Schlaglicht: Wenn ein Land erodiert …

Mit großer Sorge ist wahrzunehmen, in welchem Tempo und mit welcher Gewalt unsere Wert- und Verfassungsordnung zunehmend erodiert. Mittlerweile wird schon das Mittel eines Generalstreiks von Abgeordneten ins Spiel gebracht. Immerhin kennt unser Grundgesetz ein Widerstandsrecht. Wir wissen aber auch, was eine solche Entwicklung verfassungspolitisch bedeuten würde. In jedem Fall zeigt sich hier eine neue Eskalationsstufe der politischen Polarisierung im Land.

Im Hintergrund dieser Entwicklung steht unter anderem eine Diskussion über das Versagen des Bundesverfassungsgerichts in der gegenwärtigen Krise, da sich dieses immer stärker als williger Gehilfe der Parteipolitik erweist. In der internationalen Presse, etwa aus der Schweiz, wird offen darüber diskutiert, dass Verfassungsgerichtsgerichtsbarkeit in Deutschland mittlerweile prekärer sei als im vielgeschmähten Nachbarland Polen.

Zwar hat unser Land schon andere heftige Debatten, etwa um die Notstandsgesetze, die Ostpolitik oder die Nachrüstung, erlebt, die auch stark polarisiert haben. Aber in keinem Fall ginge diese Polarisierungen mit dem massenhaften, politisch und ethisch nicht hinreichend begründeten Zwangszugriff des Staates auf den Körper des Einzelnen daher. Es bleibt sehr zu hoffen, dass unserLand diese Krise ohne größere Eruptionen überstehen wird. Doch werde ich immer pessimistischer – zumal dann, wenn ich mir auch noch die verheerenden Weichenstellungen des neuen Koalitionsvertrages ansehe. Nur ein Beispiel: Dass unter dem Stichwort „Lastmanagement“ lokale, bewusst herbeigeführte Blackouts politisch offen, aber sprachlich verschleiert als reales Instrument der Energiepolitik betrachtet werden, verheißt nichts Gutes für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität des Landes.

Wir werden korrosionsfeste Idenitäten und ein robustes Freiheitsideal brauchen, wenn wir die Kämpfe dieser Zeit überstehen wollen. Und wir werden Sammlungsbewegungen brauchen, in denen sich Gleichgesinnte versammeln, die in streitbarer Debatte und im Willen zur Freiheit geeint, um den moralischen Wiederaufbau des Landes ringen werden.

Schlaglicht: Was heißt hier Solidarität?

Mit ihrem Leitartikel am 3. Dezember 2021 hat die F.A.Z. endgültig den Anschein jeder Bürgerlichkeit verloren – alle Achtung, für eine einstmals bedeutsame Zeitung:

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-zu-harten-corona-massnahmen-solidaritaet-der-geimpften-17663615.html
Einer Minderheit Menschenwürde und Grundrechte abzusprechen, als Solidarität der vernünftigen Mehrheit zu verkaufen, ist schon eine beachtliche journalistische Leistung. Krisen kehren offenbar das Schlechteste im Menschen nach oben. Die Spaltungen, die jetzt provoziert werden, können vielleicht vergessen und überdeckt werden – wir Menschen neigen dazu; aber unterschwellig wird es in unserem Land auf lange Zeit keinen unbefangenen Umgang mehr miteinander geben. Vertrauen ist und bleibt auch unbewusst zerstört. Das wird für viele zwischenmenschliche Beziehungen gelten und für viele gesellschaftliche Akteure.

Wenn ich die Zeitung nicht schon längst im Sommer abbestellt hätte, wäre spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen.

Dass es journalistisch auch anders geht, beweist die NZZ aus der Schweiz (nach Aussage meiner Zeitungsverkäuferin die „beste Zeitung der Welt“):

https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/die-corona-zahlen-steigen-dennoch-waere-eine-impfpflicht-falsch-ld.1658125

Schlaglicht: Verlust an Personalität

Es war für alle, die es sehen wollten und die politische Äußerungen zu deuten wussten, schon zu Jahresbeginn absehbar, dass eine Impfpflicht kommen soll. Es bleibt beschämend, dass ein solcher politischer Totalitarismus an vorderster Front von jemandem vorangetrieben wird, der zur christlich-burschenschaftlichen Bewegung gehört. Mit Verfassungsstaatlichkeit, Humanität und Freiheit hat das nichts mehr zu tun:

https://www.welt.de/politik/deutschland/article235174482/Coronavirus-Markus-Soeder-fordert-Impfpflicht-fuer-alle.html

Wir erleben ein Scheitern unserer Wert- und Verfassungsordnung – vor den sehenden Augen des Souveräns, der es nicht sehen will. Und die großen gesellschaftlichen Akteure, etwa Kirchen und Universitäten, schweigen dazu. Diese Infragestellung einer menschenrechtlich geschützten Personalität wird unser Zusammenleben in der Tat auf Jahrzehnte vergiften, weil ein solcher Verlust an Verfassungsstaatlichkeit politisch nicht verzeihbar ist – jedenfalls nicht ohne entschiedene juristische Aufarbeitung, die es nicht geben wird.

Schlaglicht: (Kultur-)Kampf um die Freiheit

Wir erleben einen Kulturkampf – im Bildungsbereich und weit darüber hinaus. Das freie Subjekt droht durch Gruppenidentität und Kollektivzwang abgelöst zu werden. Wenn Bildung auf die äußere soziale Seite reduziert wird, läuft dies auf Anpassung an soziale Zwänge hinaus. Selbstbestimmung und Widerständigkeit des Subjekts bleiben auf der Strecke.

Vermutlich wird ein Kampf für die Freiheit von Bildung und Wissenschaft allein aus den Universitäten heraus nicht mehr erfolgreich sein können. Wir brauchen breite Bündnisse mit Wissenschaftlern aus anderen Berufen, den Aufbau gesellschaftlicher Netzwerke, die Schaffung von Gegenwelten. Wer die Freiheit robust verteidigen will, muss aus der Verteidigungsecke heraus und aktiv handlungsfähig werden. Wie kann das gelingen? Eine vielleicht noch sehr vage Idee …

Auf Konfliktfälle zu reagieren ist gut und wichtig. Es braucht aber eine Sammlungsbewegung von Wissenschaftlern, Verlegern, Medien, Lehrern, Politikern, Verbindungen …, die ein hohes Ideal von Freiheit aufrechterhalten wollen, die sich zusammenschließen, und zwar erkennbar nach außen, offen und deutlich sichtbar. Es muss deutlich werden: Wir verweigern uns den üblichen Trends. Das alles unter dem Signum der Freiheit: Bei uns kann man alles publizieren, diskutieren, vortragen … Warum nicht ein Siegel entwickeln, so wie „Bioland“!? Und damit muss der akademisch-gesellschaftliche-öffentliche Raum besetzt werden. Das muss offensiv bei Publikationsankündigungen, Tagungsvorbereitungen, auf Internetsetien etc. angegeben werden. Raus aus der Verteidigungsecke, rein in die Offensive, kampagnenfähig werden – nach den Regeln, die im politischen Geschäft gelten.

Das Klima in Bildung, Schule und Hochschule kann sich drehen, aber dann muss auch dafür offensiv gestritten werden.

Schlaglicht: Abschied vom freien Subjekt

Die gegenwärtige Situation ist dramatisch. Wir erleben den Abschied vom freien Subjekt. Wo die Integrität des Körpers der Kollektivierung geopfert wird, wird über kurz oder lang auch die Integrität des Geistes verloren gehen. Die Coronapolitik unserer Tage zeigt das mehr als deutlich. Die ersten Universitäten praktizieren 2G. Kein Wort mehr vom Recht auf Bildung, von Teilhaberechten der Studenten, vom Recht auf Ausbildungsfreiheit …. Offenbar sind auch universitäre Akteure nicht mehr in der Lage, die gravierenden Wertkonflikte unserer Tage zu erkennen. Ein Armutszeugnis. Am Ende werden nahezu alle gesellschaftlichen Institutionen moralisch diskreditiert und politisch desavouiert sein, einschließlich der Universitäten.

Man diskutiert, man stellt Fragen, man bleibt brav in der erwartbaren Spur der Disziplin – aber irgendwie scheint das alles nichts mit der gegenwärtigen Situation zu tun zu haben. Menschenrechte und Corona!? Man könnte ja einen Zusammenhang herstellen, aber den gibt es nicht. Denkfaulheit und geistige Überforderung, wohin man schaut. Man lernt brav, was der Dozent sagt oder die Umgebung hören will – aber es berührt nicht. Und so zeigt sich vielerorts, was leider mein Verdacht schon länger war: Die ethischen Hochglanzbegriffe, die so oft die öffentliche oder akademische Debatte bestimmen, wirken aufgesetzt. Letztlich geht es nicht um Menschenrechte und Teilhabe, Anerkennung und Demokratiepädagogik. Ist der Vergleich zu weit hergeholt? Oder kann man diesen Neusprech einer auf links getrimmten Berliner Republik mit dem Marxismus-Leninismus-Programm der alten DDR gleichsetzen, das eben pflichtschuldigst nachgebetet wurde? Aber wider alle Resignation – ein Bekenntnis am Schluss: Ja, es nutzt gegen diese Entwicklungen anzukämpfen, um der Freiheit willen. Denn ohne Freiheit ist alles nichts.

Schlaglicht: Martinshirtenwort des neuen Sozialethikbischofs wirkt wenig reflektiert und uninspiriert

Unser Land ist gespalten, der öffentliche Diskurs polarisiert. Man muss lange nach Parallelen für eine ähnliche Situation suchen – vielleicht die Debatte um den NATO-Doppelbeschluss, die das Ende der sozialliberalen Koalition besiegelte? Ziellos, planlos, hektisch, affektgeleitet, ressentimentgeladen, vermachtet geführt, hat sich der coronapolitische Diskurs von einer rationalen Gesundheits- und Krisenpolitik längst verabschiedet. Sozialethisch wäre in einer solchen Sitution viel zu sagen. Doch aus den Kirchen herrscht dröhnendes Schweigen.

Da lässt es aufhorchen, wenn sich der neue Sozialethikbischof innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz, Heiner Wilmer, jetzt mit einem Hirtenwort an seine Gemeinden im Bistum Hildesheim wendet. Anlass ist das Fest des heiligen Martin in der kommenden Woche. Eines vorweg: Der Hirtenbrief enttäuscht.

Früher gab es Bischofskapläne, die ihren Vorgesetzten theologisch substantielle Vorlagen zu liefern in der Lage waren. Doch in Zeiten des Priestermangels scheint diese Institution geistlicher „Ghostwriter“ durch die kirchliche Phrasenstanzmaschine ersetzt worden zu sein. Der Hirtenbrief zum Martinstag will anrührend wirken. Afghanistan, Haiti, Ahrtal, Pandemie – der Bischof zählt eingangs auf, was ihn berührt. „Die Pandemie geht weiter und verunsichert viele Menschen“, erklärt Wilmer. Diese Feststellung wäre Gelegenheit, sozialethisch Orientierung zu geben. Doch es folgt eine emotionslose Aneinanderreihung von Null-Acht-Fünfzehn-Beispielen. Die Sprache wirkt nicht „berührt“ und engagiert, sondern distanziert und uninspiriert.

Einmal mehr muss die sozialethisch unreflektierte „Willkommenskultur“ von 2015 als Beispiel für christliches Engagement herhalten. Wo bleibt der Blick auf bedrohte Teilhaberechte, ganz aktuell, mitten in einem Land, das täglich weiter gespalten wird? Fehlanzeige. Gravierende Wertkonflikte werden bis auf Sozialkitschnivenau runtergebrochen. Telefonanrufe im Lockdown stehen neben Coronateststationen. Aber kein sozialethischer Gedanke daran, dass die Politik eine leistungsfähige Teststrategie Anfang Oktober abgebrochen hat, um Ungeimpfte an den Pranger zu stellen. Hier hätte man von einem Oberhirten, der künftig die sozialethische Linie der katholischen Kirche in Deutschland bestimmen soll, mehr Reflexion und sozialethisches Problembewusstsein erwartet.

Als Quelle wird in den Fußnoten ein „Relibuch“ für die siebte/achte Jahrgangsstufe zitiert. Mehr theologisches Niveau hat der Bischofsbrief am Ende nicht. Es ist bitter, dies feststellen zu müssen. Das Anliegen des Hirtenwortes mag ehrenwert sein.  Kirche an der Seite der Armen – gut. Eine solche Kirche bedarf allerdings der sozialethischen Reflexion, wenn sie nicht bei moralisierenden Appellen stehenbleiben will: „Bleiben Sie alle begeistert und leidenschaftlich an der Seite der Armen“, ruft Wilmer seine Diözesanen auf. Ja, aber das gute Gefühl reicht nicht. Es war gerade die Stärke Katholischer Soziallehre, dass sie soziale Verwerfungen in ihren politischen und institutionellen Bezügen wahrgenommen hat. Denn das moralisch Gute und das sachlich Gebotene müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Was bedeutet das für eine verantwortliche, effiziente Migrationspolitik in Zeiten, da zynische Machthaber Migration als Mittel hybrider Kriegsführung einsetzen? Welche Migrationspolitik ist sachlich geboten, wenn die Mehrzahl der Migranten, wie eine neue UN-Studie belegt, nicht vor Armut flieht, sondern aus sicheren Berufen mit durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten? Immer wieder wird das Mantra von der Bekämpfung von Fluchtursachen wiederholt. Doch fehlende politische Mitspracherechte lassen sich nicht mit einer Entwicklungspolitik à la Scheckbuch bekämpfen. Wie positioniert sich die Kirche zu den gravierenden Wertkonflikten einer autoritär gewordenen Corona- und Impfpolitik? Wie sollen die Verwerfungen dieser Krise wieder geheilt werden? Bischof Wilmer schließt mit dem Gedicht eines Göttinger Diakons – „nun will ich zu dir kommen den Käfig öffnen / deinen Durst stillen dich trösten in deiner Angst / will bei dir bleiben“. Man wüsste schon gern, was dies in Zeiten von 3G, 2G, vierter Welle und so weiter bedeutet.

Sicher, nicht alles passt in einen Hirtenbrief. Dieser ist keine sozialethische Abhandlung. Dennoch sollte ein solches Wort in bedrängenden Zeiten Orientierung bieten. Doch der Bischof bleibt schwammig. Er wolle, so erklärt er im Hirtenbrief, mit den Menschen im Bistum „engagiert unterwegs sein“. Neuerdings soll es sympathisch rüberkommen, wenn Verantwortliche in ihrer Aufgabe erst einmal lernen, Dingen kennenlernen, irgendwie im Gespräch sind. Als Sozialethikbischof wird Bischof Wilmer aber zeigen müssen, ob er nicht einfach ziellos unterwegs ist, sondern ob er auch einen brauchbaren sozialethischen Kompass besitzt.

Das Hirtenwort zum Martinstag ignoriert die komplexen ethischen Fragen, vor denen unser Land nicht erst seit kurzem steht, und wirkt an den Herausforderungen unserer Tage „vorbeigeschrieben“. Wir haben es mit gravierenden Wertkonflikten zu tun, keine Frage. Entscheidungen sind unter hoher Unsicherheit zu treffen. Dies verlangt Führungsstärke, Reflexionsfähigkeit, Klugheit und Maß. Und so ist gerade in solchen Zeiten von Amtsträgern ein bestimmtes Maß an Verantwortung und gedanklicher Anstrengung zu erwarten, gern im Gespräch mit sozialethisch engagierten Christen, die ihre berufliche und fachliche Expertise einbringen können.

Schlaglicht: Wenn Leistung und Bildung nicht mehr zählen … – ein bildungsethischer Einwurf in Coronazeiten

Viele in unserem Land sehnen sich in diesen Tagen eine Normalität herbei, die es nicht geben kann. Unser Land ist gespalten und wird immer weiter gespalten von einer politischen Elite, die – wie es in einem aktuellen Kommentar einer Wochenzeitung heißt – „Maß und Mitte“ vollends verloren hat. Immer schwerer ist vorstellbar, wie diese Verwerfungen nach Ende der Krise wieder geheilt werden können. Die überkommenen Parteien und die politischen Akteure der sog. „Mitte“, die längst keine mehr ist, verspielen auf lange Sicht Ansehen und Vertrauen bei jenen, die sich ein freiheitliches Bewusstsein weiterhin bewahrt haben. Unser Land geht schweren Zeiten entgegen.

Es herrscht ein ekliges Klima im Land, das politisch immer weiter verstärkt wird. Der alte klebrige, denunziatorische Untertanengeist ist zurück. Das vergiftete gesellschaftliche Klima macht auch ohne irgendwelche G-Regeln immer weniger Lust, sozialen Umgang zu pflegen. Unser Land hat Würde und Anstand in dieser Krise verloren. Wem die Zukunft unseres Gemeinwesens nicht gleichgültig ist, kann hiervon nicht unberührt bleiben.

Vielleicht werden wir später einmal die Frage stellen, wie es so weit kommen konnte. Ein Gesprächspartner äußerte vor kurzem den Verdacht, dass die Absage an das Leistungsprinzip einen guten Teil dazu beigetragen habe. Mittlerweile kann man mit einem aberkannten Doktortitel selbst ohne Schamfrist gleich wieder Regierende Bürgermeisterin in Berlin werden. Bildung und Leistung werden politisch und gesellschaftlich schon seit langem denunziert. Wo das Leistungsprinzip verkommt, regieren am Ende Dummheit und Rohheit. Nur ein Beispiel: Ich habe nach diesem Sommer mein Abonnement der F.A.Z. gekündigt, weil ich den hetzerischen Stil und die einseitige, bornierte, moralisierende Haltung des Blattes nicht mehr ertragen konnte – wer sehen will, wie sich Bürgerlichkeit auflöst und was an die Stelle des Citoyen tritt, findet im Niedergang einer einstmals großen und wichtigen Zeitung des Landes bestes Anschauungsmaterial.

Und wo der Bildungsgedanke schwindet, geht am Ende die Achtung vor dem freien Subjekt vor die Hunde. Und noch ein Drittes: Wo in postmodernen Zeiten Geltungsansprüche nicht mehr zugelassen werden, tritt Gewalt an die Stelle der Bildung. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus ersetzt. Unsere Politik erweckt immer mehr diesen Eindruck – mit fatalen Folgen für das Zusammenleben im Land. Wahrlich keine guten Aussichten.

Schlaglicht: Corona macht es möglich – eine Leserbriefseite wird zum Lehrbeispiel christlicher Nächstenliebe

Impfung als Zeichen von Nächstenliebe – unter dieser Überschrift setzt die Verlagsgruppe Bistumspresse, ein Verbund von zwölf nord- und mitteldeutschen Kirchenzeitungen, in ihrer Ausgabe vom 24. Oktober 2021 die Leserbriefdebatte zur Coronaimpfung fort. Die neue Leserbriefseite wird zu einem Lehrstück christlicher Nächstenliebe.

Und die Emotionen schlagen in der neuen Ausgabe der Kirchenzeitung hoch, nachdem fünf Leserbriefschreiber „sich berufen fühlten“ den Chefredakteur Ulrich Waschki zu kritisieren – so Dr. med. Walter Ecker. Was für eine Majestätsbeleidigung gegenüber der Vierten Gewalt. Der Mediziner wirft seinen andersdenkenden Kollegen aus der leserbriefschreibenden Zunft vor: „Keiner von ihnen hat auch nur ein wissenschaftlich fundiertes Arguement genannt.“ Ach ja, wir wissen schon: Die Wissenschaft hat festgestellt – und abweichende Meinungen sind eben erst gar keine Wissenschaft. Stattdessen ist sich Dr. Ecker seiner Sache sehr sicher: „Hardcore-Impfgegner“ – darunter geht es offenbar nicht – sind „beratungs-“ und „faktenresistent“, sie infizieren ihre Mitmenschen (Moment, können nicht auch Geimpfte das Virus weiter übertragen?) und – ach ja, sie sind nicht christlich. In früheren Zeiten hätte man so eine Argumentationsstrategie auch nicht „wissenschaftlich fundiert“, sondern moralisierend genannt.

Jeder mag sich über die Impfung sein eigenes Urteil bilden. So ist das in einer freien Debatte. Und es spricht nichts dagegen, sich von wissenschaftlich fundierten Argumenten überzeugen zu lassen. Doch  stattdessen liefern die weiteren Leserbriefschreiber unfreiwillig den Beleg, wie vermachtet, emotionalisiert und moralisierend der Impfdiskurs geführt wird – und merken es nicht einmal. Für  Bernhard Meyer aus Erfurt können die Gründe der anderen nur „vorgeschobene“ sein. Ingrid Seeseke aus Bremen ist „empört“, dass „solche Meinungen“ überhaupt abgedruckt werden! Richtig, die eigene Position wirkt umso überzeugender, wenn man andere Meinungen gar nicht erst zu Wort kommen lässt. Wo kämen wir denn sonst hin – in einem Land, das einmal Presse- und Meinungsfreiheit kannte. Alle im Gleichschritt marsch! – das ist „christliche Nächstenliebe“ oder „der christliche Weg“. Was brauchen wir in der Kirche noch den mündigen Christen und das freie Subjekt (anderslautende Stimmen nicht nur aus dem Synodalen Weg habe ich mir vermutlich nur eingebildet). Schön angepasst soll er sein, der Vorzeigechrist.

„Impfgegner sind die Spalter der Gesellschaft“, ist sich Elisabeth Müller aus Berlin einig. Ein solches moralisches Selbstbewusstsein könnte viel mit Projektion zu tun haben. Im Namen christlicher Nächstenliebe darf man neuerdings auch, was bisher nur „Rechtspopulisten“ zugestanden wurde: hetzen, ausgrenzen und Menschen abstempeln. Und Eleonore Recker-Korte aus Osnabrück dekretiert: „Grundrechte werden eingeschränkt, weil die Ungeimpften verhindern, dass Vorsichtsmaßnahmen unnötig werden.“ Nein, wir haben es nicht mit gravierenden Wertkonflikten und komplexen Abwägungsprozessen zu tun, sondern mit einem quasimoralischen Automatismus: Die sind eben selber schuld. Man merke: Die freie, selbstbestimmte, eigenverantwortliche Entscheidung über den eigenen Körper, Kern jeder Menschen- und Grundrechtsordnung, gehört nicht mehr zum Wesen christlicher Ethik.

Nun sollte man Leserbriefschreiber nicht mit Erwartungen überfordern. Eine größere Verantwortung tragen die Sozialethiker, Theologen und Bischöfe, die es besser wissen sollten – und schweigen. Und sich damit mitschuldig machen an einem politisch-gesellschaftlichen Klima, in dem wieder einmal nach Sündenböcken gesucht, die Freiheit mit Füßen getreten und einer bestimmten Bevölkerungsgruppe die sozialen Teilhaberechte entzogen werden. Sollte sich der Wind doch einmal wieder drehen, könnte den theologisch und kirchlich Verantwortlichen viel zu spät dämmern, welches Vertrauen sie jetzt verspielen – und Vertrauen ist ein wichtiges pastorales Gut.

Schlaglicht: Partizipation und Verantwortung gehören zusammen – Anmerkungen zur geplanten Absenkung des Wahlalters

Aller Voraussicht nach könnte ein Lieblingsprojekt vieler Gemeinschaftskunde- und Politiklehrer den Weg in den neuen Koalitionsvertrag finden: eine Absenkung des Wahlalters auf 16. Dieses Vorhaben ist ein typisches „Wohlfühlthema“, passend für eine Gesellschaft, für die Politik zur Spielwiese verkommen ist und die nicht mehr wahrhaben will, welch gewichtige Entscheidungen im Parlament zu treffen sind und welch gravierende Auswirkungen staatliche Entscheidungen haben. Man stellt sich den Staat als eine große Gouvernante vor, die es immer schon gut mit uns meint (entsprechend ist man jetzt in der Coronapolitik auch bereit, weitreichende Menschenrechtsübergriffe widerstandslos hinzunehmen).

Wirksame Beteiligung sollte nicht verkitscht werden – oder, ein böser Gedanke, ist eine solche vielleicht von vornherein gar nicht angezielt, weil man dem demokratischen Wahlakt immer weniger Bedeutung beimisst und Entscheidungen immer häufiger in informelle oder transnationale Zirkel verlegt!? Jedenfalls ist wirksame Beteiligung nicht ohne Verantwortung zu haben. Hierzu zählt auch die Rechenschaftspflicht darüber, wie mit fremden Ressourcen umgegangen wurde, und die Bereitschaft, für notwendige Fehlentscheidungen einzustehen. Ohne diese Verantwortung fehlt wirksamer Beteiligung immer jenes letzte Moment an Ernsthaftigkeit, ohne das die behauptete Wirksamkeit letztlich zur Farce verkommt. Wo das Wahlrecht zur Ramschware verkommt, könnte es am Ende tatsächlich gleichgültig sein, ob ein Bundesland noch in der Lage ist, gleiche und faire Wahlen zu organisieren.

Wer mitbestimmen will, sollte auch bereit sein, die notwendige Verantwortung zu tragen. Es würde aber vermutlich einen Aufschrei geben, wenn im Gegenzug das Jugendstrafrecht auf 14 bis 16 Jahre begrenzt würde. Weitere Beispiele, schon 16-Jährige in die Verantwortung zu nehmen, ließen sich finden. Es ist schon seltsam, wie selektiv argumentiert wird. Auf einmal zieht man zur Begründung für die Absenkung des Wahlalters die Jugendlichen heran, die bereits mit fünfzehn eine Ausbildung beginnen, obwohl ein immer größer gewordenener Teil eines Jahrgangs mittlerweile Abitur macht. Man rekurriert auf die religiöse Mündigkeit, die mit 14 einsetzt, geht aber davon aus, dass Zigarettenkauf erst mit 18 möglich sein soll. Ach, ja bei Wahlen geht es ja um nichts … Man will geschlechtsangleichende Maßnahmen ohne Zustimmung der Eltern ab 14 ermöglichen, nimmt umgekehrt die Eltern aber bis weit in die Zwanziger hinein in finanzielle Verantwortung für Unterhalt und Ausbildung ihrer Kinder. Und so weiter.

Nicht die Wahlaltersgrenzen gehören auf den Prüfstand, sondern unser gesellschaftliches Verständnis von Verantwortung, unser Staatsverständnis und unsere Geringschätzung politischer Macht – denn bei Wahlen geht es nicht um Symbolpolitik oder Themen, die sowieso alle gut finden („mehr Klimaschutz“). Nein, es geht um harte politische Interessen- und Wertkonflikte, um gewichtige Entscheidungen, die gerechtigkeits- und freiheitsrelevant sind, und es geht mitunter, man denke nur an Verteidigugns- und Sicherheitspolitik, um Entscheidungen über Leben und Tod.

Aber selbst auf wissenschaftlichen Tagugen habe ich erlebt, wie Änderungen an der Verfassung damit gerechtfertigt wurden, dies setze ein wichtiges Zeichen. Dafür ist unsere Verfassung nicht gemacht. Und wir sollten sie für billige Symbolpolitik auch nicht aufs Spiel setzen. Manchmal fehlen offenbar auch Wissenschaftlern die notwendige Reife und Verantwortung, in gewichtiger Materie zu urteilen.

Schlaglicht: Wer bemerkt den Fehler? Wer hat im Gemeinschaftskunde- oder Geschichtsunterricht aufgepasst?

Wer findet den Fehler?

Aktuell wird darüber diskutiert, ob die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ Ende November auslaufen oder verlängert werden soll. Da will der Gesundheitsminister dem Parlament vorschreiben, was es im Blick auf diese Frage Ende November zu beschließen hat und welche Freiheiten wieder zurückgegeben werden sollen.

Jeder, der im Gemeinschaftskunde-, Geschichts- oder Philosophieunterricht aufgepasst hat, sollte merken, dass hier etwas nicht stimmt. Aber die wenigsten scheinen es zu merken – immerhin, das sei zur Ehrenrettung der journalistischen Zunft gesagt, ein Kommentar in der „Welt“.

Hier werden von einer Regierung, die nur noch auf Abruf regiert, nicht nur die Rollen von Legislative und Exekutive vertauscht, da wird auch noch die Begründungspflicht umgekehrt: Die Legislative muss über Grundrechtseinschränkungen beschließen und bleibt dabei in höchstem Maße begründungspflichtig. Die Maßnahmen müssen angemessen, zielführend, verhältnismäßig, geeignet, befristet sein. Doch jetzt soll das Parlament, das eigentlich die Regierung zu kontrollieren hat (und nicht umgekehrt), begründen, welche Freiheiten es zurückgibt, und nicht, welche Freiheiten weiter aus vernünftigem und gerechtem Grund eingeschränkt werden sollten.

Der Gesundheitsminister hat offenbar in der hinteren Reihe „Schiffe versenken“ gespielt, als seine Lehrer seinerzeit die Gewaltenteilung erklärt haben …