„Kann denn Impfen Sünde sein?“, fragt die ehemalige Kirchenredakteurin beim ZDF, Michaela Pilters, in einem Kommentar in den GKP-Informationen vom März dieses Jahres. Zunächst einmal wäre deutlich zwischen einer moralischen und einer rechtlichen Impfpflicht zu unterscheiden. Ich möchte vorausschicken, dass ich keineswegs ein Impfgegner bin. Jede Impfung stellt aber einen Eingriff in die menschenrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit dar und birgt ein Restrisiko. Daher darf über eine Impfung, für die es ganz sicher gute Gründe gibt, nur der Einzelne in Freiheit selber entscheiden. Dies gilt umso mehr angesichts neuartiger genbasierter Impfstoffe, deren Langzeitfolgen nur unzureichend bis gar nicht erforscht sind. Schon die Masernimpfpflicht für bestimmte Bevölkerungsgruppen war ein Tabubruch. Wer angesichts der neuen Impfstoffe für eine direkte oder indirekte Impfpflicht plädiert, hat den antitotalitären Konsens der Demokraten verlassen.
Die Menschen- und Grundrechte schützen den innersten Kernbereich der Persönlichkeit vor staatlichem Übergriff. Ja, hier geht es – anders als jüngst der Berliner Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl im Magazin „Publik-Forum“ meinte – in der Tat um eine Privatsache. Nur der Einzelne darf in Freiheit darüber entscheiden, ob er genbasierte Impfstoffe mit entsprechenden physiologischen Folgen an sich anwenden lässt oder nicht – oder der liberale Rechts- und Verfassungsstaat wäre auf dem Weg zum autoritären Zwangsstaat. Einer solchen Entwicklung den Weg zu bereiten, sollten sich Theologen und christliche Publizisten, die der Katholischen Soziallehre verpflichtet bleiben wollen, verweigern.
Freiheit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Aufklärung entsprechen einem humanistisch-christlichen Menschenbild, nicht Zwang und erzwungene Solidarität (zumal erzwungene Werturteile moralisch sowieso wertlos sind). Es kann von moralischen Pflichten gesprochen werden. Diese wurzeln aber in der freien Entscheidung des Einzelnen. Die großkirchliche Ethik hat aber immer daran festgehalten, dass moralische Pflichten der Selbstaufopferung niemals zur einklagbaren Pflicht werden können. Wer hierzu bereit ist, wird geehrt – dafür gibt es in der Heiligengeschichte viele Beispiele. Wer aber versucht, in der gegenwärtigen Coronakrise eine solche Pflicht zu konstruieren, übt moralisch und geistlich auf unzulässige Weise Druck aus und missbraucht sein theologisches Amt.
Ferner darf eine Pflicht nicht so weit gehen, dass ein hochrangiges Gut, in diesem Fall die körperliche Unversehrtheit und die Verfügung über den eigenen Körper, schlicht verneint wird. In ethischen Konflikt- und Dilemmasituationen bleibt allein der Weg einer sorgfältigen Güterabwägung des Einzelnen. In einer Krisensituation hierüber ernsthaft zu reflektieren, kann vom Einzelnen verlangt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, soweit stimme ich Herrn Lob-Hüdepohl zu, dass die Entscheidung des Einzelnen soziale Folgen hat, die ebenfalls zu bedenken sind. Der Einzelne darf aber nicht für die Zwecke der Gemeinschaft funktionalisiert werden. Jeder soll sich impfen lassen, der dies möchte – aber nur in Freiheit.
Im Rahmen einer sorgfältigen ethischen Urteilsbildung können Theologen und auch christliche Publizisten Orientierung geben, sie sollten sich aber dabei der hohen Verantwortung für ein humanes Zusammenleben bewusst bleiben und sich um sorgfältige Aufklärung und differenzierte Abwägung bemühen. Das unterscheidet gute Publizistik von Manipulation oder Überwältigung.
Ich denke, dass unser Gemeinwesen bei der Bewältigung der Coronakrise an einen kritischen Scheidepunkt gelangt ist, an dem sich viel für unser freiheitliches Menschen-, Staats- und Gesellschaftsverständnis und unser künftiges Zusammenleben entscheidet. Wie wenig Vertrauen in dieser Situation eine Regierungspartei wie die CDU erweckt, macht ein Beitrag des CDU-Europaabgeordneten Peter Liese, gleichfalls Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), deutlich. Hier ein Auszug aus seiner Stellungnahme zur Impfpolitik in den „Salzkörnern“ (27. Jg., Nr. 1) des ZdK vom Februar 2021:
„In wenigen Wochen, nach meiner Einschätzung schon im April oder Mai, werden wir in der EU so viel Impfstoff haben, dass die Frage der Knappheit nicht mehr im Vordergrund steht, sondern die Frage, ob wir genügend Menschen finden, die sich bereit erklären, sich impfen zu lassen. Dafür ist ein seriöser Prozess notwendig. Deswegen ist es meiner Ansicht nach immer noch richtig, dass die Europäische Kommission, anders als die USA und Großbritannien, auf der Haftung der Hersteller bei schweren Versäumnissen besteht. Und es ist auch richtig, dass die Europäische Arzneimittelagentur die Impfstoffe sorgfältiger prüft als andere, die das nur im Rahmen einer Notzulassung tun.
Ich glaube, wir sollten nicht über eine Impfpflicht spekulieren, aber aus meiner Sicht ist es eine Verantwortung von Christen, sich impfen zu lassen. Um die Pandemie zu beenden mit den schrecklichen Einschränkungen z. B. für Kinder, die nicht regelmäßig zur Schule gehen können, brauchen wir eine hohe Impfrate. Zwar gibt es keine endgültige wissenschaftliche Datenbasis, aber das, was wir wissen, sagt, dass geimpfte Personen auch wesentlich weniger zur Übertragung der Krankheit beitragen als nicht-geimpfte. Vor allem ist es aus meiner Sicht eine ethische Verantwortung, sich impfen zu lassen, um die Pflegekräfte, die in den letzten Monaten bis an den Rand der körperlichen und geistigen Erschöpfung und teilweise darüber hinaus gearbeitet haben, dauerhaft zu entlasten.“
Der CDU-Politiker grenzt sich nicht eindeutig gegenüber einer menschenrechtswidrigen, totalitären Impfpflicht ab. Eine Impfpflicht bleibt ein Angriff auf die grundgesetzliche Ordnung. Hierüber sollte man nicht nur „nicht spekulieren“, hier sollte jeder, der sich zur grundgesetzlichen Ordnung bekennt, klar und eindeutig Nein sagen.
Die Drohung, eine Impfpflicht komme, wenn sich nicht genügend Menschen impfen lassen, steht weiterhin im Raum. Eine solche Politik ist eines autoritären Zwangsstaates würdig, sollte aber nach unserem Grundgesetz tabu sein.
Der Unionspolitiker spricht selber von der Möglichkeit „schwerer Versäumnisse“. Bei jeder Impfung, erst recht bei diesen neuartigen Impfstoffen, bleibt ein Restrisiko. Dieses abzuwägen, darf allein Sache des Einzelnen sein – wer anderes will, hat den antitotalitären Konsens unseres liberalen Rechts- und Verfassungsstaates verlassen. Es gibt eine ethische Verantwortung des Einzelnen, in einer derartigen Krisensituation eine sorgfältige Güterabwägung vorzunehmen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der CDU-Politiker zündelt am Ende seines Beitrags wieder gewaltig, wenn er von einer „ethischen Verantwortung, sich impfen zu lassen“, spricht. Eine solche Verantwortung gibt es nach großkirchlicher Tradition und damit auch für die Katholische Soziallehre um der Personalität des Einzelnen willen nicht – das sollte ein CDU-Politiker und ZdK-Mitglied eigentlich wissen.
Das Pflege- und Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, ist eine politische Aufgabe. Und hier hat eine affektgeleitete Politik versagt. Statt in die Grundrechte der Bürger einzugreifen und einen autoritären Zwangsstaat herbeizureden, sollte sich die Union besser fragen, wie künftig eine rationale Krisenvorsorge-, Katastrophen- und Zivilschutzpolitik aussehen kann, meinetwegen mit der pandemiebegründeten Zwangsbewirtschaftung von Intensivbetten (was allerdings voraussetzt, dass Politik und Verwaltung überhaupt noch zu einem zielgenauen und effektiven Krisenmanagement in der Lage sind – angesichts des Staatsverfalls in den Merkeljahren bestehen hier erhebliche Zweifel).