Zwischenruf: Warum ist es bildungsethisch so still geworden?

Um das Bildungssystem in Deutschland steht es nicht gut. Immer wieder haben es Hiobsbotschaften in den vergangenen Wochen und Monaten auf die Titelseite der Zeitung geschafft: Ein größer werdender Teil der Kinder beherrsche am Ende der Grundschule nicht mehr die elementaren Kulturtechniken. Im deutschen Bildungssystem fehle die Mitte, immer mehr akademischen Bildungsbiographien stehe eine wachsende Zahl von Schülern ohne Schulabschluss gegenüber, die Zahl ausbildungsfähiger Schüler in der Mitte hingegen schwinde – wobei die akademischen Abschüsse sich gerade nicht auf anspruchsvolle MINT-Fächer, sondern vornehmlich Sozial- und Kulturwissenschaften mit geringerem Anforderungsniveau verteilten. Der Lehrkräftemangel steige, obwohl die größere Pensionswelle noch bevorstehe. Die Liste ließe sich fortsetzen. Von der einst politwirksam verkündeten „Bildungsrepublik“ ist nicht mehr viel übriggeblieben.

Beste Zeiten für die Bildungsethik, sollte man meinen. Doch: Fehlanzeige. Die Disziplin ist merklich stumm geworden, obwohl die Schwierigkeiten im deutschen Bildungssystem mit Händen zu greifen sind. Wir sollten uns schon heute auf deutliche Folgewirkungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates und die Produktivität des Kulturstaates einstellen. Doch für das Schweigen gibt es Gründe, die schon in der Hochphase der bildungsethischen Debatte, die vor zwanzig Jahren begann, hätten gesehen werden können – für den zumindest, der sehen wollte.

Zunächst: Die Karawane ist weitergezogen. Wissenschaft lebt – heute sicher noch stärker als früher – von Moden, Trends und Aufmerksamkeit. Vor zwanzig Jahren war eine Sozialethik der Bildung neu und fand Aufmerksamkeit. Heute lassen sich anderswo mehr Meriten und Drittmittelgelder gewinnen, etwa in der Pflegeethik. Und dann: Der Bildungsethik ging es um Bildung allein im Kompositum, eben um Bildungsgerechtigkeit, Bildungsfinanzierung, Bildungssteuerung, Bildungssozialpolitik und so fort. Auch Fragen hiernach sind zu stellen. Aber im Letzten sind es nachgeordnete Bildungszwecke. Der sozialethische Bildungsdiskurs krankte in vielen – nicht in allen – Entwürfen daran, dass Bildung vielfach auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch zu beschreibende Anpassung zwischen Individuum und Sozialstruktur reduziert wurde.

Bildung meint die Befähigung zur Selbstbestimmung. Doch gerade an diesem pädagogisch-humanistischen Kern war das sozialethische Interesse von Anfang an recht gering, als sich ein eigenständiger Bildungsdiskurs innerhalb der Sozialethik nach den ersten PISA-Studien zu etablieren begann. Und damit sind wir bei einem weiteren Grund, warum es bildungsethisch so still geworden ist. Für die gegenwärtigen Probleme im Bildungssystem gibt es keine einfachen Rezepte. Mehr Geld, mehr Lehrer, mehr staatliche Steuerung, mehr Bildungszentralismus statt Bildungsföderalismus … Diese Antworten greifen zu kurz. Vielmehr müsste über zwei Dinge gesprochen werden.

Erstens: die erzieherische Kehrseite des Bildungsauftrags. Denn der Doppelauftrag zu Bildung und Erziehung ist letztlich nicht zu trennen. Und damit sind wir zugleich beim Zusammenspiel von Schule und Familie. Am 21. September zählte die WELT auf, was Lehrer bei Schülern zunehmend auffällt und den Beruf erschwert: schwache Konzentration, Unruhe, Angst. Dem ist nicht durch Bildungsplanung und Strukturen beizukommen, hierauf braucht es nicht zuletzt erzieherische Antworten. Doch über Erziehung wird in der zeitgenössischen „Erziehungs“-Wissenschaft überhaupt so gut wie gar nicht mehr geredet. Die Erziehung ist mit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die eine „Pädagogik für die Pädagogik“ sein wollte, aus dem pädagogischen Diskurs verschwunden. Auch dies hat Gründe: Über Erziehung zu sprechen, kann unangenehm sein. Hier geht es nicht in erster Linie darum, Erwartungen an den administrativen Sozialstaat zu stellen. Hier geht es um Fragen an das eigene wie an das gesellschaftlich vorherrschende Ethos, um Sinnfragen und Orientierungswerte.

Es bestehen eine große Unsicherheit und ein großer Unwille, genau hierüber zu sprechen. Denn dann müssten wir uns eingestehen, dass es mit dem Erziehungsverständnis gegenwärtig nicht weit her ist, dass wir unsere Prioritäten überdenken sollten. Etwa in der Digitalisierung, die mit dem Geldsegen des Digitalpaktes noch einmal deutlich forciert wurde. Digitale Produkte verführen, geben aber nicht vor, wie sie verantwortlich genutzt werden sollten. Genau das sollte Schule leisten. Genau das geschieht aber äußerst selten, weil die ältere Generation sich scheut, Orientierung zu geben und Grenzen zu setzen. W-LAN in allen Schulen ist mittlerweile Standard, das Smartphone auch hier allgegenwärtig, auch wenn wir wissen könnten, dass Konzentration, Muße, differenziertes Lesen und Textverstehen so gerade nicht gefördert werden. Und ja: Sollte hier etwas geändert werden, müssten sich auch viele Pädagogen selbst eingestehen, mehr oder weniger schon längst digital abhängig zu sein.

Beteiligungsrechte von Heranwachsenden werden überbetont, Erziehungsfragen deutlich unterschätzt. Wo eine Gleichrangigkeit an Verantwortung, Selbständigkeit und Erfahrung, die pädagogisch, entwicklungspsychologisch und emotional nicht gegeben ist, proklamiert und die Differenz zwischen den Generationen verleugnet wird, wird der Erziehungsaufgabe der Boden entzogen. Wo aber der Erziehungsgedanke sich verflüchtigt und das Bewusstsein für die besondere erzieherische Verantwortung der Elterngeneration schwindet, besteht die Gefahr, dass die Heranwachsenden notwendige pädagogische Förderung und Unterstützung verlieren und am Ende mit den zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben alleingelassen werden. Denn wo die besondere Verwiesenheit der Heranwachsenden auf Eltern sowie Pädagogen und umgekehrt deren pädagogische Verantwortung verkannt werden, wird es auch kommunikativ schwerfallen, das besondere pädagogische Angewiesensein der Kinder und Jugendlichen und deren Recht auf Erziehung zu thematisieren und zu sichern.

Zweitens: Eine ernsthafte bildungsethische Auseinandersetzung müsste in der gegenwärtigen Situation damit beginnen, über die zahlreichen Elefanten zu sprechen, die im Raum stehen: die hohen Zuwanderungszahlen und die damit verbunden kulturellen Verteilungskämpfe, das Verdrängen von Fragen nach kultureller Bindung und nationaler Identität, der wachsende Sprachförderbedarf durch eine rasch wachsende Zahl von Kindern ohne deutsche Muttersprache, die wachsenden finanziellen Belastungen durch Inflation und Preissteigerung, die psychologischen Folgen der Coronapolitik, die fehlenden Lehrkräfte und das schlechte Image des Berufes angesichts der gestiegenen Anforderungen, die administrativen Belastungen der Lehrkräfte … Nein, über diese Themen zu sprechen, passt nicht zu einer Sozialethik, die sich in weiten Teilen zunehmend als Agenda- und Haltungswissenschaft zeigt. Mit der Frage nach den Chancen und Grenzen dessen, was Schule gesellschaftlich zu leisten vermag, steht unweigerlich auch das eigene Staats- und Gesellschaftsverständnis der Disziplin auf dem Prüfstand. Und davor drückt man sich.

Was es bräuchte, wäre eine Bildungsethik, die ihr Pendant nicht allein in der empirischen Bildungsforschung sieht. Notwendig wäre eine Bildungsethik, die ebenso das Gespräch mit der Bildungs- und Erziehungsphilosophie sucht und genauso mit der pädagogischen Praxis. Denn wie schon gesagt: Die Themen liegen für eine Bildungsethik gegenwärtig geradezu auf der Straße.

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