Rezension: Lyrische Sehenswürdigkeiten – eine Würdigung aus fachdidaktischer Perspektive

Thomas Hald: die abendsonne im glas. Gedichte (Poesie 21), Deiningen: Steinmeier 2018, 96 Seiten.

Haben Sie dieses eigenartige Verhalten auch schon beobachtet? Man steht an einer dieser Sehenswürdigkeiten, dem Eiffelturm, der Tower Bridge, dem Brandenburger Tor oder dem Hradschin – und die Menschen fotografieren, was das Handy aushält. Das allein ist noch nicht bemerkenswert; bemerkenswert ist aber, dass es gleich nebenbei Ansichtskarten von eben diesen Sehenswürdigkeiten zu kaufen gibt, dass die Bilder im Netz stehen und man sie nur herunterzuladen bräuchte und sich bei begrenzter Reisezeit nicht selbst um die beste Perspektive bemühen müsste. Man möchte mit aufs Bild. Mehr noch: Man möchte sein eigenes Bild, seinen eigenen Blick verewigen. Davon handelt der vorliegende Gedichtband. Er thematisiert Sehenswürdigkeiten.
Was macht etwas, das man sieht, wert, gesehen zu werden? Was macht es zu einer Sehenswürdigkeit? Dass alle da waren? Oder dass man selbst da war? Dass man selbst da war, wo alle waren? Nein – lässt Thomas Hald den Leser in seinem neuen Gedichtbahn ahnen – es ist, dass ich anders da war, als alle anderen da waren. Ein Gedichtband, fast ausschließlich gefüllt mit Gedichten, die Titel tragen wie: „mining, berggasse“, „mariawald“, „neuschwanstein“, „london“, „amsterdam“, „hamburg“, „olympia“ und so weiter. Ikonen des Tourismus. Berühmte Städte und Stätten, Sehenswürdigkeiten eben, die thematisiert werden. Kann man dazu noch etwas sagen? Ja, genau so, wie man selbst den Eiffelturm noch einmal für sich fotografieren kann. Die Gedichte halten fest, was das Ich erlebt hat – bis hin zu intimen Details, die ihm zuweilen der wirkliche Höhepunkt der Sehenswürdigkeit zu sein schien. Hemmungslos privat. Im Inhaltsverzeichnis stehen hinter den Gedichten Daten: Sind die Texte an diesem Tag entstanden – oder waren die Eindrücke auf für das Ich nur gültig an diesem einen Tag? Haben sie sich durchs (Be-)Schreiben aufgelöst – oder erst herausgebildet: „am hauptbahnhof die augen voll von / morgensonnengold // (…) spätabends, (…), fließt dir/ das gold vom morgen aufs papier“ (S. 70). Peter Rühmkorf gab 1979 einen Gedichtband mit dem Titel „Haltbar bis Ende 1999“ heraus, der sich auf ein gleichnamiges Gedicht aus dem Jahre 1978 bezog. Ist bei Hald das Entstehungsdatum auch das Verfallsdatum – oder ist das gerade die Frage? Wie lange sollen diese Gedichte halten? Vielleicht nur einen Tag – und gerade deshalb ein ganzes Leben. Weil sie an diesen einen Tag, an diese ein-maligen, unverwechselbaren, unwiederholbaren Augenblicke erinnern: Wie etwas war nur „an diesem Abend“ (S. 19). Hier will das Ich zuerst einmal nichts verallgemeinern; im Gegenteil: Dass Allgemeingut wird vereinzelt und aufs Ich bezogen. Ist es dann noch ein „Gut“? Oder wird die Sehenswürdigkeit überhaupt erst dadurch zum Gut, dass man sie für sich prüft? Das wird man lesend erarbeiten müssen.
Die Gedichte provozieren beim Lesen Gefühle, indem sie zuallererst von (vergangenen) Gefühlen berichten, von Assoziationen: „LONDON (…) war mein erster gedanke beim anblick der …“ (S. 16). Sie berichten wie der zitierte Reiseleiter, von dem, was kommentiert und damit vom Gesehenen getrennt wurde (S. 18).
Man liest das kleine Büchlein beim ersten Mal so, wie man einen Reiseprospekt durchblättert oder einen Fremdenführer: Was kennt man, was kennt man nicht, wo war man auch? Stimmen die Bilder? Aber es sind keineswegs zu Ikonen gefrorene Bilder, Zitate des Bekannten, es sind keineswegs auch nur Skizzen, „hingepinselt, gereimte zeilen / auf dem papier“ (S. 79) keine Kleinigkeiten wie „eine/dampfende tasse kaffee“ (S. 67), sondern Gegengewichte, die das falsche Leben und Erleben des Allgemeinen ausgleichen sollen: „ein schwereres gegengewicht / um die balance zu finden / formlosigkeit mit deinem gedicht / zu überwinden“ (S. 78). Der Autor hat gewissermaßen „den pinsel im Mund“ (S. 20), er malt nicht wie die Maler, er fotografiert nicht wie die Touristen, sondern er ahmt die Geste des Malens nach, ahmt sie mit Worten nach, die die gleiche Geste zu etwas ganz anderem werden lassen: „könnte ich malen, dann wäre ich / kein dichter: würde schauen und schweigen“ (S. 52). Aber er schreibt. Er ordnet.
Hald schreibt in leichter Sprache, gelegentlich etwas sehr leicht, sehr nah am Alltagsjargon, der die Wahrnehmung verstellt („enorm“ [S. 72] – passt das Wort in einen Gedichtband, gleich zweimal?) Viele Gedichte sind nicht gereimt, aber sie zeigen den Sprachartisten, der zuweilen verschwenderisch mit wunderschönen Reimideen umgeht, indem er sie nicht nutzt: „erst schluckte er, dann spuckte er“ (S. 17). „TRAVEMÜNDE // fast eine sünde“ (S. 44). „muscheln“, neben „möwen, die sich kuscheln“ (S. 44). Und dann plötzlich ein Gedicht, das so fein und kompliziert, so artifiziell und federleicht gereimt ist, dass man es beim ersten Lesen überliest: Ausgerechnet das musikalische „Café Mozart“ weist das Reimschema „a,b,c,b,a,c – d,e,d,e, f,g,f,g“ auf (S. 63). (Nur fällt dem mit dem Mund malenden Ich im Café etwas ganz anderes auf, was wir hier dezent übergehen wollen!)
Aber die Hemmungslosigkeit hat einen guten Sinn. Auf diesen Sinn weisen kleine Sprachbilder, die wie Miniaturen in wenigen Worten auf etwas Großes deuten, das man selbst noch auffinden muss: „die eine stirbt, / schon kommt die nächste aus dem nichts“ (S. 86) heißt es – über Wespen. Nur über Wespen? Da „stand im thronsaal nie ein / thron“ (S. 15) – was viel zu denken gibt, zum Beispiel ob ein Esszimmer auch ein Esszimmer ist, wenn man nie in ihm isst? „stop-and-go auf dem Rückweg“ (S. 17) – welch ein Gedankenbild. Bei „Lindau“ erlebt er eine „panoramafahrt / über den boden“ (S. 23) – ist das nicht die Theorie des Tourismus in vier Worten, zumal der Wortsetzer uns lustig stolpern lässt. Denn insgesamt lautet der Satz: „drei länder // panoramafahrt / über den boden // see“ (S. 23). Und: „leucht- / feuer werden vom nebel erstickt.“ (S. 45) – so geht es den Warnern und Propheten; denn „eine boje liegt / auf dem trockenen“ (S.46). In Rom stößt er auf Säulen, die „nur noch ihr eigenes gewicht“ tragen (S. 28) – und vielleicht das Altern symbolisieren – oder den staatstragenden Politiker, den Säulenheiligen, der nicht zurücktreten mag, obwohl er nur noch sich selbst trägt. (Ja, es gibt auch Tagespolitik: Den Brexit [S. 85] etwa. Und witzige Kulturkritik: „timing // beethovensklavier- / trio: zwischen zwei sätzen / klingelt ein handy“.) Kinder, denen der Ballon wegfliegt, und die so ihr Glück nicht fassen können, so wie es uns Erwachsenen im ganzen Leben meistens geht: Man kann es nicht fassen (S. 53). So könnte man, blütenlesend, durch den Text wandern, angeregt vom besonderen Blick und der in Sprache verallgemeinerten Einmaligkeit, die vielleicht mehr über das Ganze verrät, als allgemeine Sätze: „ein spatz / schnappt sich die brösel“ (S. 84).
Das Buch ist artifizieller, als es sich präsentiert und dem spontanen Leser darstellen mag: Es gibt nicht nur die offene Verweise auf andere Poeten, Reiseschriftseller oder Individualisten, auf den heiligen Benedikt (S. 10), Heine (S. 46) (der, wie vielleicht alle Dichter, „beim kurtheater / [nur, V. L.] auf einem niederen sockel“ [S. 47] steht). Verwiesen wird auf Heraklit (Seiten 27. 50) – der das geheime Motto des Gedichtbandes formulierte, nämlich, dass man nichts zweimal gleich erlebt), auf Hölderlin (S. 78), auf Rilke (S. 11; des „überreifen jahrs“; bei Rilke: „Überreif // Mancher Sommer schenkt sich übervoll, / daß man die Früchte nicht mehr pflücken mag. / Die Ernte, die in meinen Körben schwoll, / in meiner Hand in saftig prallen Stücken lag, // war überreich, daß ich sie nur vergeude.“). Sondern es gibt auch feine (und fein versteckte) Zitate, ausgeliehene Bilder: „mir ist immer so fad / (drum fällt mir was ein) / bei der rasur im bad“ – John Lennon fiel dabei ein Liebenslied an seine Frau Yoko ein: „In themiddleof a shave I callyourname / Oh, Yoko / Oh, Yoko / Mylove will turn you on” („Oh Yoko“). Das Gedicht „Schwalben“ (S. 72) erinnert Ernst Tollers erfolgreiches „Schwalbenbuch“ (1924). Und die Frage „wie weit muss man gehen, / um die tage zu nehmen, / wie sie sind?“ (S. 76) an Bob Dylans bekanntestes Lied: „How many roads must a man walk down …”(vergleiche auch Seite 16).
Wie die Sehenswürdigkeiten muss man auch diese Gedichte mehrmals besuchen und dann herausfinden, was sie bedeuten für das eigene Leben.
Die Gedichte dieses Bandes eignen sich (wie schon der frühere Band „im tonfall des jungen sommers. gedichte“. Deiningen 2011; vergleiche Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 3/2013, S. 305) sehr gut zur Einführung in die Spezifika literarischen Sprechens, speziell der Lyrik. Einige Aspekte sind bereits angeklungen:
• Sämtliche Gedichte zeigen an (auch jungen Schülern) bekannten Beispielen („London“) den Vorgang individualisierten Schreibens: Äußere und innere Welt werden unterschieden und dann wieder in Beziehung gesetzt durch eine eigenwillige Metaphorik; durch biographische Einzelheiten; durch Hervorhebungen individueller Aspekte oder sogar Assoziationen – insgesamt durch die Perspektive, die das Ich einnimmt (Blick aus dem Bus, aus dem Touristenboot, vom Balkon und so weiter) Zuweilen nennt nur die Überschrift einen Namen, der Allgemeines verspricht, während der Text ausschließlich subjektiv und zuweilen privat bleibt. Herauszuarbeiten wäre, wie Hald diese Individualisierung erreicht.
• Das Prinzip des pars pro toto wird immer wieder erkennbar, das heißt, an (unauffälligen) Einzelheiten wird etwas Ganzes erklärt. Bei Hald werden Lebenserfahrungen – fast schon Gesetzmäßigkeiten – aus unscheinbaren Beispielen gewonnen – etwa die Boje, die auf dem Trockenen liegt und so keine Funktionen mehr erfüllen kann – als Bild für die funktionslos gewordenen traditionellen Orientierungen (Sitten, Normen, Kirchen und so weiter) in der modernen („ausgetrockneten“, verebbten, sich zurückziehenden) Gesellschaft.
• Hald geht virtuos mit stilistischen Mitteln wie Zeilenstil, Zeilenbruch oder Reim um: Welche Wirkung (Überraschung, Aufmerksamkeit, Erstaunen, Verwunderung, Aufmerken, „Stolpern“) erreicht er durch diese Stilmittel? Wann reimt er – warum? Welche Wirkungen erzielt der Reim? Welche Bedeutung hat die Kleinschreibung, die ja einen bedeutsamen Lesewiderstand darstellt – und so bewusstes Lesen verlangt.
• Zahlreiche Gedichte formulieren eine Poetik der Lyrik, wenn sie den Vorgang des Schreibens betrachten. Warum schreibt Hald? Ist das Motiv verallgemeinerbar? Wie schreibt er diese Gedichte? Ist das typisch für die Lyrik? In seinen Vergleichen mit der Malerei weist er die Sprache und ihre Leistungen als Besonderheit der Literatur aus – die bestimmte Ansprüche der bildenden Kunst („Kontemplation“) nicht übertragbar machen, weil Sprache immer Reflexion ist. Und ohne Sprache bleiben Bilder stumm.
• Das Prinzip der expliziten und impliziten Intertextualität ist sehr gut zu erarbeiten (zur Theorie vergleiche Richard Aczel: Intertextualität und Intertextualitätstheorien, in: Ansgar Nünning [Hg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar 2004 [3. Aufl.], Seiten 299 bis 301). Der Autor zitiert andere Autoren, etwa im Motto, im Text, aber er übernimmt auch allgemeine – oder nur ihm – bekannte Textstellen anderer Autoren. Worte sondern zwar im Alltag aus den diffusen Eindrücken das Gemeinte aus, aber sie erweitern auch das konventionelle (scheinbar definierte) Sprechen, indem sie Mitgemeintes transportieren. Die Gedichte Halds sind teilweise ein „Mosaik aus Zitaten“ (vergleiche Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe [Hg.]: Literaturwissenschaft und Linguistik III, Frankfurt am Main 1972, Seiten 345 bis 375, hier: S. 345).

Volker Ladenthin (Bonner Zentrum für Lehrerbildung an der Universität Bonn)

Ich danke Dr. Hans-Michael Tappen (München) für die Vermittlung dieser Rezension.

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