Die bisherige Staatsministerin Dorothee Bär, im Bundeskanzleramt für Digitalisierung zuständig, verspricht in ihrem Webauftritt, dass die „Digitale Schule“ der Zukunft „agil, innovativ, international, partizipativ, vernetzt, hybrid, selbstregulativ, projektbezogen“ sein werde. Es sind hochgesteckte Erwartungen. Nicht zum ersten Mal. Nur ein Beispiel: Auch die Sprachlabore vor Jahrzehnten sollten den Sprachunterricht revolutionieren, am Ende standen sie in vielen Schulen leer.
Peter J. Brenner vom Institut für Medienevaluation, Schulentwicklung und Wissenschaftsberatung, wies im März 2021 in seinem Bildungsblog darauf hin, dass die „Digitale Schule“ ohne pädagogisches Verständnis ein Hirngespinst bleiben müsse: „Mit möglichst geringem Aufwand einen möglichst großen Effekt zu erzielen, ist im Geschäftsleben sicher ein richtiges Prinzip. In der Pädagogik funktioniert das aber nicht. Bildung und Erziehung sind etwas anderes als das Optimieren von Lernprozessen.“ Denn es geht dabei nicht allein um technische, datenschutz- oder urheberrechtliche Fragen.
Wer über die Chancen und Grenzen digital gestützten Lernens sprechen will, darf die anthropologischen und sozialen Fragen, die damit aufgerufen werden, nicht am Rande liegen lassen. Denn digitale Lernprozesse haben Folgewirkungen, die pädagogisch differenziert wahrzunehmen sind, so Brenner weiter: „Die Marginalisierung der Schrift, der Handschrift zumal, die Umcodierung vom Text zum Bild als herrschendem Symbolsystem, die Flüchtigkeit des Geschriebenen, der Zerfall von Wissensordnungen und die Entwertung von Wissensbeständen, die Transformation von Arbeitshaltungen von linearer Zielorientierung zur bricolage-Technik sind Entwicklungen, welche längst schon begonnen haben, nicht nur die Schule, sondern auch die Gesellschaft zu verändern. Ob die Schule das fördern oder dem entgegenwirken soll, ist eine noch offene Frage.“
Erst jüngst hat die im Mai veröffentlichte PISA-Sonderstudie zu Tage gefördert, dass es um Textverständnis und sinnerfassendes Lesen nicht gerade zum Besten bestellt sei. Einundzwanzig Prozent der Schüler in Deutschland erreichten noch nicht einmal das für ein selbstbestimmtes Leben erforderliche Mindestniveau. Die PISA-Forscher formulieren: „Die Nutzung digitaler Medien an sich wirkt nicht lernfördernd.“ Man kann es auch kürzer formulieren: Wer liest, schneidet in der Schule besser ab.
W-LAN, digitale Endgeräte und Lernplattformen können das Lernen nicht ersetzen. Wer Bücher, Lexika, Zeitungen und Bibliotheken sinnerfassend nutzen kann, wird auch digitale Medien besser nutzen können – so Heike Schmoll am 20. Mai 2021 im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen: „Die sogenannten Digital Natives können vielleicht mit vier Jahren auf einem iPad Zeichentrickfilme abrufen, aber sie sind noch mit 15 Jahren weit entfernt von den Fähigkeiten ihrer asiatischen Altersgenossen, strategisch im Internet zu recherchieren und bewusst mit den digitalen Quellen umzugehen. Das muss sich ändern, auch und gerade aus politischen Gründen.“
Bibliotheken sind also auch in digitalen Zeiten kein Auslaufmodell – im Gegenteil: Sie bleiben ein unverzichtbarer, nicht zu unterschätzender Bildungsort.
Schule soll unterrichtlich Wissen vermitteln und die Lernenden dabei unterstützen, Kompetenzen aufzubauen. Gleichzeitig sollen die Heranwachsenden aber auch eine Haltung zum Gelernten entwickeln und lernen, wie sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten lebensdienlich und gemeinwohlförderlich einsetzen können.
Dies gilt nicht minder für das Hineinwachsen in eine Buch-, Lese-, Bildungs- und Wissenschaftskultur. Lesefähigkeit, sinnerfassendes Textverstehen, der Umgang mit beruflicher Fachliteratur, die Auseinandersetzung mit aktuellen Fachdiskurse, die für den eigenen Beruf wichtig sind, die Unterscheidung zwischen bleibenden Einsichten und modischen Trends müssen geübt werden. Diese Fähigkeiten verlangen mehr als eine oberflächliche Kultur des „Googlens“. Und diese Fähigkeiten sind unverzichtbarer Bestandteil einer professionellen Haltung. Im pädagogischen Beruf kommt überdies eine doppelte Verantwortung zum Tragen: Nur wer für sich selbst den Wert einer Buch-, Lese- und Bildungskultur entdeckt hat, wird diese auch an Kinder und Jugendliche weitervermitteln können. Wer Lesemuffel und „Buchallergiker“ verhindern will, darf nicht nur strategisch Kompetenzen fördern, er muss Freude am Lesen wecken.
Haltungen oder Bereitschaften sind allerdings nicht intentional zu erzeugen. Sie bleiben eine Frage der Erziehung, sie entwickeln sich im personalen Umgang miteinander, in der Praxis innerhalb der Schulgemeinde oder durch überzeugende pädagogische Vorbilder.
Schulbibliotheken sind auch in digitalen Zeiten kein Auslaufmodell – im Gegenteil: Sie bleiben ein wichtiger Lern- und Erfahrungsort für eine im Schulalltag gelebte Buch-, Lese- und Bildungskultur. Dies gilt umso mehr für eine evangelische Schule. Das Christentum ist entscheidend eine Bildungsreligion, die aus und mit dem Wort lebt.
Ich freue mich, dass wir einen solchen Ort an unserer Fachschule heute wiedereröffnen können: mit einem aktualisierten Präsenzbestand zu allen Fächern und Handlungsfeldern, mit einem Handapparat für Lehrkräfte, einer übersichtlichen Zeitungsauslage, einem neu gestalteten, einladenden Lesesaal und mit Computerarbeitsplätzen für das Arbeiten vor Ort.
Ich übergebe die neugestaltete Schulbibliothek unserer Schulgemeinde – mit einem Wort des Lyrikers, Dramatikers und Essayisten Thomas Eliot:
„Die Existenz von Bibliotheken liefert den besten Beweis dafür, dass wir noch Hoffnung auf die Zukunft des Menschen haben können.“
(Auszug aus einer Schulleiterrede zur Wiedereröffnung der Schulbibliothek am 11. Nov. 2021)
[…] Braucht es heute noch Bibliotheken? […]
LikeLike