An der Wiege des modernen Rechts- und Verfassungsstaates steht der Wille zur Freiheit. Die Idee der Burschenschaft wurde geboren aus der Sehnsucht nach dem größeren Vaterland, dem einen Deutschland, und seiner inneren Freiheit. Der moderne Verfassungsstaat strebt als Ideal die Freisetzung des Einzelnen an, garantiert als den hierfür notwendigen rechtlichen Rahmen Gleichheit und gewährleistet als Fundament soziale Sicherheit auch über existentielle Notlagen hinweg. Freiheit aber ist niemals allein ein Recht, sondern ein politisch-pädagogischer Anspruch. Wer geistig erschlafft, sich der Trägheit, der Gleichgültigkeit, der Bequemlichkeit oder einschläfernder Sicherheit hingibt, wird über kurz oder lang auch freiheitsunmündig.
Die Coronapolitik, die uns jetzt schon länger in Atem hält, greift tief in die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft ein. Betroffen sind der Mittelstand, Familienbetriebe, der Kulturbetrieb, der Amateursport, die Bildungsinstitutionen, die Foren gesellschaftlicher Debatte, die Lebendigkeit des öffentlichen Raumes, das Vereinsleben … Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist auch noch ungewiss, in welchem Maße es im kommenden Wintersemester wieder möglich sein wird, universitäres Leben in Präsenzform zu erleben. Grund genug, sich einmal mehr Gedanken über die Freiheit zu machen.
Im Prinzip der Freiheit findet die Aufgabe des Staates, den staatslegitimierenden Zusammenhalt und die innere Bindung des Staatsvolkes zu formen und zu festigen, ihre Grenze: „Der freiheitliche Staat baut auf Werte und Gebundenheiten, welche die Freiheitsberechtigten entwickeln und an ihn herantragen. […] Die Freiheit des Bürgers ist dem Staat vorgegeben, das Freiheitsrecht wahrt eine staatsfreie Sphäre des Berechtigten, schirmt diese gegen ein Eindringen der öffentlichen Gewalt ab und stellt jeden Staatseingriff unter Rechtfertigungszwang“ – so der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof. In dieser Perspektive ist der Staat zunächst einmal gehalten, sich zurückzunehmen und den Entfaltungsraum seiner Bürger nicht zu beschränken. Zugleich ist der Staat aber auch zur Freiheitsvorsorge aufgerufen. Als Sozial- oder Kulturstaat hat er eine Verpflichtung zur Daseinsvorsorge, zur Hilfe bei existentieller Not oder auch zum Schutz derjenigen, die aus eigener Kraft (noch) nicht voll freiheitsfähig sind. In der politischen Philosophie wie der politischen Praxis wird es immer wieder neu darauf ankommen, Freiheit in Beziehung zu setzen zum Anspruch auf Gerechtigkeit, Gleichheit und (soziale) Sicherheit – und zwar so, dass der umfassende und unteilbare Anspruch auf Freiheit, wie er für ein freiheitliches Gemeinwesen typisch ist, nicht reduziert oder unter Wert verkauft wird.
Der Staat trägt somit eine dreifache Freiheitsverpflichtung: Er hat die Freiheit der Individuen vom Staat zu achten und gleichzeitig für die Freiheit Vorsorge zu treffen, zum einen durch die Erfüllung bestimmter Schutzpflichten, zum anderen durch Teilhabe- und Leistungsansprüche. Das komplementäre Verhältnis von Freiheit und Gleichheit, das den liberalen Rechts- und Verfassungsstaat kennzeichnet, muss in bleibender Spannung gehalten werden und darf weder einseitig in die eine noch die andere Richtung aufgelöst werden. Andernfalls droht im Extrem entweder ein unfreiheitlicher, egalitaristischer Umverteilungsstaat oder eine rein besitzindividualistische Gesellschaft, in der eine Politik des sozialen Ausgleichs von vornherein aufgegeben ist und soziale Folgeprobleme allenfalls als Sicherheits- und Machtfragen diskutiert werden.
Die Balance zwischen negativen und positiven Freiheitsrechten zu wahren, bedarf es einer Kultur des Maßes und eines robusten Toleranzgebotes. Der öffentliche Raum darf nicht durch partikulare Weltanschauungen, einen ideologischen Diskursgebrauch, Superlativtatbestände oder Maximalforderungen ohne den notwendigen Willen zum Kompromiss einseitig besetzt werden. Gendersprache ist nur ein Beispiel, bei dem das Mäßigungsgebot im öffentlichen Raum gegenwärtig gefährdet ist. Gendersprache führt zu einem permanenten Bekenntniszwang und macht unfrei. Sie besetzt den öffentlichen und zunehmend auch kirchlichen Raum mit einer radikalkonstruktivistischen Weltanschauung, politisiert und moralisiert den alltäglichen Sprachgebrauch, zerstört Schönheit und Differenzierungsfähigkeit unserer Sprache …
Die Demokratie lebt entscheidend von einer produktiven Freiheit zu, nicht von Tabus, Denk- und Sprachverboten oder Normierung. Dies setzt die Bejahung einer pluralen gesellschaftlichen Öffentlichkeit voraus; eine solche wird nur erhalten bleiben, wenn die Einzelnen zur Selbsttätigkeit freigesetzt werden und die Freiheit zum gesellschaftlichen Diskurs gesichert ist. Der Staat darf nicht zu normieren beanspruchen, welchen Gebrauch die Einzelnen von ihrer Freiheit machen. Das Leitbild einer so verstandenen Demokratie ist nicht eine beständige Politisierung des Privaten, sondern der interventionsfähige Bürger, der zur selbständigen sittlich-politischen Urteilsbildung fähig ist und der sich politisch einmischen kann, wenn es darauf ankommt. Der freiheitliche Staat kann eine solche Handlungsfähigkeit wecken; er muss sich aber versagen, will er den Einzelnen nicht politisch überwältigen oder vereinnahmen, eine bestimmte Handlungsbereitschaft zu erzwingen. Und nur dann wird auf Dauer auch die notwendige produktive Spannung zwischen freiheitsberechtigter Gesellschaft.
Freiheit muss immer von neuem errungen und mit Leben gefüllt werden. Auch um das rechte Verhältnis zwischen Staat, Gesellschaft und Staatsbürgern muss immer wieder neu diskutiert werden, wie der Dokumentationsteil dieser Personennachrichten deutlich werden lässt. Die Freiheit kann sowohl von Seiten des Staates als auch durch mächtige gesellschaftliche Kollektive bedroht werden: durch den Staat, der in die Privatsphäre seiner Bürger eindringt und das gesellschaftliche Leben seiner Dominanz unterwirft, aber auch durch eine Gesellschaftsformation, in der sich das nichthierarchische Zusammenspiel der verschiedenen Teilpraxen auflöst. Eine Gesellschaft, die sich des hohen Wertes der Freiheit nicht mehr bewusst ist, „dankt ab“; in der Folge wird dem Staat eine immer größere Deutungs- und Gestaltungshoheit eingeräumt – auch über solche Bereiche, über deren Ausgestaltung im freien gesellschaftlichen Diskurs gerungen werden muss.
Eine „erwachsene Freiheit“ (wie es vor Jahren einmal in der „Zeit“ hieß), bleibt gesellschaftlich wichtig – auch und gerade post coronam und ganz sicher auch in der neuen Legislaturperiode.