöst werden müssen. Die Kinder erleben in der Gruppe, wie reale Verteilungsfragen gelöst werden und nach welchen Kriterien dabei vorgegangen wird.
Zum pädagogischen Auftrag von Kindertageseinrichtungen gehört es, dass die Kinder mit diesen Erfahrungen nicht allein gelassen werden. Im Rahmen ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags sollen die Erzieherinnen und Erzieher den Kindern helfen, diese Erfahrungen zu ordnen, zu verarbeiten und zu reflektieren. So sollen die Kinder schrittweise auf das Leben in der Gesellschaft vorbereitet werden. Sie sollen in ihrer Moralentwicklung gefördert werden und immer stärker jene Fähigkeiten erwerben, die notwendig sind, um Gerechtigkeitsprobleme zu erkennen, sich damit auseinanderzusetzen und moralische Konflikte konstruktiv zu lösen.
Kurz gesagt: Es geht um die Befähigung zu Mündigkeit und Selbständigkeit. Sie als angehende Erzieherinnen und Erzieher haben die wichtige Aufgabe, Kinder in den entscheidenden frühen Jahren ihrer Entwicklung dabei zu begleiten, ihre Fähigkeit zum Freiheitsgebrauch und zur Verantwortungsübernahme zunehmend auszubauen und weiterzuentwickeln.
Wird unser Bildungs- und Erziehungssystem, werden unsere Kindertageseinrichtungen diesen Ansprüchen gerecht? Die Frage kann nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden, und schon gar nicht abschließend, ein für alle Mal. Gerechtigkeit ist dynamisch zu denken. Das heißt: Es bleibt eine fortdauernde Aufgabe, die bestehenden Institutionen immer wieder einer beständigen, nicht abschließbaren Selbstüberprüfung zu unterziehen. Ein vollständig „gerechtes“ Bildungs- und Erziehungssystem – wie immer man sich dieses auch vorzustellen hätte – wäre notgedrungen statisch und nicht mehr verbesserungsfähig.
Die entscheidende Frage lautet nicht: Wann ist ein Kindergarten gerecht, wann ist eine Pädagogische Fachkraft gerecht? Vielmehr sollte gefragt werden: Wie kann ein Kindergarten, wie können die Pädagogischen Fachkräfte, die dort arbeiten, den einzelnen Kindern gerecht werden?
Ich hoffe, Sie haben an der Fachschule und am Lernort Praxis das nötige Rüstzeug erhalten, diesen und anderen Fragen eigenständig nachzugehen und eigene Antworten zu finden. Ihr Abschlusszeugnis dokumentiert dies. Wir sind sicher, dass sie den Ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen gerecht werden können. Unsere herzlichen Glück- und Segenswünsche begleiten Sie in Ihre neuen Aufgaben, die jetzt kommen werden.