Rezension: Kultuspolitik und Identitätssuche – am Beispiel der Hymnenfrage nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Deutschen auf der Suche nach einer Hymne …

Clemens Escher: „Deutschland, Deutschland, Du mein alles!“ Die Deutschen auf der Suche nach einer neuen Hymne 1949 – 1952, Leiden/Boston: Ferdinand Schöningh 2017, 364 Seiten.

Eine Dissertation, die an der Technischen Universität Berlin entstanden ist, zeichnet nach, wie kompliziert sich in der jungen Bundesrepublik die Suche nach einer Nationalhymne gestaltete. Der Parlamentarische Rat hatte diese Frage offen gelassen und selbst auf das Studentenlied „Ich hab mich ergeben“ aus der Einigungsbewegung des anfänglichen neunzehnten Jahrhunderts zurückgegriffen. Bekanntlich wollte der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, eine gänzlich neue Hymne schaffen. Die von Rudolf Alexander Schröder verfasste, auch im Kommersbuch zu findende Hymne „Land des Glaubens, deutsches Land“ fiel bei der Bevölkerung allerdings durch. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sich die Gruppe der Lehrer noch verhältnismäßig viel mit diesem neuen Hymnenvorschlag beschäftigte und Heuss einiges dafür tat, die Schulen in der Hymnenfrage pädagogisch in die Pflicht zu nehmen. Weniger bekannt ist, dass die Bundesbürger in der Folge selber dichteten. Mehr als sechshundert Hymnenvorschläge gingen im Bundespräsidialamt ein.

Der Umgang mit nationalen Symbolen ist ein wichtiger Indikator für die Identitätskultur eines Landes und den Zustand seines staatsbürgerlichen Denkens. Insofern ist es lohnend, die damalige Hymnendebatte aus kulturgeschichtlicher Sicht nachzuzeichnen. Clemens Escher, als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag tätig, hat die Eingaben an den Bundespräsidenten oder andere staatliche Stellen ausgewertet und in kategorisierbare Topoi zusammengefasst. Auf diese Weise wird sichtbar, welche Themen die Staatsbürger in den Anfangsjahren der Nachkriegsdemokratie bewegten. Es geht um Nähe oder Distanz zu den Erfahrungen von Weimar, um Schuld und Verdrängung nach Ende des Nationalsozialismus, um den Verlust der ostdeutschen Gebiete und Vertreibung, um Antikommunismus und Föderalismus, um Friedenssehnsucht und Wiederbewaffnung, um das Verhältnis der Generationen und Geschlechter oder um das Verhältnis von Nation und Religion.

Manches kommt nicht überraschend. Doch zeigt die detaillierte Auswertung der Briefe, wie sich bereits in den Anfangsjahren der Nachkriegsdemokratie Themen und Entwicklungen ankündigen, die erst später in der öffentlichen Debatte an Fahrt gewinnen sollten. Hier nur zwei Beispiele, etwa Deutschland als neues Missionsland: Religion spielte eine wichtige Rolle, mit den erlittenen Verlusten umzugehen und den Wiederaufbau zu bewältigen: „Neues Deutschland nun erwache, / schauet hoch zum Himmel empor, / Glaubet alle Gott den Gerechten, / Er ist unsre Rechte Hand: / ‚Gott beschütze, Gott behüte, unser Volk und Vaterland‘!“ Doch zeigen sich bereits Abbrüche einer gefestigten konfessionellen Tradition. Ruth Digmas aus Freiburg verglich die Herausforderungen im neuen Staat mit der Missionsarbeit des Paulus in Athen. Oder man versuchte, die Gefahr eines neuerlichen Nationalismus durch föderale und europäische Töne einzuhegen – so etwa Hans Heiland aus Bergisch Gladbach, wenn er dichtete: „Brüderlich loyal vereinigt sind mit ihrer Eigenart, / Uns’re schönen deutschen Länder rechtmäßig zum Bundesstaat. / Gib O Herr uns Allerwege: Mut und Kraft zu edler Tat, / Daß die Herzen höher schlagen, blühe deutscher Bundesstaat.“ Der Heidelberger Karl Heinz schlug vor: „Deutschland als ein Teil Europas / Steht für die Gesamtheit ein / Deutschland will die Volksversöhnung / Aber gleichberechtigt sein.“

Am Ende siegte dann doch das Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben, das der erste Bundespräsident angesichts der Gebietsverluste als „Irredenta-Hymne“ verworfen hatte. Nur am Rande: Es gab auch Vorschläge, die geographischen Grenzen, die Hoffmann von Fallersleben gezogen hatte, anzupassen – Karl Müller aus Baden-Baden wollte hinfort singen „Von der Ems bis an die Memel, von dem Bodensee zum Belt“, ein Bürger aus Esslingen von der „Saar bis an die Memel“ oder Georg Mißbach aus Sinsheim: „Von dem Rhein bis an die Memel / Von der Zugspitz bis zum Belt“. Die Memel blieb in der Regel bestehen, Maas, Belt oder Etsch wurden ausgetauscht – nach einer Allensbachumfrage von 1954 waren die geographischen Kenntnisse der Bundesbürger beim Fluss im Osten im Gegensatz zu den drei anderen Gewässern am besten; fünfundvierzig Prozent konnten ihn richtig einordnen. Franz Hagemeier aus Hamburg-Altona war nur eine Stimme, die sich für das Lied der Deutschen stark machte; er schrieb an den Deutschen Bundestag: „Hoffmanns Ruf und Geisteshaltung ward durch jene kriegslüsternen und überheblichen Bürgerlichen geschändet. Zur Ehrenrettung des großen Revolutionärs und Republikaners müssen wir immer wieder darauf hinweisen, daß er ein furchtloser, unbeugsamer und leidenschaftlicher Kämpfer für die Rechte des Volkes gegen Fürsten und Adlige war.“

Escher bietet einen gut lesbaren, sprachlich ansprechenden Einblick in die kollektive Gemütslage der Deutschen in den Aufbaujahren, auch wenn sich der Autor nicht ganz von bundesrepublikanischem Schulwissen freimachen kann. So schimmert zwischen den Zeilen immer mal wieder eine allzu vorschnelle Gleichsetzung von Nationalismus und Nationalstaat oder ein unkritisches Verständnis von Säkularisierung und Modernisierung durch. Auch ist fraglich, ob Eingaben, die dem Parlamentarischen Rat Zurückhaltung in der Hymnenfrage auferlegen wollten, wirklich zuvorderst „postnational“ motiviert waren; möglicherweise stand im Gegenteil eher die Sorge im Hintergrund, die Teilung der Nation vorschnell zu zementieren.

Am Ende diagnostiziert der Historiker eine „Epochenverschleppung“, die sich bis heute bemerkbar mache: „Während Restauration ein statischer Terminus ist, handelt es sich bei der Epochenverschleppung um eine anthropologische Grundkonstante von großer Kraft. So ist es heutzutage beliebt, die Bundesrepublik bis zum Annus mirabilis 1989 als ein gelobtes Land zu sehen – was sie vollgestopft von atomaren Sprengköpfen und einer innerdeutschen Grenze niemals sein konnte“ (S. 275). Der Band ordnet sich damit in den Forschungstrend ein, in der Ideengeschichte der Bundesrepublik stärker Kontinuitäten als eine „Stunde Null“ auszumachen. Es sei um „Wiederaufbau“ nicht „Neuaufbau“ gegangen. Der Alleinvertretungsanspruch, so Escher, des westdeutschen Teilstaates „bestand auch gegenüber der Geschichte“ (S. 273). Zwar konnte man nicht bruchlos an das Frühere anknüpfen, doch warf man auch nicht alle Mythen von vornherein über Bord – das zeigt der Hymnenstreit sehr deutlich. Für Escher ging die Epochenverschleppung, die sich in starken Bezügen auf eine imaginierte Welt äußerte (beispielhaft erwähnt er die Heimatfilme der Fünfzigerjahre) mit einem Hang zur Entschleunigung einher Man sehnte sich nach Beruhigung und Komplexitätsvermeidung. Der Aufbau eines immer engmaschiger gewordenen Sozialstaates findet hier seine Wurzeln. All dies änderte sich dann mit den Debatten der Sechzigerjahre … – aber das ist ein anderes Kapitel.

Einen kurzen Ausblick wagt Escher am Ende doch noch: Auch aus den Jahren von 1972 bis 1990 gibt es zahlreiche Bürgerbriefe zur Hymnenfrage. Vielleicht werden auch diese einmal wissenschaftlich sorgfältig ausgewertet. Ein Brief an die frei gewählte Volkskammer der DDR dient Escher als Beleg, dass der Versuch, „Geschichte von unten“ zu schreiben, auch seine deutlichen Grenzen hat – vorgeschlagen wurde folgende Mischfassung einer Hymne des wiedervereinigten Deutschlands: „Einigkeit und Recht und Freiheit / Und der Zukunft zugewandt / Danach lasst uns alle streben / Dienend unser’m Vaterland.“ Am Ende entschieden sich Bundespräsident und Bundeskanzler dann doch wieder für das „Lied der Deutschen“ als Nationalhymne, allerdings verkürzt allein auf die dritte Strophe.

Neuerscheinung: Kontroversen der Migrations- und Integrationspolitik

Wie verändert der hohe Migrationsdruck unser Zusammenleben? Wie sollen Staat und Gesellschaft darauf reagieren? Welchen Stellenwert hat nationale Identität in einer globalisierten Welt? Was kann die Schule zur Integration beitragen? Wo liegen pädagogische Chancen und Grenzen, einen Beitrag zur notwendigen gesellschaftlichen Integration zu leisten? …

Ein neuer Tagungsband aus der Reihe „Forum Sozialethik“ beschäftigt sich mit Kontroversen der Migrations- und Integrationspolitik. Dabei geht es auch um bildungspolitische und bildungsethische Streitpunkte. Die Herausgeber haben die zwanzig Beiträge des Bandes unter vier gebündelt:

  • Flucht gestalten?
  • Gelingende Integration?
  • Gesellschaftlicher Zusammenhalt?
  • Ethisch gefordert, politisch unmöglich?

 

Eine Besonderheit ist ein sozialethisches Streitgespräch, das in vier Teilen den Band durchzieht. Andreas Fisch, Referent im Sozialinstitut Kommende des Erzbistums Paderborn, und Axel Bernd Kunze, Schulleiter und Privatdozent für Erziehungswissenschaft, diskutieren kontrovers über migrations-, bildungs- und identitätspolitische Herausforderungen, die sich aus der gegenwärtigen Flüchtlingskrise ergeben (die Fragen stellte Myriam Ueberbach):

  • Teil I: Politik und Kirchen als geforderte Akteure in einer Einwanderungsgesellschaft
  • Teil II: Die Rolle von Bildung und Bildungseinrichtungen bei der Integration
  • Teil III: Zwischen Bereicherung und Bedrohung. Bewertungen von Zuwanderung
  • Teil IV: Migration als Irritation von Identität. Bedingungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt

Pointiert werden die politisch-gesellschaftlichen Konfliktlagen deutlich, vor denen Deutschland in den kommenden Jahren stehen wird. Die Herausgeber schreiben in der Einleitung:

„Eine Tagung besteht nicht nur aus ihren Beiträgen, sondern lebt auch von den vielen Gesprächen und Diskussionen dazwischen. Eines dieser Gespräche war ein Tischgespräch zwischen Andreas Fisch und Axel Bernd Kunze. Es war der Ausgangspunkt für die über Monate hinweg entstandenen Streitgespräche. […] Diese Streitgespräche fügen sich in die einzelnen thematischen Abschnitte ein und veranschaulichen Teile von Kontroversen, wie sie mit gegensätzlichen Zugängen und Sichtweisen derzeit auch in unserer Gesellschaft zu finden sind.“

Die Diskussion ist eröffnet … – und wird ganz sicher auch nach der kurz bevorstehenden Bundestagswahl weitergehen (müssen).

 

Andreas Fisch, Myriam Ueberbach, Prisca Patenge, Dominik Ritter (Hgg.):

Zuflucht – Zusammenleben – Zugehörigkeit?

Kontroversen der Migrations- und Integrationspolitik interdisziplinär beleuchtet

(Forum Sozialethik; Bd. 18), Münster (Westf.): Aschendorff 2017.

 

Klappentext:

Etwa 1,2 Millionen Menschen haben in den beiden Jahren 2015/2016 Zuflucht in Deutschland gesucht. Immer noch ist das Engagement der Freiwilligen ungebrochen, doch es haben sich Gegenbewegungen zur Willkommenskultur herausgebildet. Einfache, populistische Antworten auf komplexe Fragen prägen das Meinungsbild. Das Finden und die Akzeptanz von langfristigen Lösungen setzt jedoch gesellschaftliche Auseinandersetzungen und normative Vergewisserungen zur Herausforderung der Migration voraus.
• Wie lassen sich die Forderungen nach Abschottung, Grenzschließung, Obergrenzen mit dem menschenrechtlichen Anspruch des Asylrechts in Einklang bringen?
• Welche ethischen Leitlinien lassen sich entwickeln, wenn in Europa eine gerechte Verteilung bei der Aufnahme von Geflüchteten politisch nicht erreichbar ist?
• Wie können Fluchtursachen bekämpft und die Zahl der Flüchtlinge weltweit wirkungsvoll reduziert werden?
• Wie angemessen sind die Sorgen um höhere Kriminalität und Terror durch Geflüchtete?
• Wie verschärft sich die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt und bei einfachen Arbeitsplätzen?
• Welche Voraussetzungen benötigt eine gelingende Integration? Welche Rolle spielen dabei Religion, Verfassungspatriotismus, Gastfreundschaft und Leitkultur?
• Wie entwickeln sich Identität und Zusammenhalt in einer Einwanderungsgesellschaft und was gefährdet diese?
Diese ethisch höchst brisanten Themenkomplexe sind Gegenstand dieses Bandes und werden sozialethisch, interdisziplinär und stets kontrovers diskutiert, um zu sachlichen Einschätzungen und zu konstruktiven Lösungsansätzen zu gelangen.

Noch einmal gelesen: Guttenbergs Fall

Roland Preuß/Tanjev Schultz: Guttenbergs Fall. Der Skandal und seine Folgen für Politik und Gesellschaft, Gütersloh 2011.

Roland Preuß und Tanjev Schultz haben zum „Bücherherbst“ 2011 einen Band mit dem durchaus doppeldeutigen Titel „Guttenbergs Fall“ vorgelegt. Der einstige Hoffnungsträger der CSU, Karl-Theodor zu Guttenberg, war im Frühjahr desselben Jahres vom Amt des Verteidigungsministers zurückgetreten, nachdem seine juristische Dissertation unter Plagiatsverdacht geraten war. Im Herbst 2011 wurde das Verfahren um seine gefälschte Doktorarbeit gegen Zahlung einer Spende eingestellt.

Die beiden Redakteure der „Süddeutschen Zeitung“ schreiben am Ende ihres Buches: „Ein Comeback braucht Zeit. Der Skandal muss verarbeitet und aufgearbeitet werden. Bei Guttenberg ist da noch einiges zu tun. Er hat die ihm vorgeworfene Täuschung nicht zugegeben, er hat sich seit dem Bayreuther Bericht und bis zur Drucklegung dieses Buches dazu nicht geäußert. Mehrere Anfragen der Autoren dieser Zeilen, über die Plagiatsaffäre zu sprechen, ließ er unbeantwortet. Das lässt die Wunden nicht verheilen“ (S. 177). Inzwischen hat Guttenberg dies nachgeholt, wenn auch in einem eigenen Interviewbuch mit Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“, die entscheidende Passagen als Vorabdruck veröffentlichte, und zwar unter der Titelschlagzeile: „Mein ungeheuerlicher Fehler“.

Ob und in welcher Form das politische Comeback gelingt, ist heute noch nicht abzusehen. Ob die gezeigte Reue echt ist, soll an dieser Stelle ebenfalls nicht verhandelt werden.

Ein schaler Beigeschmack ist allerdings schon heute spürbar: Denn von einer Aufarbeitung des wissenschaftlichen Schadens, den Guttenbergs „Fall“ angerichtet hat, kann längst keine Rede sein. In der Politik ist man schnell zur Tagesordnung übergegangen. Die Plagiatsfälle weiterer Politiker wurden eher als Marginalien abgehandelt, selbst für den Posten des Kultusministers in einer bürgerlichen Koalition scheint eine fragwürdige Dissertation kein Karrierehindernis zu sein. Und auch die Justiz hat die Plagiatsaffäre des oberfränkischen Freiherrn vorrangig als Wirtschaftsdelikt abgehandelt und festgestellt, dass der entstandene wirtschaftliche Schaden eher gering sei.

Größer allerdings ist der kulturelle Schaden, den der Fall Guttenberg und das Verhalten der Unionsparteien, nicht zuletzt der Kanzlerin, angerichtet haben. Nur lässt sich der nicht so ohne Weiteres in Euro und Cent berechnen. Eine Politik, die wissenschaftliches Fehlverhalten und den Diebstahl geistigen Eigentums zum Kavaliersdelikt verniedlicht, untergräbt auf Dauer ihr eigenes Fundament. Sie zerstört auf Dauer jenes Ethos, auf das unser Gemeinwesen unverzichtbar angewiesen ist. Demokratie und Rechtsstaat leben von Werthaltungen und Tugenden, die politikimmanent allein nicht gesichert werden können.

Der Politikredakteur Preuß und sein Kollege aus dem Bildungsressort, Schultz, leisteten journalistisch Schützenhilfe, als Wissenschaftler auf die Plagiate in Guttenbergs Dissertation aufmerksam wurden und erkannten, wie heiß dieser Fall werden würde. Der Stein kam ins Rollen, die Internetgemeinde tat dann mit der Internetseite „GuttenPlag“ das Ihrige dazu. Im Nachgang bleiben zahlreiche Fragen: Warum konnte sich Joschka Fischer, nachdem seien einstige Prügelattacke bekannt geworden war, halten, Guttenberg aber nicht? Warum hat Guttenberg die Gefahren einer Skandalisierung in seinem Fall unterschätzt? Die beiden Journalisten sind der Überzeugung, dass es sich in diesem Fall nicht um einen Medienkonflikt gehandelt habe: „Es liegt daran, dass zu viele Leute in Guttenbergs eigenem Lager zutiefst irritiert sind, von dem was da ans Licht gekommen ist. Guttenberg hat den Rückhalt bei wichtigen politischen Weggefährten verloren – bis hinein in die Bundesregierung“ (S. 26).

Auch die Kanzlerin hat sich anfangs in der Affäre verrechnet: „Merkel zeigt kein Gespür für die Schwere der Täuschungen. Sie unterschätzt die Empörung an den Universitäten“ (S. 86). Der Philosoph Jürgen Habermas fällte Anfang April in der „Süddeutschen Zeitung“ über sie ein vernichtendes Urteil, wie Preuß und Schultz erinnern: „Kühl kalkulierend hat sie für ein paar Silberlinge, die sie an den Wahlurnen dann doch nicht hat einstreichen können, das rechtsstaatliche Amtsverständnis kassiert“ (zitiert nach Preuß/Schultz, S. 86).

Der Ruf der Universitäten mag nicht mehr der beste sein. In einem Land mit hoher und weiter steigender Akademikerquote entwertet man jedoch nicht ungestraft akademische Titel. Dies hätte eine Politikerin wie Angela Merkel wissen können – wenn schon nicht aus Einsicht, dann wenigstens aus Machtinstinkt heraus. Spätestens als Doktoranden Mitte März 2011 einen Offenen Brief an Merkel initiierten, der schon bald vierundsechzigtausend Unterschriften zählte zeigte sich, dass Guttenberg nicht mehr zu halten war.

Eine von Bonn aus gestartete „Erklärung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern zu den Standards akademischer Prüfungen“, die der Verfasser selbst mitunterzeichnet hat, wird im Anhang des Bandes neben weiteren Dokumenten zwar abgedruckt, im Buch aber leider nur als Marginalie erwähnt. Dabei handelt es sich bei diesem Dokument um einen jener seltenen Fälle der letzten zwei Jahrzehnte, in denen die von überhasteten Dauerreformen, Fehlsteuerungseffekten, Dgradierung und Unterausstattung gebeutelte Wissenschaft einmal die Kraft zum geschlossenen Widerspruch aufgebracht hat.

Diese Beobachtung lenkt die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik: Warum sind Wissenschaftler trotz des allseits an den Universitäten spürbaren Unmuts politisch kaum handlungsfähig? Welche Folgen für das Promotionswesen sind aus den Plagiatsaffären der vergangenen Jahre zu ziehen? Wo müssen die Universitäten sich an die eigene Nase fassen, wo muss aber auch die Wissenschaftspolitik umsteuern? Wer Universitäten für Promotionen leistungsabhängige Mittel zuteilt, muss sich nicht unbedingt wundern, wenn deren Zahl steigt, auch wenn die Qualitätsstandards nicht immer eingehalten werden. Gerade angesichts des bevorstehenden, von der Professorenschaft aber noch weitgehend verdrängten Umbaus der Promotion deutschen Zuschnitts, die als eigenständige wissenschaftliche Leistung konzipiert ist, zum konsekutiven dritten Studienabschnitt, der mit einem „PhD“ abschließt, wäre es notwendig, über diese Fragen gezielt nachzudenken.

Was bleibt? – Die Affäre Guttenberg hat die Politik zunächst einmal entzaubert. Nicht mehr der charismatische, glamouröse Shootingstar, der sich selbst inszeniert, sondern der solide Politarbeiter ist in der Union wieder gefragt. Das muss allerdings nicht so bleiben, wenn die etablierten Parteien weitere an Bindekraft verlieren und der Unmut an ihnen wächst. In postdemokratischen Zeiten, die gegenwärtig gern beschworen werden, kann ein Selbstvermarkter wie Guttenberg schnell wieder einmal populär werden.

Vorerst hat die Wissenschaft gesiegt. Der Versuch der politischen Klasse, die Plagiatsaffäre zur privaten Bagatelle herunterzuspielen, die durch die Arbeit des (keinesfalls unumstrittenen) Ministers mehr als aufgewogen werde, ist nicht aufgegangen. Vor einer ehrlichen Aufarbeitung dieser Affäre, die damit nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein politischer Skandal war, hat sich die Politik aber gedrückt. Die bürgerliche Fassade der Politik hat deutlich Risse bekommen. Und so bleibt etwas hängen, nicht nur an Guttenberg – gleich, ob dessen politisches Comeback gelingen wird oder nicht: „Guttenbergs Plagiate waren mehr als nur eine Fußnote in der Geschichte des Landes. Sie waren auch mehr als nur eine kleine Schlamperei. Guttenberg hat die Wissenschaft und die Öffentlichkeit getäuscht. Er hat sich unmöglich benommen. Der Skandal hat Charaktermängel offenbart, vor allem beim Umgang mit berechtigter Kritik“ (S. 27).

Dennoch hat der Fall Guttenberg gezeigt, wie gefährdet das wissenschaftliche Ethos inzwischen ist und wie wenig Wertschätzung wissenschaftliche Leistung noch genießt. Beides zu verteidigen und hochzuhalten, wird künftig nicht zuletzt eine wichtige Bildungs- und Erziehungsaufgabe sein. Das sind wir unserer Tradition schuldig. Ohne den mutigen Kampf um die Freiheit im neunzehnten Jahrhundert und damit auch um die akademische Freiheit und den Schutz geistigen Eigentums wäre unser heutiger Rechts- und Verfassungsstaat, wären auch unsere Universitäten mit ihrer grundrechtlich geschützten Freiheit von Forschung und Lehre nicht denkbar. Wir tun gut daran, dieses Erbe nicht zu verspielen – um der Leistungsfähigkeit und intellektuellen Vitalität unseres Landes willen.

Erstveröffentlichung: Die Schwarzburg 121 (2012), H. 1, S. 25 – 27.

Rezension: Gender – Theorie oder Ideologie?

„Ist Gender nun eine Theorie oder Ideologie?

Möglicherweise ist diese Alternative gar nicht zu entscheiden. Denn wenn wir den dialektischen Charakter der Aufklärung ernstnehmen, lassen sich Ideologien nicht prinzipiell von „Nichtideologien“ abgrenzen. Jede Form der Aufklärung bewegt sich weiterhin auf dem Boden historischer Situativität. Vielmehr bezeichnet „Ideologie“ einen besonderen Modus des Diskursgebrauchs. Jeder Diskurs, der politisch mobilisieren will, gerät in die Gefahr, ideologisch zu werden. Denn wer mobilisiert, spitzt zu, vereinfacht und instrumentalisiert. Hierfür bieten auch die beiden Bände einiges an Anschauungsmaterial. Im politischen Diskurs werden die konzeptuelle Dimension und analytische Kraft in Anspruch genommner Konzepte leicht reduziert zugunsten ihrer Tauglichkeit dafür, eigene Ansprüche zu untermauern und durchzusetzen. Kein Denksystem ist davor geschützt, dies gilt sowohl für die Kritik als auch die Verteidigung des Bestehenden.

Auch der Genderdiskurs vermag sich gegen eine solche Gebrauchsweise nicht zu wehren. Denn Diskurse sind keine Subjekte. Vielmehr sind es die Diskursakteure, die selbst im Modus der Ideologie an der welterschließenden Funktion des beanspruchten Gespräches festhalten. Übersehen wird dabei schnell der Hang mobilisierender Diskurse, sich selbst gegen Kritiker abzuschotten und reale Widersprüche in der politisch-ethischen Umsetzung zu verdrängen.

Es wäre eine Aufgabe auch für die theologische Ethik, solche Prozesse im Blick auf den Genderdiskurs auszuloten […]“

Auszug aus: 

Axel Bernd Kunze: Theorie oder Ideologie?, in: Concilium 53 (2017), Heft 3, S. 366 – 370.

Sammelrezension zu:

Margit Eckholt (Hg.): Gender studieren. Lernprozess für Theologie und Kirche, Ostfildern: Matthias Grünewald 2017, 438 Seiten.

Thomas Laubach (Hg.): Gender – Theorie oder Ideologie? Streit um das christliche Menschenbild (Theologie kontrovers), Freiburg i. Brsg.: Herder 2017, 333 Seiten.

 

 

Jetzt online: Sind Bildungsfragen Gesellschaftsfragen?

Sind Bildungsfragen Gesellschaftsfragen?

… fragt Axel Bernd Kunze in Heft 417 der Reihe „Kirche und Gesellschaft“. Seine Überlegungen zur demokratiepädagogischen Bedeutung eines Rechts auf Bildung sind jetzt auch online auf den Seiten der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach zugänglich.

Zum Inhalt:

  • Neuer sozialethischer Bildungskurs
  • Zwei Lesarten einer Formel
  • Demokratie als pädagogische Aufgabe
  • Demokratie als Bildungsaufgabe
  • Erziehung zur Demokratie
  • Absicherung sozialer Teilhabe durch ein Recht auf Bildung

http://www.ksz.de/194.html

Über den Link besteht auch die Möglichkeit, das Heft in gedruckter Form zu bestellen.

Der Verfasser, beruflich als Schulleiter tätig, ist Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Rezension: Zum Bildungs- und Erziehungsauftrag von Studentenverbindungen

„Die Lektüre des Buches ist allen zu empfehlen, die sich über die Vielfalt der Geschichte der Demokratie bis in die Gegenwart hinein informieren wollen. Der Band zeigt, welchen Bildungs- und Erziehungsauftrag Studentenverbindungen erfüllen, welche Orientierungswerte sie vermitteln und wie sie ihren Mitgliedern Wertvorstellungen für das spätere Berufsleben vermitteln können. Und der Band kann jungen Menschen vor ihrem Studium, die sich überlegen, möglicherweise einer Studentenverbindung beizutreten, einen lebendigen, praxisnahen Einblick darüber vermitteln, was es heißt, sein Studium auf diese Weise zu gestalten.“

Oberbürgermeister a. D. Dr. Günter W. Zwanzig in einer Rezension für Heft 2/2017 der Zeitschrift „ENGAGEMENT. Zeitschrift für Erziehung und Schule“ über den Band „Rote Fahnen, bunte Bänder“, der vor einem Jahr auf der Jubiläumstagung des Lassallekreises in Tübingen vorgestellt wurde:

Manfred Blänkner, Axel Bernd Kunze (Hgg.): Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute, Bonn: J. H. W. Dietz Nachf. 2016, 319 Seiten.

Rezension: Der alte Zauber des Professorenberufs ist weggeblasen …

Hildegard Krämer, Axel Bernd Kunze, Harald Kuypers (Hgg.):

Beruf: Hochschullehrer. Ansprüche, Erfahrungen, Perspektiven,

Festschrift für Prof. Dr. Volker Ladenthin, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 286 Seiten.

 

Aus einer Rezension in der aktuellen Ausgabe 2/2017 der schulpädagogischen und erziehungstheoretischen Fachzeitschrift ENGAGEMENT:

„Zunächst muss auffallen, dass gleich mehrere Beiträge eine Degradierung des Hochschullehrers wahrnehmen: Der alte Zauber des Professorenberufs scheint weggeblasen; an die Stelle des abgehobenen oder auch zerstreuten Professors ist der freundliche Dozent getreten, der einen Powerpointvortrag hält und evaluiert wird (zuerst von Studenten und dann anhand der studentischen Evaluationen von Vorgesetzten, die es früher so nicht gab). […]

Von einer demokratischen Mentalität war die Rede, und diese spiegelt sich auch wider in demokratiepädagogischen Konzepten, die tendentiell Demokratie weniger als Staats- denn als Lebensform propagieren, und diese spricht Axel Bernd Kunze an. Demokratie als Lebensform – das kann Totalerfassung von Leben im Sinne eines Prinzips bedeuten, kann auch die Verwechslung von demokratischer Gesinnung (Respekt für die Regeln der Staatsform Demokratie) und Wohlverhalten implizieren (Einpassung in einen Mainstream, der eine offene Diskussion gerade über zentrale Fragen der Gesellschaftsgestaltung gar nicht mehr zulässt).

Pädagogisch ist hier die Gefahr der Überwältigung beziehungsweise Indoktrination gegeben. Autorität mag gut sein, das Autoritäre ist es nicht, und es maskiert sich offenbar gern mit Begriffen des Nichtautoritären (Demokratie). Der Beitrag endet mit einem Zitat von Norbert Bolz: „Kehre um, du musst dein Leben ändern – oder doch wenigstens dein Denken“. Das ist der prophetische Ruf zur Umkehr, in dessen Rahmen eine ebenfalls zitierte prophetische Diagnose von Norbert Bolz wohl ihren richtigen Sinn erhält: „Nichts fürchtet die Regierung einer modernen Massendemokratie nämlich mehr als einen selbständig denkenden Menschen“ (Seiten 146 f.).

Dieser Satz ist schlimm, weil er wahr sein könnte.“

Dr. Jan Dochhorn

Der Rezensent ist Theologe und Senior Lecturer an der Universität Durham (Vereinigtes Königreich).

Impuls: Geistliche Gedanken zum Schuljahresende

Wir hören eine Lesung aus dem Evangelium nach Matthäus, Kapitel 11, Verse 28 bis 30:

„Kommt zu mir,

ihr alle, die ihr euch abmüht und belastet seid!

Bei mir werdet ihr Ruhe finden.

Nehmt das Joch auf euch,

das ich euch gebe.

Lernt von mir:

Ich meine es gut mit euch

und sehe auf niemanden herab.

Dann wird eure Seele Ruhe finden.

Denn mein Joch ist leicht.

Und was ich euch zu tragen gebe,

ist keine Last.“

 

Liebe Schulgemeinde,

liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ein weiteres Schuljahr liegt hinter uns: ein Schuljahr mit Höhen und Tiefen, mit Freuden und Anstrengungen, mit bereichernden und belastenden Erfahrungen … Jetzt dürfen wir für ein paar Wochen loslassen, durchatmen, dem Leben einen anderen Rhythmus geben. Wir Menschen brauchen den Wechsel von Arbeit und Fest, von Schule und Ferien, von Anstrengung und Erholung.

Jesus weiß, wie wir Menschen „ticken“ – das zeigen uns seine fast intimen Worte aus dem Matthäusevangelium, die wir eben gehört haben und die uns heute in die Ferien begleiten wollen. Jesus weiß um unser Mühen und unsere Beschwernisse. Und jeder von uns wird sicher wissen, wenn er in sich hineinhorcht, was für ihn an diesem Schuljahr beschwerlich war. Wir sehnen uns nach Ruhe – am Ende eines Schuljahres allemal. Doch Jesus weiß auch um die Unruhe unseres Herzens, die Unruhe unserer Gedanken, die Unruhe unserer Erinnerungen, die uns oftmals nicht zur Ruhe kommen lässt – selbst dann oder vielleicht gerade dann, wenn wir uns so sehr danach sehnen.

Wir Menschen können nicht unbedingt auf Knopfdruck einfach umschalten. Erfahrungsgemäß brauchen wir ein paar Tage, um Abschied vom gewohnten Alltag zu bekommen und tatsächlich durchatmen zu können. Das ein oder andere des zu Ende gehenden Schuljahres muss noch „verdaut“ und abgelegt werden. Gönnen wir uns diese Zeit.

Wir haben zu Beginn des Gottesdienstes gehört, was es braucht, damit es uns gut geht, damit wir nach den anstrengenden Wochen des Schuljahres wieder „auftanken“ und uns erholen können. Doch Vorsicht! Erholung kann zum Gegenteil werden, wenn wir sie krampfhaft herbeiführen wollen. Jesu Einladung, bei ihm zur Ruhe zu kommen, macht deutlich, dass wir uns tiefe, erfüllte Ruhe nicht selbst geben können. Ruhe dürfen wir uns schenken lassen – schenken lassen von ihm, der unsere Herzen kennt und der weiß, was wir zum Leben brauchen.

Was die Nähe eines Menschen bedeutet, wissen wir aus zwischenmenschlichen Beziehungen. Von klein auf sind wir darauf angewiesen, einem anderen Menschen nahe zu sein. Behutsam ruft uns Jesus heute in seine Nähe. In seiner Nähe dürfen wir ausruhen, müssen wir uns nicht verbiegen, sind wir angenommen. Seine Nähe gibt uns Kraft und Zuversicht.

Dabei verspricht uns Jesus nicht einfach eine Party ohne Ende. Dies macht seine Rede vom Joch deutlich. Die Menschen seiner Zeit wussten sofort, was damit gemeint ist: Mit einem Joch spannt man zwei Ochen vor einen Pflug oder einen Karren, damit sie diesen ziehen. Die von Jesus verheißene Ruhe ist nicht einfach die Abwesenheit von Arbeit und Mühe. Ruhe finden für unsere Seele – das meint nicht einfach, von allem befreit zu sein. Das meint, etwas Sinnvolles zu tun, dem Leben Richtung und Halt zu geben.

Die Ferien können eine Zeit sein, aus dem Trott des Alltags und seinen Zwängen herauszukommen, sich neue Perspektiven zu erschließen, neue Ideen zu entwickeln, Neues auszuprobieren – ja, auch Bildung auf neue Art zu genießen, ohne die Begleiterscheinungen von Stundenplan und Prüfungen, ohne die es in der Schule eben doch nicht ganz geht.

Ich hoffe, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie sich in den kommenden Sommerwochen eine solche sinnerfüllte Ruhe schenken lassen können.

 

Geistlicher Impuls aus einem Schuljahresabschlussgottesdienst am 25. Juli 2017

Neuerscheinung: Engagement 2/2017

Druckfrisch erschienen ist in diesen Tagen das neue Themenheft 2/2017 der Zeitschrift ENGAGEMENT – passend zum Reformationsjubiläum trägt es den Titel: Mit evangelischen Schulen im Gespräch.

Der Rezensionsteil stellt folgende Titel vor:

  • Marianne Heimbach-Steins (Universität Münster) bespricht „Über Schule reden. Zum Profil katholischer Schulen in der Diözese Würzburg“, herausgegeben von Thomas Franz und Stefan Heil.
  • Axel Bernd Kunze (Universität Bonn) stellt die Festschrift „160 Jahre in Gemeinschaft. Leben – lernen – arbeiten – beheimaten“ der Stiftung Großheppacher Schwesternschaft vor.
  • Joachim Fischer (IB-Fachschule für Sozialwesen in Stuttgart) würdigt den Band „In the days of Caesar. Pentecostalism and Political Theology“ von Amos Young.
  • Björn Igelbrink (Graf-Adolf-Gymnasium in Tecklenburg) rezensiert den „Kompas Schulwechsel. Den Übergang gestalten“ von Anne Roth und Sabine Ogrin.
  • Axel Bernd Kunze (Universität Bonn) diskutiert die inklusionsskeptischen Thesen von Michael Felten in seinem neuen Band „Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert“.
  • Gottfried Kleinschmidt (Leonberg) rezensiert den Titel „Lebenslanges Lernen und Emotionen – Wirkungen von Emotionen auf Bildungsprozesse aus beziehungstheoretischer Perspektive“ von Wiltrud Gieseke.
  • Jan Dochhorn (Universität Durham) würdigt die Festschrift zu Ehren des Bonner Erziehungswissenschaftlers Volker Ladenthin: „Beruf: Hochschullehre. Ansprüche, Erfahrungen, Perspektiven“, herausgegeben von Hildegard Krämer, Axel Bernd Kunze und Harald Kuypers.
  • Günter W. Zwanzig (Oberbürgermeister von Weißenburg in Bayern a. D.) stellt den Band „Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute“, herausgegeben von Manfred Blänkner und Axel Bernd Kunze, vor.
  • Dominique Moldehn, Astrid Frey und Birgit Fromme (Borromäusverein Bonn) stellen folgende Kinder- und Jugendbücher vor: Du und ich und alle anderen Kinder. Gesammelte Geschichten und Kindergedichte (Bart Moeyaert), Was würdest du tun? (Karin Gruß und Tobias Krejtschi) sowie Sally Jones – Mord ohne Leiche (Jakob Wegelius).

Festrede: Erinnerung an Adolf Reichwein

Der 20. Juli ist in Deutschland der Erinnerung an die Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Unrecht gewidmet. Passend zu diesem Gedenktag widmete sich eine Schulleitungsrede, die in dieser Woche anlässlich einer feierlichen Zeugnisübergabe an der Evangelischen Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt gehalten wurde, dem Reformpädagogen, Kultuspolitiker und Widerstandskämpfer Adolf Reichwein.

 

Ich möchte heute an einen Reformpädagogen, Kultuspolitiker und Widerstandskämpfer erinnern, dessen Geburtstag sich im nächsten Jahr zum hundertzwanzigsten Male jährt. Und ich möchte Ihnen, liebe Absolventinnen und Absolventen, die Sie heute in den pädagogischen Beruf entlassen werden, ein Wort dieses Pädagogen mit auf den Weg geben. Die Rede ist von Adolf Reichwein, geboren 1898 in Bad Ems. An ihn zu erinnern, lohnt meines Erachtens nicht allein wegen des kommenden Jubiläums. Adolf Reichwein war zum einen ein Vollblutpädagoge, ein Pädagoge aus vollem Herzen, der andere begeistern konnte und junge Menschen zu Mündigkeit und Verantwortung erziehen wollte. Zum anderen zeigt sich an seiner Erzieherpersönlichkeit, wie pädagogisches Handeln zum politischen Auftrag werden kann und umgekehrt – ein Impuls, der für ein Wahljahr wie dieses durchaus angemessen ist. Ich hoffe, Sie haben davon auch einen Eindruck im Fach Gemeinschaftskunde erhalten … Auch wenn wir heute in anderen Zeiten leben, hat  sein pädagogisches Ethos nichts an Aktualität verloren.

  1. Wer war Adolf Reichwein?

Adolf Reichwein  entstammte einer Lehrer­familie. Sein reformpädagogisch eingestellter Vater orientierte sich an Pestalozzi, mit dem auch Sie sich im Rahmen Ihrer Ausbildung beschäftigt haben. Keine Sorge: Ich frage jetzt nicht nach, was Sie noch über Pestalozzi wissen … Schon früh unterstützte der Sohn den Vater bei seiner pädagogischen Arbeit an einer einklassigen Volksschule in Hessen. Als der Vater im Ersten Weltkrieg eingezogen wurde, nahm Adolf Reichwein sogar ersatzweise dessen Stelle ein und erhielt so frühe Impulse für seine eigene spätere Tätigkeit als Reformpädagoge. Hans Bohnenkamp charakterisierte nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Freund Adolf Reichwein mit folgenden Worten: „Er konnte hinreißend erzählen. Seine erlebten Geschichten standen jede für sich in einer Atmosphäre von Licht und Frische, Untergründiges klang leise mit, aber der Hauptklang war fröhliche Güte.“

Reichwein war von der Notwendigkeit einer neuausgerichteten Bildungsarbeit und deren gesellschafts­verändernder Kraft überzeugt. In den nur etwas mehr als zwei Jahrzehnten seiner beruflichen Tätigkeit entwickelte er eigene Reformmodelle für verschiedene Bereiche des Bildungssystems: für die Arbeiterbildung und Lehrerausbildung, für die Volkshochschule und Volksschule, für die Medien- und Museumspädagogik. Es ist erstaunlich, was Reichwein in der kurzen Zeit seines pädagogischen Wirkens alles angestoßen hat. Nur zwei Bereiche will ich heute herausgreifen: seine Rolle als Reformpädagoge und als Widerstandskämpfer.

  1. Reichwein als Reformpädagoge

Adolf Reichwein, damals beruflich in der noch jungen Volkshochschulbewegung tätig, unternahm in den Jahren 1926 und 1927 eine Forschungsreise, die ihn über die USA, Kanada und Alaska bis nach Japan, China und auf die Philippinen führte. Die Reise war nicht allein Grundlage für verschiedene wissenschaftliche Veröffentlichungen; Reichwein verarbeitete seine Reiseeindrücke auch in verschiedenen Publikationen für Jugendliche.

Im April 1929 wurde Reichwein dann leitender Pressesprecher und persönlicher Referent des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, mit dem er gemeinsam die vollständige Akademisierung der Lehrerausbildung in Preußen, auch an den Volksschulen, durchsetzte. Als Becker zu Beginn des Jahres 1930 von seinem Ministeramt zurücktreten musste, reichte Reichwein gleichfalls seinen Rücktritt ein und wurde zum Sommersemester selbst Professor für Geschichte und Staatsbürgerkunde an einer der neugegründeten Pädagogischen Akademien in Halle an der Saale. Diese wurde im April 1933 nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten geschlossen, Reichwein zeitgleich durch den neuen nationalsozialistischen Volksbildungs­minister Rust als „unerwünschter Hochschullehrer“ beurlaubt.

Wie andere Zeitgenossen ging Reichwein anfänglich davon aus, dass sich auch die neue Regierung unter der Führung Hitlers wie ihre Vorgänger in der Weimarer Republik nicht lange werde halten können. So schlug er den Ruf auf eine Professur für Wirtschaftsgeographie an der Emigrantenhochschule in Istanbul aus. Die Türkei warb unter Kemal Atatürk um westliche Professoren, die den Modernisierungskurs des Landes vorantreiben sollten.

Stattdessen wurde Reichwein Lehrer an der einklassigen Volksschule in Tiefensee, einer Berliner Sommerfrische am Rande der Märkischen Schweiz. In den sechs Jahren seiner dortigen Tätigkeit entwickelte er sein sogenanntes Tiefenseer Schulmodell, das verschiedene reform­pädagogische Ansätze miteinander vereinte. Seine pädagogischen Ideen publizierte er 1937 im Stuttgarter Kohlhammer-Verlag. Die Schüler lernten in Arbeitsgruppen durch erlebte Praxis und eigenes Schaffen. Sie sollten selbst tätig werden, wir würden heute von handlungs- und projektsorientiertem Unterricht sprechen. Die Kinder erschlossen sich die Welt anhand gemeinsam gebauter Modelle, durch Werks- und Betriebsbesichtigungen, Museumsbesuche, Exkursionen und Ferienfahrten: damals   ungeheure Neuerungen in der Pädagogik!

Parallel begann Reichwein damit, die Möglichkeiten des neuen Mediums Unterrichtsfilm zu erforschen; 1934 wurde die Dorfschule in Tiefensee zur Versuchsschule der neugeschaffenen Reichsstelle für den Unterrichtsfilm erklärt. Sein Werk „Film in der Landschule – Vom Schauen zum Gestalten“ aus dem Jahr 1938 wurde zum Standardwerk der frühen Medienpädagogik. Einen Film, der damals entstand, habe auch ich noch in meiner Grundschulzeit gesehen: Darin ging es um das Beschlagen eines Pferdes durch den Hufschmied – … ein Thema, das ideologisch unverdächtig ist.

Reichwein war ein Mensch, der stets neugierig blieb und das Leben liebte. Seine lebendige und mitreißende pädagogische Arbeit konnte auch von Gegnern nicht infrage gestellt werden, wie drei Schulinspektionen belegten. Wolfgang Klafki, der die Lehrerbildung der alten Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat, schrieb über Reichweins pädagogisches Wirken in schwerer Zeit, bei dem er oft bis an die Grenze seiner Kraft ging: „Es ist eine einmalige, unvergleichliche Leistung, daß Reichwein seine einklassige Landschule in Tiefensee in der Mark Brandenburg als eine humane Kinder- und Jugendschule unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems gestaltet hat, als eine weltoffene pädagogische Provinz, in der er – Ansätze der reformpädagogischen Bewegung aufgreifend und in origineller Weise fortführend – eine im Kern antinazistische Erziehung durch reich differenzierten, erfahrungs- und handlungsbetonten Unterricht und ein vielgestaltiges Schulleben entwickelte.“

  1. Reichwein als Widerstandskämpfer

Reichwein war erst in der Endphase der Weimarer Republik – im Oktober 1930 – unter dem Eindruck der Wahlerfolge der Nationalsozialisten in die SPD eingetreten – gegen den Rat von Freunden, die ihn warnten, sich politisch angreifbar zu machen. Doch sah Reichwein, der sich als Hochschullehrer stets zur Weimarer Republik bekannt hatte, allein in der SPD noch eine politische Möglichkeit, „den neuen, lebensgefährlichen Kollektivismus der Blutjünger“ zu stoppen, wie er in einem Brief an einen Freund schrieb.

Reichwein wollte sich während seiner Tätigkeit als strafversetzter Professor zunächst politisch nicht exponieren, sein politischer Wille, der sein pädagogisches Wirken stets geleitet hatte, blieb jedoch wach. Je länger der Nationalsozialismus herrschte, desto stärker drängte es ihn, unmittelbarer im Widerstand zu wirken. So ließ er sich im Mai 1939 an das Staatliche Museum für deutsche Volkskunde in Berlin beurlauben und übernahm dort die Leitung der museums­pädagogischen Abteilung. Hatte er sich schon als Lehrer im Zusammenhang mit den Holz- und Webarbeiten seiner Schüler mit Fragen des Volkshandwerks und der Volkskunst beschäftigt, organisierte er unter Kriegsbedingungen vier große Schulausstellungens sowie Führungen und Praktika für Lehrer. Selbst unternahm Reichwein mehr als hundert museumspädagogische Vortrags- und Seminarreisen, die er zur Kontaktaufnahme mit oppositionellen Kreisen nutzte.

Reichwein schloss sich dem Kreisauer Kreis um Hellmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg an. Der ehemalige Akademieprofessor wurde als Kultusminister einer Regierung nach Hitler gehandelt und war maßgeblich am kulturpolitischen Programm der Kreisauer Widerstandsgruppe beteiligt. Nach der Ausbombung in Berlin siedelte die Familie Reichwein 1943 gänzlich nach Kreisau auf das schlesische Gut von Moltkes über. Reichwein nahm an zwei der drei großen Tagungen des Kreisauer Kreises teil.

Zeitlebens begleiteten Adolf Reichwein die Ideale der Jugendbewegung. Und er blieb seinen pädagogischen und politischen Idealen bis zum Einsatz seines eigenen Lebens treu. Kurz vor seiner Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei schrieb er: „Es müssen entscheidende Schritte unternommen werden, um das deutsche Volk und die europäische Kultur zu retten. Es ist tragisch, zu Mitteln greifen zu müssen, die ich aus meiner ganzen inneren Einstellung heraus ablehne. Wir werden auch bestenfalls kein eigenes Leben mehr haben, das werden wir unseren Kindern und der Zukunft des Deutschen Volkes zum Opfer bringen müssen. Doch um dieser Zukunft willen muß es sein. Es ist schon sehr spät, aber noch nicht zu spät.“

Im Juni 1944 war Reichwein maßgeblich an einem Berliner Treffen mit Vertretern der illegalen Kommunistischen Partei beteiligt. Die Zusammenkunft wurde durch einen Spitzel auf kommunistischer Seite verraten. Reichwein wurde daraufhin am 4. Juli 1944 in Berlin verhaftet und in der Strafanstalt Berlin-Görden gefoltert. Der Schauprozess vor dem „Volksgerichtshof“ unter Roland Freisler begann am 20. Oktober 1944 im Kammergericht in Berlin-Schöneberg. Noch am Nachmittag desselben Tages wurde das Unrechtsurteil in Berlin-Plötzensee durch den Strang vollstreckt.

  1. Wie ist Reichwein in Erinnerung geblieben?

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sein Freund Hans Bohnenkamp damit, das pädagogische Erbe Reichweins zu sichern. Die Eltern in Tiefensee begegneten dem strafversetzten Professor zunächst durchaus misstrauisch, doch war es Reichwein gelungen, sich das Vertrauen der Dorfgemeinschaft zu erwerben. Hieran  erinnert Bohnenkamp im Geleitwort zur Neuausgabe von Reichweins Tiefenseer Schulschriften, die er 1951 besorgte: „Auch die Eltern merkten die seelische Gelöstheit, die diese Schule ihren Kindern gab. Ein Vater, nach seinen Eindrücken befragt, antwortete: ‚Der Professor? Wissen Sie, der hat unsere Kinder frei gemacht.‘“ Eine bemerkenswerte Aussage, wenn wir uns den nationalsozialistischen Hintergrund für Reichweins Bildungs- und Erziehungsarbeit verdeutlichen! Reichwein war davon überzeugt, dass Kultur und Bildung eine starke politische Bedeutung haben. Hätte er die Diktatur überlebt, so wäre er sicher zu einer wichtigen Stimme beim Wiederaufbau eines demokratischen Bildungswesens geworden. Beim Abschied aus Tiefensee schrieb er jedem Kind eine eigens gedichtete Losung ins Poesiealbum. Eine davon ist so etwas wie sein pädagogisches Vermächtnis in Kurzform, dem er bis zum Tod treu blieb – und diese Worte möchte ich Ihnen mitgeben, wenn wir Sie heute in die pädagogische Berufswelt entlassen:

„Richte immer die Gedanken

Fest und ohne schwaches Schwanken

Auf das selbst gewählte Ziel!

Hilft das Herz als Kompaß viel,

Weist die Richtung in der Stille,

Soll der selbst gestählte Wille

Doch Dich stärken, fest zu halten

Und dein Leben zu gestalten

Nach den großen Tugendbildern,

Die des Lebens Härte mildern:

Güte allen Menschen zeigen,

Wahrheit gegen jedermann,

über andrer Fehler schweigen,

Und nur wollen, was man kann.“

Ich gratuliere Ihnen im Namen der Schulleitung und des gesamten Kollegiums ganz herzlich zum erfolgreichen Abschluss Ihrer Ausbildung. Sie dürfen die Kinder und Jugendlichen in das Leben begleiten – nicht zuletzt durch Ihr Vorbild und Ihre erzieherische Persönlichkeit. Für Ihre künftige pädagogische Arbeit wünsche ich Ihnen Freude, gutes Gelingen und Gottes Segen.

(Axel Bernd Kunze, Gesamtschulleiter)