Das Museum Unterlinden im elsässischen Collmar ist nach dem Louvre in Paris das Museum Frankreichs mit der zweithöchsten Besucherzahl. Seine Berühmtheit verdankt das Museum dem Isenheimer Altar, den Matthias Grünewald einst für das Antoniterkloster geschaffen hat. In tiefster Dunkelheit wird hier die Kreuzigung am Karfreitag dargestellt. Alles Leben scheint aus der Welt genommen zu sein, alle Hoffnung erstorben, der Schmerz übermächtig.
Umso stärker hebt sich das Osterbild des Isenheimer Altars davon ab. Ein Lichtstrahl hat die Wächter getroffen. Doch sie stürzen nicht einfach zu Boden. Es zieht ihnen eher den Boden unter den Füßen weg. Und über dieser Szenerie fährt Jesus aus dem Grab in die Höhe. Die weiß-grauen Leinentücher werden gleichsam mit in die Höhe gezogen und wandeln sich in ein leuchtendes Rot und Gelb. Ein Akt des Triumphes über alle Erdenschwere.
Doch was streckt der Auferstandene dem Betrachter mit seinen Handflächen entgegen? Was sehen wir an seinen Füßen? Es sind die Wundmale des am Karfreitag Gekreuzigten. Sie sind geblieben.
Für den christlichen Glauben ist der Mensch nicht einfach austauschbar. Der Mensch ist Gottes Ebenbild, ausgestattet mit einer einzigartigen Würde. Er ist Person, von Gott beim Namen gerufen und geliebt. Diese Person geht im Tod nicht einfach unter. Wenn Christen an die Auferstehung des Fleisches glauben, dann glauben wir, dass das neue Leben, das uns verheißen ist, der ganzen Person gilt, mit Haut und Haar – und eben auch mit unserer unverwechselbaren Lebensgeschichte.
Hierzu gehören dann auch die schmerzlichen Erfahrungen: die Wunden, die uns zugefügt wurden, aber auch die Wunden, die wir anderen zugefügt haben. Letztere werden uns möglicherweise umso schmerzlicher bewusst, je älter wir werden. Bei manchem werden wir sogar wünschen, wir könnten diesen oder jenen Punkt gänzlich aus unserer Lebensgeschichte streichen. Aber so einfach ist es nicht. Und so einfach macht es uns auch Gott nicht.
Der Auferstandene konfrontiert uns mit seinen Wunden, die wir Menschen ihm geschlagen haben – am Kreuz, als der Gottes Sohn zwischen Erde und Himmel hing, als die Welt still zu stehen schien, als Dunkelheit sich der Erde bemächtigt hatte: ein gekreuzigter Gott – wer hätte vorher so etwas zu denken gewagt!?
Auch unser Tod wird die schmerzlichen Erinnerungen nicht einfach ausradieren, im Guten wie im Schlechten. An Ostern geht es nicht um einen Schlussstrich, sondern um Verwandlung und Neuwerden. Wir müssen uns der Geschichte stellen, die wir mitbringen. Wie das im Einzelnen sein wird, wissen wir nicht.
Die Wunden des Auferstandenen rufen nicht mehr Ekel und Abscheu hervor. Sie sind verwandelt im Licht Gottes. Die Wundmale der Peinigung und der Folter, des Hasses und des Verrats, der Demütigung und der Erniedrigung, der Enttäuschung und der Lästerung leuchten nun auf einmal wie Edelsteine. Sie werden zum Bild der Hoffnung und zum Ausdruck eines neuen, unzerstörbaren Lebens. Für Menschen ist das unmöglich. Allein Gottes Barmherzigkeit und Gottes Liebe vermag so etwas zu vollbringen – wider alle Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung, wider alle Zerstörung und Sinnlosigkeit im menschlichen Leben.