Gastkommentar: Würde Kant sich impfen lassen?

Ja, Kant würde sich impfen lassen – meinte jedenfalls Thomas Kielinger in einem Kommentar am 21. Dezember 2021 in der WELT. Es ist nicht das erste Mal, dass Kant in der Coronadebatte als Kronzeuge herhalten muss – zu Unrecht, wie die folgende Glosse meint.

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Ein Gastkommentar von Tino Landmann

Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der gutgemeinten Wünsche und einer davon wird nun auch tatsächlich wahr werden: die langersehnte Impfpflicht! Endlich! Und dies flankiert von Kronzeugen, deren Glaubwürdigkeit niemals in Frage gestellt werden kann – ob sie es wollen oder nicht! Oder noch besser: Weil sie dafür sind!

Und einer davon ist wieder einmal ein alter Stratege des philosophischen Spektrums: der gute Kant, der jetzt eindeutig für eine Impfpflicht „wäre“.

Soso, Kant wäre für die Impflicht und deswegen ist jetzt auch der „Ethikrat“ dafür! Jawohl, genau so muss das sein! Die Begründung dafür gleicht einem philosophischen Husarenritt – allerdings auf einem Ackergaul. Nichts gegen das gute Tier: Es verrichtet seine Arbeit so, wie man das als Nutztier eben kann. Kants ethisches Nutztier, besser bekannt als Kategorischer Imperativ soll hier aber wieder einmal Arbeiten verrichten, für die er gar nicht gedacht worden ist. Aber Kant selbst soll nun (wieder einmal) den Kategorischen Moralgaul einspannen, weil er ja für etwas „wäre“.

Wenn es nicht derart ernst „wäre“, könnte ich  jetzt vor Lachen vom Stuhl fallen!

Wenn ich das immer lese, irgendjemand „wäre“ für dieses oder jenes! Das ist intellektuelle Hochstaplerei!

Zum einen: Kant ist tot! Niemand kann ihn mehr fragen, für was er „wäre“ oder nicht!

Und warum muss immer Kant gefragt werden? Warum fragt niemand Aristoteles, Hegel, Nietzsche, Marx oder Jesus? Ja, lasst uns Jesus fragen, für was er wäre! Allein diese Formulierung „für was jemand wäre“ offenbart doch eine infantile Weltsicht! Aber kleine Kinder wissen es eben noch nicht besser!

Insofern sind derartige Aussagen völliger Blödsinn!

Zum anderen: Wer so etwas behauptet, dem empfehle ich die Lektüre der Tugendlehre und der dort aufgeführten Einteilung der Pflichten. Die Erhaltung der körperlichen Unversehrtheit wird hier als vollkommene Pflicht gegenüber sich selbst geführt und ist somit jedweder Fremdbestimmung entzogen. Daneben: Wenn hier mit Kant und Würde „argumentiert“ wird, sei darauf hingewiesen, dass nach Kant nur der Mensch als Person selbst in der Lage ist, sich zu entwürdigen, da auch die Würde bzw. die Idee der Menschheit an sich jedweder Fremdbestimmung entzogen ist.

Aber nur zu, Ihr Karikaturen philosophischen Geistes! Verunstaltet, verfremdet und verzerrt die wirklich großen Köpfe der europäisch-deutschen Geistesgeschichte! Nur zu, Ihr lächerlichen Ciceros! Hoffentlich werdet Ihr irgendwann Opfer Eurer eigenen Anmaßung! Aber bis dahin genießt Euren Lohn im Kampf für eine neue Gesellschaft im Lichte des Heiligenscheins medialer Aufmerksamkeit!

Und weil wir es gerade mit Weihnachten und den Wünschen hatten: Eines wünsche ich mir von den Vertretern der philosophischen Zunft: Lasst Kant in Frieden ruhen! Und den Kategorischen Imperativ tatsächlich das leisten, wofür er dem gemeinen Menschenverstand als Kompass an die Hand gegeben worden ist: Es geht nicht darum, ob Kant für oder gegen eine Impflicht plädieren würde. Es geht einzig darum, ob die Maxime als allgemeines Gesetz gelten kann.

Frohe Weihnachten!

Der Verfasser ist promovierter Philosoph und Fachleiter für Geschichte der Philosophie und deren Didaktik.

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