Persönliche Kontakte in die DDR hatten wir mangels „Ostverwandtschaft“ nicht. Das änderte sich in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre: Aufgewachsen im Zonenrandgebiet, gehörten Luftballonweitflugwettbewerbe zu vielen Sommer-, Pfarr- und Schulfesten. Dabei ging es nicht allein um den Wettbewerbscharakter, wie ich erst später verstanden habe: Die Ballons sollten über die Grenze nach Osten fliegen. Und einmal gewann ich sogar den ersten Preis: zehn Kinokarten, überreicht vom Bürgermeister, mit Bild in der Lokalzeitung. Der Ballon wurde in der Nähe von Halberstadt gefunden. Eine Bekanntschaft mit der Finderfamilie entwickelte sich. Seitdem fuhren wir regelmäßig im kleinen Grenzverkehr dorthin und besuchten gemeinsam den Ostharz. Da auf dem Land ein wenig Selbstversorgung möglich war, erhielten wir im Gegenzug Wurst aus Hausschlachtung und Eier als Geschenk mit nach Hause – im Kofferraum für die Grenzkontrolle unter Decken versteckt.
Eine Fahrt ist mir bis heute deutlich in Erinnerung geblieben: Sommer 1989, letzter Feriensonntag in der DDR. Die angespannte Atmosphäre war nahezu greifbar. Es gab abfällige Bemerkungen. Denn als Westdeutscher fiel man unwillkürlich auf. Auf der nächtlichen Rückfahrt (man musste die Grenzübergangsstelle, so der DDR-Jargon, bis Mitternacht passiert haben) wurde unser Westauto in einem Dorf angehalten, Jugendliche trommelten aufs Autodach und rüttelten den Wagen durcheinander. Folgen hatte es nicht, nach kurzem Stopp konnten wir weiterfahren – unheimlich war es aber doch.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Nahezu täglich gab es neue Entwicklungen. Erstmals schauten wir in der Familie die „Aktuelle Kamera“, um zu erfahren, wie in der DDR über die krisenhaften Ereignisse berichtet wurde. Ich weiß noch, wie die Einschränkung der Reisefreiheit in die CSSR in den letzten drei Minuten der Sendung nahezu versteckt wurde. Bei alldem muss ich gestehen, den historischen Moment am 9. November fast übersehen zu haben. Ja, ich hatte davon gehört, aber zunächst nicht ferngesehen. Die Brisanz von Schabowskis Mitteilung auf der abendlichen Pressekonferenz erfasste ich irgendwie so richtig erst ein paar Tage später. Seltsam, aber es fühlte sich zunächst gar nicht nach Mauerfall an, allzu selbstverständlich schienen wir uns mit diesem Monstrum eingerichtet zu haben … – auch wenn Besuche an der innerdeutschen Grenze bei mehreren Klassenfahrten und Schulausflügen zum Pflichtprogramm gehörten. In meiner Schulzeit in den Achtzigern wurden wir, anders als es heute mitunter zu hören ist, immer wieder an das Wiedervereinigungsgebot erinnert.
Recht bald stand der Gegenbesuch an. Wir holten unsere „Luftballonbekanntschaft“ ab und fuhren in den Westen. Noch heute habe ich am Abend auf der Rückfahrt die Autoschlange am provisorischen Grenzübergang vor Augen. Ein DDR-Auto in der Reihe der Wartenden bot sich an, unseren Besuch einsteigen zu lassen, damit wir nicht in der langen Schlage warten mussten.
Eine Berlinreise mit einem Schulfreund zur Nacht auf den 3. Oktober 1990 hatten wir schließlich doch nicht realisiert. Das Datum wirkte ein wenig zufällig. Und vielleicht ist es auch nicht ganz zufällig, dass sich bis heute keine so recht überzeugende Form einstellen will, den neuen Nationalfeiertag festlich zu begehen. Die Wiedervereinigung bleibt letztlich doch emotional ein wenig mehr mit dem 9. November verbunden, als die Mauer fiel.
Die Wiedervereinigungszeremonie vor dem Reichstag habe ich dann vor dem Fernseher verfolgt: Zum Anstoßen gab es Sekt; am Abend sind wir in der Familie zum Ökumenischen Gottesdienst gegangen. Später, bereits im Studium, habe ich während der Semesterferien regelmäßig im Untereichsfeld in einer Ferienstätte gearbeitet. Für mich gehörte es immer dazu, mit den Kindern und Jugendlichen zur nahe gelegenen ehemaligen Grenze zu gehen und zu erklären, was dort geschehen ist. Es ist wichtig, die Erinnerung an diese Phase deutscher Nachkriegsgeschichte wachzuhalten. In den ersten Jahren waren immer mal wieder Jugendliche darunter, die selbst noch Erfahrungen als Pionier gesammelt hatten und davon berichten konnten. Aus dem Mund von Gleichaltrigen wirkt Geschichte noch einmal eindrücklicher und lebendiger. Familien aus den neuen Bundesländern waren anfänglich mitunter recht erstaunt, wie mit Aussichtstürmen, Hinweistafeln und Schildern die Erinnerung an die unmenschliche und unnatürliche Teilung wachgehalten worden war.
Und so hatte ich es auch immer empfunden und in der Familie vermittelt bekommen: Es gibt nicht West- und Ostdeutschland. Auf beiden Seiten der Grenze ist Deutschland. Und dieses Gefühl ist geblieben. Für die Wiedervereinigung gab es keine Blaupause, nicht alles mag politisch optimal geglückt sein. Aufs Ganze gesehen, dürfen wir aber überaus dankbar sein, dass eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit möglich geworden ist – im knappen Zeitfenster noch nicht einmal eines Jahres nach Maueröffnung.