Leserbrief: Darf Kirche sich in Politik einmischen?

Verbund der nord- und mitteldeutschen Bistumszeitungen übernimmt Leserbrief zum Themenschwerpunkt „Wie politisch soll Kirche sein?“:

Axel Bernd Kunze: Darf Kirche sich in Politik einmischen?, in: aus.sicht. Aus Kirche und Gesellschaft – Verlagsgruppe Bistumspresse GmbH [Tag des Herrn. Zeitschrift für die ostdeutschen Bistümer; neue KirchenZeitung. Katholisches Magazin für das Erzbistum Hamburg; Kirchenbote. Katholisches Magazin für das Bistum Osnabrück; Der Sonntag. Katholisches Magazin für das Bistum Limburg; Glaube und Leben; Bonifatiusbote. Katholisches Magazin für das Bistum Fulda; KirchenZeitung. Katholisches Magazin für das Bistum Hildesheim] (2025), H. 23 v. 9. November 2025, S. 9.

Zwischenruf: Wie politisch soll Kirche sein?

Wie politisch soll Kirche sein?, fragt der Verbund der katholischen Bistumspresse im Themenschwerpunkt seiner Ausgaben vom 12. Oktober 2025 (Nr. 21/2025, S. 10 ff.). Das Evangelium ist politisch relevant, doch lassen sich aus ihm nicht eins zu eins parteipolitische Forderungen ableiten. Genau dies aber versuchen Bischofskonferenz und ZdK immer häufiger. Aktuelle Äußerungen erwecken den Eindruck, als verstehe sich eine „synodale“ Kirche hierzulande immer stärker als Nichtregierungsorgansiation, und dies mit linkspolitischer Schlagseite. Nehmen wir die unnachahmliche Formel „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ ernst, verbieten sich sowohl politische Heilslehren als auch voreilige Gewissheiten vonseiten der Kirche in vorletzten Fragen. Es bleibt auszuhalten, dass Christen politisch zu unterschiedlichen Antworten finden können. Kirche sollte nicht bestimmte politische Positionen von vornherein aus dem Diskurs ausschließen, sondern fragen, ob der andere nicht auch gute Gründe haben könnte – auch andersdenkende Christen in den eigenen Reihen.

Zwischenruf: „Der kleinste gemeinsame Nenner“ – oder: Moralisierung ist noch keine politische Verantwortung

„Der kleinste gemeinsame Nenner“ – so bezeichnet Regina Einig in einer Kolumne für die katholische Wochenzeitung „Die Tagespost“ vom 25. September 2025 den „Kampf gegen rechts“, dem sich die Deutsche Bischofskonferenz verschrieben habe. Angesichts grundlegender Unterschiede im Amts- und Kirchenverständnis komme der lautstarken Abgrenzung gegenüber Rechtspopulismus und Rechtskonservatismus eine stabiliserende Funktion zu. Sekundiert wird der Wandlungsprozess einer synodalen Funktionärskirche zur säkularisierten Nichtregierungsorganisation durch die universitären Vertreter der Christlichen Sozialethik. Beim runden Stiftungsfest der Unitas Freiburg im Juni dieses Jahres lieferte die örtliche Sozialethikerin, Ursula Nothelle-Wildfeuer, hierfür bestes Anschauungsmaterial. Ihr Festvortrag ist in Ausgabe 3/2025 der Dachverbandszeitschrift „unitas“ in gekürzter Form dokumentiert.

Die Festrednerin bezieht sich dabei auf eine Erklärung der deutschen Bischöfe aus dem Vorjahr, mit der diese „völkischen Nationalismus“ als „uvereinbar mit dem Christentum“ verwerfen und die AfD für Christen für „unwählbar“ erklären – nicht in Form eines klassischen Wahlhirtenbriefes, wie Nothelle-Wildfeuer eilfertig beteuert. Schließlich würden die Bischöfe keine Parteinahme betreiben, sondern sich für Menschenwürde und christliche Grundwerte einsetzen. Auf die Idee, dass es möglicherweise gute Gründe geben könne, über die Regierungspolitik der vergangenen zehn Jahre anders zu denken und nach politischen Alternativkonzepten zu suchen, kommt die Festrede erst gar nicht. Viel ist in der gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Rhetorik von Haltung die Rede, doch eine der Unvoreingenommenheit ist damit wohl nicht gemeint. Sich mit Gegenargumenten unvoreingenommen auseinander zu setzen und diese zu prüfen, im Ringen um das jeweils bessere Argument, ist nicht Sache gesinnungsethischer Agendawissenschaft.

Nothelle-Wildfeuer wähnt sich auf der richtigen Seite, diskutiert weder politisch noch sozialethisch, kanzelt ihre Gegner moralisierend ab, spricht Andersdenkenden von vornherein den guten Willen ab, möglicherweise auch gute Gründe vorweisen zu können. Die Reaktionen auf die genannte Erkärung der Bischöfe schwankte zwischen begrüßenswerter, notwendiger Orientierung und unzulässiger parteipolitischer Einmischung der Kirchen. Es gäbe also durchaus guten Grund, sich abwägend und erörternd mit der Erklärung auseinander zu setzen. Doch dies gelingt Nothelle-Wildfeuer nicht. Die Theologin gliedert ihren Vortrag in neun Thesen (im Folgenden kursiv gesetzt), die so einseitig sind, als wären diese dem „Schwarzen Kanal“ der früheren Blockkonfrontation entnommen. Versuchen wir dennoch eine Entgegnung.

1. Kirche und Politik – keine Parteipolitik: Eine Partei sei für Christen unwählbar – diese Aussage soll keine Parteinahme darstellen? Früher haben die Kirchen noch gesagt, sie machten keine Politik, sie machten Politik möglich. Doch wer oppositionelle Gegenentwürfe unter Generalverdacht stellt, gegen Menschenwürde und christliche Grundwerte zu sein, argumentiert in der Tat nicht politisch, sondern moralisiert, emotionalisiert und polarisiert – einmal davon abgesehen, dass offenbar ohne jede sozialethische oder innerkirchliche Diskussion von vornherein feststeht, was in der Politik als christlich zu gelten habe und was nicht. Dies leitet zur nächsten These über.

2. Christsein heißt politisch sein: Die unnachahmliche Formel „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ wehrt nicht allein politische Heilslehren ab, sondern legt auch der Kirche politische Zurückhaltung in vorletzten Fragen auf. Glaube ist politisch relevant, doch lassen sich aus dem Evangelium nicht eins zu eins parteipolitische Forderungen ableiten. Vielmehr eröffnet das Evangelium den Raum für eine Politik aus christlicher Verantwortung, die gerade im politischen Diskurs Kontur gewinnt und eine Verschiedenartigkeit säkularer Gesetze zulässt. Christen sind wie andere politische Akteure nicht davon befreit, immer wieder neu darum zu ringen, wie das staatliches Zusammenleben bestmöglich erhalten und gestaltet werden kann.

3. Neuevangelisierung und gesellschschaftliche Verantwortung: Nothelle-Wildfeuer will kein „Sakristeichristentum“ – so weit, so gut. „Wahre Mission“, so die Freiburger Theologin, bedeute, „Menschen in ihrer konkreten Lebensrealität zu begegnen“. Statt politische Verdikte auszusprechen, könnten Sozialethik und Bischofskonferenz damit beginnen und versuchen, nach der Lebensrealität jener zu fragen, die sich von den etablierten Parteien offenbar nicht mehr politisch vertreten fühlen. Stattdessen wird über sie, aber nicht mit ihnen geredet.

4. Kirche als moralische Stimme? – Die Kirche sei nicht zur „Moralagentur“ verkommen, wie Kritiker meinten, sondern erfülle ihren prophetischen Auftrag, sie übe keinen „Herrschaftsanspruch“ aus, sondern diene dem Gemeinwohl. Umso besser, wenn dieser prophetische Habitus kompatibel zum Regierungsprogramm ist. Ein Dienst am Gemeinwohl wäre es, neue Gesprächsbereitschaft über politische Lager zu stiften, statt selber zu polarisieren und auszugrenzen.

5. Konflikt mit der AfD – Menschenwürde als Maßstab. – Die Kirche kritisiere nach Nothelle-Wildfeuer zu recht einen falschen Begriff von christlichem Abendland, wie ihn die AfD vertrete. Kein Wort von ihr dazu, dass sich der Münchner Kardinal Marx längst vom Begriff des „christlichen Abendlandes“ verabschiedet hat – weil er ausgrenzend sei. Bleibt die Frage: Warum und mit welcher Berechtigung will Nothelle-Wildfeuer noch von christlichen Grundwerten in der Politik reden, wenn Christen doch jetzt die religiöse Vielfalt anerkennen sollen und die Vorstellung einer christlich geprägten politischen Kultur längst überholt sei?

6. Humanität und die „Option für die Armen“. – Das Diskriminierungsverbot unserer Verfassungsordnung gilt, auch wenn Nothelle-Wildfeuer dem politischen Gegner anderes unterstellt. Das entbindet aber nicht davon, über den Erhalt der staatlichen Grundlagen, über den verantwortlichen Einsatz stets begrenzter Ressourcen und die Leistungsfähigkeit des Staates nachzudenken. Der Freiburger Sozialethikerin scheint die grundlegende Unterscheidung von „Wohl-Wollen“ und „Wohl-Tun“ abhandengekommen zu sein, früher ein Grundbestandteil der soialethischen Einführung im Grundstudium. Fragen politischer Verantwortungsethik werden sich auf Dauer allerdings nur begrenzt moralisierend und in der politischen Praxis allzuoft dann finanziell zukleistern lassen. Katholisches Staatsdenken war schon einmal höher entwickelt.

7. Für das Gemeinwohl, gegen Spaltung. – Wer wollte dem nicht zustimmen. Bleibt allerdings die Frage, wer spaltet und wer nicht. Nothelle-Wildfeuer spricht sich gegen kulturelle Homogenität aus, hat aber offenbar wenig Probleme mit einer Kirche, in der politische Homogenität gepredigt wird. Schwarz-Weiß-Denken löst politische Konflikte nicht. Wer von der bleibenden Bedeutung kultureller Identität für ein stabiles Gemeinwesen überzeugt ist (erinnert sei nur an das prominente Beispiel Francis Fukuyamas), muss damit nicht gleich eine uniformierte Gesellschaft meinen. Wenn die Kirche für das Gemeinwohl eintreten soll, wäre sie gut beraten, sich auch verantwortlich und differenziert Gedanken über den Erhalt eines stabilen Kulturstaates und seiner geistig-moralischen Voraussetzungen zu machen – andernfalls drohen über kurz oder lang politische, soziale und kulturelle Verteilungskämpfe.

8. Demokratische Grundordnung als Maßstab. – Die Kirche stehe für Freiheit, Pluralität und Minderheitenrechte. Gut gebrüllt, Löwe. Viele Christen hätten es sich gewünscht, wenn die Kirche dies auch angesichts einer ausgrenzenden und freiheitsfreindlichen Coronapolitik beherzigt hätte. Wer die Demorkatie erhalten will, sollte den streitbaren, pluralen, mitunter auch sehr kontroversen Diskurs fördern, nicht spalten und ausgrenzen, wie es die Bischofskonferenz mit ihrer Erklärung tut. Helmut Schmidt wusste noch, dass die Demokratie auch im Athen des alten Perikles keine harmonische Veranstaltung war.

9. Perspektiven: Grenzen des Dialogs. – Doch die letzte These lehrt anderes: Die Kirche müsse gar nicht mit allen im Gespräch bleiben, dekretiert Nothelle-Wildfeuer. Wer keine äußeren Grenzen ziehen will, muss zunehmend innere Grenzen ziehen, damit den Menschen nicht doch zu Bewusstsein kommen könnte, dass nicht alles rund läuft im Staate. Unvoreingenommenheit meint nicht Wertneutralität. Es gibt einen Unterschied zwischen Toleranz und Anerkennung – richtig. Doch wenn Nothelle-Wildfeuer erklärt, Freiheit, Gemeinwohl und Demokratie seien nicht verhandelbar, unterschlägt sie gerade das Grundprinzip einer freiheitlichen Demokratie: Wir müssen immer wieder um das rechte Verständnis von Freiheit, Gemeinwohl und Demokratie ringen. Nur wer meint, im Besitz einer höheren Moral zu sein, kann sich dieser Anstrengung entziehen. Mit einer freiheitlichen Demokratie hat das dann aber wenig zu tun. Vom innerkirchlichen Ringen um das rechte sozialethische Verständnis in einer doch so gern geforderten „synodalen“ Kirche einmal ganz zu schweigen.

Auf fremden Seiten: Menschenwürde und Lebensrecht

„Die Verfassungsrichter-Kandidatin Brosius-Gersdorf ist gescheitert, die Begriffsverwirrung um den Menschenwürde-Begriff hält trotzdem an. In diesem Streit geht es nicht nur um das ungeborene Leben – sondern um unseren Wesenskern.“

Der Theologe Jan Dochhorn nimmt in einem Beitrag für das Onlinemagazin „Publico“ zur Diskussion um die gescheiterte Kandidatur der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf für ein Richteramt am Bundesverfassungsgericht. Dabei geht es ihm um den Menschenwürdebegriff, der metaphysischer Grundlegung bedürfe, und die Notwendigkeit, zwischen Menschenwürde und Lebensrecht zu differenzieren.

Zwischenruf: Zehn Jahre nach „Wir schaffen das“

„Wir schaffen das.“ Der Zustand unseres Landes zehn Jahre später ist ernüchternd. Anders als Erzbischof Heße in der Hildesheimer Kirchenzeitung (Nr. 16/2025, S. 38 f.) meint, ist der Satz nicht „zukunftsgerichtet“, sondern Ausdruck einer unpolitischen Haltung. Zum einen: Statt über unterschiedliche Positionen im Umgang mit Migration zu diskutieren, werden die Differenzen moralisierend abgewiesen. Aktion ersetzt das politische Urteil. Wer nicht aktivistisch mitmacht, wird aus dem öffentlichen Diskurs kommunikativ ausgeschlossen. Wollen wir „das“, was immer damit genau gemeint ist, überhaupt? Ist dieses „Das“ überhaupt im Interesse unseres Zusammenlebens? Merkels Entscheidungen in der Migrationspolitik entzogen sich der parlamentarischen Legitimation. Zum anderen: Der Satz verweigert jegliche Bereitschaft zur politischen Gestaltung. Eine populistische Parole ersetzt das tiefere Nachdenken über die Grundlagen des Staates und über das, was es braucht, diese zu erhalten. Wer ist mit diesem „Wir“ gemeint? Wohl nicht eine Politik, die sich um die notwendigen Ressourcen für die Erhaltung unseres Zusammenlebens sorgen sollte. Die Probleme eines überforderten Bildungsproblems oder eines strukturell überlasteten Sozialstaates, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind überdeutlich, werden aber verdrängt – auch von Erzbischof Heße.

Zwischenruf: Der lange Schatten von Corona – oder: Was Corona mit der gescheiterten Richterwahl zu tun hat

Immer stärker greift ein soziales Freiheitsverständnis Raum, das die Grundregel einer freiheitlichen Gesellschaft auf den Kopf zu stellen droht: Erlaubt ist nicht mehr alles, was nicht verboten ist, sondern vielmehr wird Freiheit zugeteilt. Interessant ist, dass heute in der WELT vom 17. Juli 2025 Plagiatsjäger Stefan Weber in einem Gastkommentar einen Zusammenhang zwischen den „Plagiatsvorwürfen“ gegen Frauke Brosius-Gersdorf und ihrer freiheitsfeindlichen Haltung in der Impffrage herstellt. Ich lasse jetzt mal außen vor, ob die Plagiatsvorwürfe entkräftet sind oder Herr Weber zu recht an seinem Vorwurf festhält – das ist eine andere Debatte. Ich lasse auch außen vor, ob die Plagiatsjäger immer lautere Motive haben. Stefan Weber schreibt in seinem Gastkommentar, dass die vorerst gescheiterte Richterkandidatin nicht nur eine freie Impfentscheidung angesichts unzureichend getesteter neuer Impfverfahren für rechtmäßig hielt, sondern auch noch forderte, dass ungeimpft Erkrankte eine finanzielle Strafe für ihr sozialfeindliches Verhalten zahlen sollten. Lassen wir mal außen vor, ob eine Erkrankung in diesem Fall wirklich durch Impfverweigerung wahrscheinlicher wird – hieran müssen Zweifel erlaubt sein. Am Ende jedenfalls schreibt Weber in seinem Kommentar: „Wichtiger ist, dass sich in den Schriften von Brosius-Gersdorf ein Menschenbild offenbart, das zumindest mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.“ Weniger pathetisch ausgedrückt: Auch die Wissenschaft hätte guten Grund, ihre Ethik zu reflektieren und ihre Verfehlungen in der Coronazeit aufzuarbeiten. Aber auch das wird nicht passieren, so lange Kempen, Drosten und Co. als ehrenwerte Preisträger für Wissenschaftsfreiheitspreise und Hochschullehrerehrungen gelten. Wissenschaft ohne Ethik verkommt zur bloßen Technik. Wissenschaft ohne saubere Methodik verkommt zur Moralisierung. Wissenschaft braucht beides. Ich möchte mir meine Freiheit nicht nach Gutdünken und Zeitgeist zuteilen lassen – weder von Wissenschaftlern noch von Politikern.

Zwischenruf: Es geht nicht allein um Corona, sondern um unser Freiheitsverständnis

Die geplante Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der Coronapolitik wird an der einen oder anderen Stelle feststellen, dass Maßnahmen falsch waren, aber in der Gesamtbetrachtung wird man die Coronapolitik angesichts der „großen Herausforderungen“ durchwinken und erklären, man müsse daraus Schlüsse für künftige Großereignisse ableiten – die dann wieder in derselben Spur bleiben. Einen Willen zu echter Aufarbeitung und Aussöhnung ist nicht zu erkennen, wenn ja sich die Vorabstatements ansieht. Weder politisch noch gesellschaftlich. Dafür sitzen weiterhin die Verantwortlichen an den Schalthebeln der Macht. Dafür dürfen sich sich akademische Verfechter der Coronapolitik wie Herr Kempen, Herr Drosten oder die BioNTechgründer sich weiterhin ihrer Positivpreise für Wissenschaftsfreiheit oder ihrer Hochschullehrerpreise erfreuen.

Und damit sind wir bei einem weiteren Grund, warum die durch die Coronapolitik verursachte gesellschaftliche Spaltung weiter andauert: Wir brauchen eine Diskussion über unser Freiheitsverständnis. Die freiheitsfeindlichen Entscheidungen in der Coronapolitik sind die Spitze eines Eisbergs, der aus einem sozialen Freiheitsverständnis besteht. Die Freiheit wird politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich zunehmend sozial und institutionell gebunden umgedeutet. Nicht mehr die Integrität des Einzelnen steht im Vordergrund. Das Individuum wird zur Verfügungsmasse von Funktionären und Institutionen. Freiheit ist nicht mehr ursprünglich mit der Menschenwürde gegeben, sondern wird zugeteilt. Freiheit genießt, wer sich wohlverhält und anpasst. Freiheit wird zur Passgenauigkeit zwischen Individuum und Sozialstruktur, eine Widerständigkeit des Subjekts ist nicht mehr vorgesehen. Akademisch ist eine solche Umdeutung des Freiheitsverständnisses und der damit zusammenhängenden Grundrechte schon seit mehr als zwei Jahrzehnten zu beobachten. Mittlerweile hat es sich in den Parteien durchgesetzt.

Und die einzige Partei, die noch dagegen aufbegehrt, soll am besten verboten werden. Bleibt am Ende noch die Frage, wer eine solche Enquetekommission leiten und wer ihr angehören soll. Seien wir uns sicher: Man wird schon von vornherein dafür sorgen, dass die Kommission in der Spur des immer enger werdenden, noch zugelassenen Meinungskorridors der vermeintlich gesellschaftlichen Mitte bleiben wird.

Neuerscheinung: Gastkommentar zum Kirchenasyl

Der ehemalige SPD-Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Christian Lange, ist wegen der Praxis des Kirchenasyls aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Den Anstoß gaben Äußerungen des Flüchtlingsbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschlans, Bischof Christian Stäblein, vom Juni dieses Jahres. Der Sozialethiker und Erziehungswissenschaftler nimmt in einem Gastkommentar für die katholische Wochenzeitung „Die Tagespost“ dazu Stellung:

Axel Bernd Kunze: Kirchenasyl: keine höhere Moral. Für Verantwortungs- statt Gesinnungsethik, in: Die Tagespost, 78. Jahrgang, Nr. 28 vom 10. Juli 2025, S. 8.

Leserbrief: „Keine Politik mit dem Evangelium“

Unter der Überschrift „Keine Politik mit dem Evangelium“ hat der Verbund der nord-, ost- und mitteldeutschen Kirchenzeitungen einen Leserbrief zum Kommentar Ulrich Waschkis mit dem Titel „Die Kirche Jesu ist politisch“ übernommen:

„Die Kirche Jesu ist politisch“, meint Ulrich Waschki (KirchenZeitung. Katholisches Magazin für das Bistum Hildesheim, 10/2025). Ja, der Glaube ist politisch relevant. Aber aus dem Evangelium lassen sich nicht einfach parteipolitische Forderungen ableiten. Doch genau dies machen die beiden Großkirchen in Deutschland immer offensiver und verspielen dadurch Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Einzelne parteipolitische Forderungen werden als vermeintlich alternativlos gut dargestelt; wer anders denkt, wird ausgegrenzt. Moralisierung und Polarisierung des innerkirchlichen Diskurses sind die Folge, und dann auch leere Kirchenbänke. Die Kirche hat gerade keine Foren der parteipolitischen Programmbildung. Aus gutem Grund. Die Kirche ist dem Evangelium verpflichtet, nicht einem bestimmten politischen Programm. Wie Christen ihren Glauben und ihre Form der Nachfolge auch politisch verantwortlich leben, kennt vielfältige Formen. Und das ist auch gut so. Denn über die Frage, wie das Gemeinwohl ganz konkret am besten umgesetzt werden kann, müssen auch Christen untereinander streiten können; wenn es sein muss, auch sehr kontrovers.

Axel Bernd Kunze: Keine Politik mit dem Evangelium, in: aus.sicht. Aus Kirche und Gesellschaft – Verlagsgruppe Bistumspresse GmbH [Tag des Herrn. Zeitschrift für die ostdeutschen Bistümer; neue KirchenZeitung. Katholisches Magazin für das Erzbistum Hamburg; Kirchenbote. Katholisches Magazin für das Bistum Osnabrück; Der Sonntag. Katholisches Magazin für das Bistum Limburg; Glaube und Leben; Bonifatiusbote. Katholisches Magazin für das Bistum Fulda; KirchenZeitung. Katholisches Magazin für das Bistum Hildesheim] (2025), H. 12 v. 8. Juni 2025, S. 9 (Leserbrief).

Zwischenruf: Pervertierte Selbstbestimmung

Es war damit zu rechnen … – in einem Land, das sich immer mehr von einem individuellen Freiheitsverständnis verabschiedet. In der neuen Legislaturperiode soll wiederum versucht werden, eine Widerspruchslösung bei der Organspende durchzusetzen:

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/organspende-antrag-bundestag-102.html

Mit einer Wiedervorlage dieses Themas war auch unter einer unionsgeführten Bundesregierung zu rechnen. Auch die C-Parteien haben sich schon lange von einem christlichen Personalismus abgewandt. Der Einzelne wird kollektiviert, bis in den innersten Kernbereich seiner leiblichen Integrität – und perverserweise nennt man das dann auch noch Selbstbestimmung. Aber eine selbstbestimmte Entscheidung, bei der das Ziel der Entscheidung politisch schon determiniert ist, ist eine Perversion von Selbstbestimmung.

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