„Wie sich die CSU von ihrem C entfernt“ – die Titelzeile über dem Kommentar einer Journalistin der Stuttgarter Zeitung steht pars pro toto für zahlreiche Äußerungen zum diesjährigen Kreuzerlass der bayerischen Staatsregierung. Mittlerweile hat sich der Pulverdampf wieder gelegt; die politisch-publizistische Öffentlichkeit hat vor der bayerischen Landtagswahl in diesem Monat neue Aufreger gefunden: ein Anlass, noch einmal auf die Kontroverse in diesem Frühjahr zurückzuschauen. Ein Kommentar soll Position beziehen und darf zuspitzen – keine Frage. Ein kluger Kommentar allerdings kehrt Kontroversen nicht einfach unter den Tisch oder moralisiert politische Streitfragen auf eine Weise, die dem Gegenüber den guten Willen von vornherein abspricht.
Der Verfasser hat mehrfach den bayerischen Kreuzerlass ausdrücklich verteidigt. Ich habe keine Schwierigkeiten damit, über diese Position mit mir streiten zu lassen. Ich habe aber Schwierigkeiten damit, wenn parteipolitisch strittige Fragen so verkürzt und moralisiert werden, dass der andersdenkenden Seite das „C“, also das Christliche, abgesprochen wird. Denn die christliche Botschaft ist politisch, aber nicht parteipolitisch. Christen engagieren sich in einem weiten demokratischen Spektrum links wie rechts der Mitte. Und das ist gut so. Denn unter Christen darf es unterschiedliche Positionen zu politischen Fragen geben, darf über politische Streitfragen politisch diskutiert werden und muss um das rechte politische Handeln mitunter auch hart gerungen werden. Stattdessen zeigt sich angesichts der kontrovers geführten Migrations- und Integrationsdebatte ein neuerlicher katholischer Integralismus, auf Seiten der Bischofskonferenz wie des Laienkatholizismus. Äußerst begrenzt ist am Ende das parteipolitische wie sozialethische Spektrum, das innerkirchlich für zulässig erachtet wird, übrig bleibt nicht selten eine gesinnungsethische Schrumpfform des Christlichen, die sich vom Traditionsstrom katholischer Staatsethik grundlegend verabschiedet hat. Die Integrität des Staates, seine Rechtsfunktion und die kulturelle Identität des Staatsvolkes zu verteidigen, mag sozialethisch gegenwärtig nicht hoch im Kurs stehen, widerspricht meines Erachtens aber gerade nicht einer politischen Ethik aus christlicher Verantwortung.
Das Kreuz in Bayerns Behörden macht darauf aufmerksam, dass staatliches Handeln fehlbar bleibt. Der Staat, in dessen Amtsräumen Kreuze hängen, weiß darum und respektiert, dass seine Amtsträger noch einer anderen Instanz gegenüber verantwortlich sind. Wenn wir das unnachahmliche Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ ernstnehmen, sollte sich umgekehrt auch die Kirche vor allzu voreiligen politischen Gewissheiten in vorletzten Fragen hüten. Nur ein Beispiel: Der Zusammenhang, der zwischen der Tätigkeit von Rettungsschiffen, die im Auftrag internationaler Nichtregierungsorganisationen fahren, und der Organisierten Kriminalität von Schlepperbanden besteht, ist – um nur ein Beispiel aus dem oben genannten Kommentar wiederum pars pro toto aufzugreifen – differenzierter zu beurteilen, als dies eine Empörungsrhetorik nahelegt, die vom „Gipfel des Zynismus“ spricht. Über Fragen des politischen Stils auf der einen wie der anderen Seite der politischen Auseinandersetzung kann man dann immer noch streiten. Die Entfremdung zwischen CSU-Führung und -Basis hat nicht erst, wie der Kommentar suggeriert, mit dem jüngsten Asylstreit begonnen – schon der Aufstieg der AfD in Bayern ist ein Anzeichen dafür. Die einen stören sich an einer restriktiver werdenden Einwanderungspolitik, die anderen an einer Politik, die Fragen nach Vaterland, Nation, Identität oder nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staates an den Rand schiebt. Dabei geht es nicht allein um die Frage, welche Partei bei der nächsten Landtagswahl verlieren oder gewinnen wird, sondern es geht um die Frage, wie wir in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren als Volk gemeinsam leben wollen. Diese Kontroversen müssen wir führen – auch und gerade unter politisch interessierten Christen. Und ich wünsche mir an diesem Tag der Deutschen Einheit, dass wir diese Kontroversen mit dem notwendigen Freimut, der unerlässlichen Toleranz und dem gebotenen Respekt vor unterschiedlichen parteipolitischen Positionen führen können, ohne dass wir einander das „C“ absprechen.