„Europäischer Gerichtshof hält Corona-Impfpflicht für zulässig.“ So oder ähnlich titelten Medien in der vergangenen Woche. Es geht um die Klage einer Familie gegen den tschechischen Staat. Ganz so einfach ist es zwar nicht. Die Impfpflicht wird nur unter ganz bestimmten Bedingungen für zulässig erklärt. Dennoch lädt das Urteil dazu ein, Fragen zu stellen – zumal das Urteil andere Regierungen, auch in Deutschland, einladen könnte, ebenfalls eine Impfpflicht politisch durchzusetzen.
Was mit diesem Urteil passiert ist ein weiterer Schritt bei der schleichenden Abkehr vom Modell des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates in Europa, hin zu einem autoritären Zwangsstaat – oder vielleicht sogar: die Abkehr vom Rechtsstaat überhaupt!? Nur ein paar schlaglichtartige Anmerkungen.
Gerichtsschelte ist problematisch. Aber diese muss dort sein, wo es gar nicht mehr um Recht geht. Das Urteil des europäischen Gerichtshofes hat mehr mit Aktivismus als Rechtsprechung zu tun. Hier passiert Ähnliches wie im Bereich der Wissenschaft: Widerstand kann dort geboten sein, wo „Cancel Culture“ Wissenschaftsfreiheit für Aktivitäten beansprucht, die sich schon längst von den Prinzipien der Wissenschaft entfernt haben. Im Vereinigten Königreich ist derzeit zu erleben, wie die Regierung mittlerweile eingreift, damit die Wissenschaftsfreiheit an den Universitäten des eigenen Landes wieder in ihr Recht eingesetzt wird – gewiss: Es bleibt eine Gratwanderung, wenn die Exekutive dies tut.
Das Urteil zeigt, wohin es führt, wenn Aktivisten, hierzulande bis in die einst konservativen C-Parteien, die Kinderrechte einseitig hochhängen: Die Menschenwürde wird abwägbar. Kinder besitzen dann offenbar mehr Menschenwürde als andere, die sich nicht impfen lassen wollen. Das ist das Ende der Menschenwürdegarantie. Einer verantwortlichen Güterabwägung wird von vornherein zugunsten einer Abwägung der Menschenwürde der Boden entzogen. Genau eine solche Güterabwägung bleibt aber notwendig: Denn die körperliche Unversehrtheit derjenigen, die sich selbstbestimmt gegen eine Impfung entscheiden, hat gleichfalls Grundrechtsrang. Dass diese freie Entscheidung geschützt bleiben muss, ist Ausfluss der Menschenwürde. Selbstverständlich müssen bei einer Güter- und Übelabwägung auch Gemeinwohlbelange berücksichtigt werden. Das individuelle Grund- und Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und auf Verfügung über den eigenen Körper aber kollektiv zu verrechnen, kommt einem kollektivistischen Sozialismus gleich.
Die Begründung des Urteils – jedenfalls soweit diese aus der Presse zu verfolgen war – ist hanebüchen: Unter dem nebulösen Deckmantel einer „demokratischen Gesellschaft“ werden zentrale Menschenrechte ausgehebelt. Wenn dem so ist, hat Demokratie offenbar nichts mehr mit Recht zu tun. Wie anders klingt es in unserer nationalen Tradition, die immer mehr auf dem Altar Europas geopfert wird: Einigkeit und Recht und Freiheit. Eine Demokratie, aus der das Recht und die Freiheit herausgebrochen werden, ist keine Demokratie mehr, sondern ein autoritärer Zwangsstaat, eben ohne Selbst- und Mitbestimmung.
Europäische Institutionen, die nicht mehr Recht und Freiheit wahren, werden keine Zukunft haben. Was sich hier zeigt, ist nicht mehr ein europäisches Freiheitsprojekt, sondern die Morgenröte eines zentralistisch-autoritären Zwangsstaates. Vor diesem Hintergrund erscheinen Forderungen nach einem institutionellen Neuanfang der europäischen Einigung, wie sie sowohl von rechts (AfD) als auch links (Sahra Wagenknecht) erhoben werden, durchaus in einem freiheitlichen Licht.