Krise Christlicher Sozialethik

Reinhard Bingener kommentiert im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Februar 2016 (Nr. 26/2016) unter der Überschrift „Zweifach in Verantwortung“ die Rolle der beiden großen Kirchen. Diese stellt sich ambivalent dar. Auf der einen Seite hätten die Kirchen – so Bingener – Beachtliches in der derzeitigen Flüchtlingskrise geleistet, sei es an ehrenamtlicher Hilfe, sei es an finanziellen Sofortmitteln. Auf der anderen Seite – so schreibt er – „und das ist das Manko, liegen die Kirchenleitungen bei der politischen Beurteilung der Lage in Europa seit Monaten schwer daneben. […] Die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, die Einrichtung von Transitzonen, die Beschränkung des Familiennachzugs – jeder Vorschlag wurde umgehend als Verstoß gegen christliche Moralvorstellungen denunziert. Beide Kirchen gehörten damit zu jenen Kräften im Land, die dazu beigetragen haben, dass über Monate eine Debatte darüber verweigert wurde, wie man sogeannnte Pull-Effekte noch rechtzeitig abstellen kann, um nicht in jene Existenzkrise der EU zu geraten, in die man sich inzwischen vollends hineinmanövriert hat.“

Das derzeitige politische Versagen der beiden Kirchen ist umso bemerkenswerter, da sowohl an der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland als auch der Deutschen Bischofskonferenz zwei ausgewiesene Sozialethiker stehen. Die Flüchtlingskrise legt offen, wie ausgezehrt die Christliche Sozialethik mittlerweile ist. Statt kriteriengeleiteter Verantwortungsethik regieren eine maßlos gewordene Gesinnungsethik, politische Naivität und wohlstandsverwöhnte Infantilität. Verloren gegangen ist das Bewusstsein, dass der Staat als Träger des Gewaltmonopols in Krisenzeiten mitunter harte Entscheidungen treffen muss.

Die Christliche Sozialethik ist in der Vergangenheit allen Modethemen hinterhergelaufen, von Gender über Inklusion bis Postdemokratie. Nun sitzen die Bischöfe einer moralisierenden Willkommenskultur auf, die nicht mehr zwischen legitimen Asylgründen, ungerechtfertigter Einwanderung oder Kriminalität zu differenzieren vermag. Vergessen ist das hohe Reflexionsniveau, das die christliche Staatslehre einmal auszeichnete und das Europa geistesgeschichtlich stark gemacht hat. Souveränität, Staatsräson, Ordre public, Leistungsfähigkeit des Staates oder die kulturelle Identität des Staatsvolkes scheinen für Bischöfe inzwischen unbekannte Vokabeln zu sein. Als sozialethisch kluge Ratgeber angesichts des derzeitigen Staatsversagens fallen die Kirchen leider aus.

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