Mathias Brodkorb, Katja Koch (2020): Der Abiturbetrug. Vom Scheitern des deutschen Bildungsföderalismus. Eine Streitschrift, Springe (Deister): zu Klampen, 148 Seiten.
Zu Beginn dieses Jahres, am 18. Januar, jährt sich der hundertfünfzigste Jahrestag der Gründung des deutschen Kaiserreiches. Warum diese historische Reminiszenz? Der Studentenhistoriker Harald Lönnecker hat anlässlich dieses Datums darauf hingewiesen, wie sehr auch die Bundesrepublik bis heute ihre konkrete Gestalt der Reichsgründung von damals verdankt: „1871 gab der deutschen Einheit Normalität. Ebenso der bundesstaatlichen Form, denn als Einheitsstaat hätte Deutschland nicht funktioniert.“ Doch gerade der Bildungsföderalismus, welcher der historischen bundesstaatlichen Traditione und der landsmannschaftlichen Vielfalt Deutschlands entspricht, hat es heute schwer – auch wenn die die Kultuspolitiker im „Coronalockdown“ vor Weihnachten noch einmal deutilch auf ihrer Eigenständigkeit gegenüber der Bundeskanzlerin bestanden haben. Glaubt man aktuellen Umfragen, wünschen sich zahlreiche Eltern ein bundesweit einheitliches Bildungssystem. Und auch in der Politik, insbesondere in den Unionsparteien, scheint der Bildungsföderalismus immer weniger Verteidiger zu haben. Diesen Eindruck erwecken Debatten über nationale Bildungsstandards, einen Nationalen Bildungsrat oder ein bundeseinheitliches Abitur.
Und genau beim letztgenannten Thema setzen Mathias Brodkorb und Katja Koch an: Das Abitur sei niveaulos und ungerecht geworden, lautet der Tenor ihrer Streitschrift. Die Kritik des Autorenduos trifft nicht allein die fast ein halbes Jahrhundert alte reformierte gymnasiale Oberstufe, sondern insgesamt das Grundkonzept einer föderalen Kultuspolitik. Nur ein Mehr an Verbindlichkeit, nenne man dieses „Bildungskanon“ oder „Lehrplan“, könne das Abitur noch retten. Sehr deutlich formulieren Brodkorb und Koch in ihrer Einleitung die These, die ihrem Band zugrundeliegt: „Das alles ist nur zu machen, wenn Bildung nicht mehr allein Ländersache ist. Dies zu ändern aber hieße, nicht nur Wände neu anzustreichen, sondern das marode Gebäude des Bildungsföderalismus durch ein neues zu ersetzen. Geordnet werden könnte dann übrigens nicht nur das Abitur, sondern letztlich alle Schulabschlüsse“ (S. 14).
Brodkorb, früher einmal Bildungsminister in Mecklenburg-Vorpommern, ist immer für eine Provokation gut, wie er nicht zuletzt mit seiner Aussage, radikale Inklusion sei Kommunismus, bewiesen hat. Schon in der Inklusionsebatte arbeiteten Brodkorb und Koch zusammen. Die Coautorin ist Professorin für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung an der Universität Rostock.
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Am Ende des flott geschriebenen Husarenritts durch die Untiefen des deutschen Bildungsföderalismus steht die „Gebrauchsanweisung für ein bundesweites Zentralabitur“ (S. 111), die auf einen Bierdeckel passt: zentrale Abschlussprüfung mit einheitlichen Rahmenplänen, Stundentafeln, Anforderungsniveaus, Bewertungsmaßstäben, Zulassungsbedingungen und einer einheitlichen Lehrerbildung.
Wie bei Streitschriften nicht unüblich schreiben die beiden Autoren mit einer gewaltigen Leidenschaft. Sie verstehen es, Dramatik zu erzeugen und den Leser für ihre Sicht der Dinge zu vereinnahmen. Hierzu trägt auch bei, dass nicht immer klar zwischen empirischen und normativen Aussagen getrennt wird. Umso wichtiger ist es, noch einmal die Gegenprobe zu stellen: Was gibt eigentlich die Gewissheit, dass am Ende einer solchen Radikalwende in der deutschen Bildungspolitik wirklich ein gestärktes Abitur steht – und nicht einfach nur ein weitere Niveauverlust, weil der kleinste gemeinsame Nenner dann von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen den Ton vorgibt!? Zu Recht halten sich die Standards zum internationalen Recht auf Bildung zurück, Präferenzen für zentale oder föderale Bildungssysteme zu formulieren. Wer eine Radikalreform des Bildungssystems vorschlägt, bei dem kein Stein auf dem anderen bleiben soll, könnte am Ende vor einem Schutthaufen stehen. Damit wäre nichts gewonnen. Realistischer und zielführender könnte sich eine maßvolle, aber politische beherzte Reform innerhalb des bestehenden Bildungssystems erweisen – und wo der Bildungsföderalismus vielleicht nicht zwingend abbruchreif, aber reformbedürftigt ist, zeigt der vorliegende Band sehr deutlich.
Vorsicht bleibt auch geboten, die Debatte vorschnell als Gerechtigkeitsdebatte aufzuladen. In der Bildungspolitik spielen sehr viele Akteure eine Rolle: von der einzelschulischen bis zur gesamtgesellschaftlichen Ebene. Und entsprechend breit gestreut sind auch die unterschiedlichen Perspektiven auf das Bildungssystem und die damit verbundenen Interessen. Und diese müssen politisch bearbeitet werden. Dazu laden Brodkorb und Koch ein, so weit, so gut. Weil es um eine politisch notwendige Debatte, sollte aber Vorsicht walten, die aufgeworfenenen Fragen einseitig zu moralisieren. Gerechtigkeit erfordert, Ungleichheiten zu rechtfertigen – das ist richtig. Befürchtungen vor einem steuernden Zentralstaat, der bildungspolitische Konzepte egalisiert und damit Alternativen von vornherein unmöglich macht oder ausblendet, sollten nicht von vornherein plakativ als überzogene Ängste vor Gleichmacherei und Sozialismus abgetan werden. Immerhin ist die föderale Struktur unseres Staates, die lange historische Wurzeln hat, keine Nebensache, sondern ein konstitutives Merkmal unserer Verfassungsordnung – aus guten Gründen. Auch deshalb lohnt sich ein Nachdenken, wie diese Verfassungsordnung so gelebt und gegebenenfalls erneuert werden muss, damit die Vorteile eines föderalen Systems auch tatsächlich zum Tragen kommen.
Die gesamte Rezension ist zu finden in: engagement 39 (2021), Heft 1, S. 62 – 64.