Rund fünfundzwanzig Jahre nach ihrem ersten gemeinsamen Migrationspapier haben die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen am 21. Oktober 2021 ein Nachfolgedokument mit dem Titel Migration menschenwürdig gestalten (Gemeinsame Texte; 27) herausgebracht. Der Text soll – wie die großen Kirchen es ausdrücken – so etwas wie ein „migrationsethischer Kompass“ sein.
In dem Papier findet sich manches von dem wieder, was die politische wie innerkirchliche Debatte seit Beginn der Migrationskrise im Sommer 2015 geprägt hat, etwa die Kontroverse um gesinnungs-und verantwortungsethische Positionen. Das Dokument selber lehnt es ab, zwischen moralischer Gesinnung und politischer Verantwortung einen Gegensatz zu konstruieren. Allerdings scheitern die Autoren des Migrationswortes an ihrem eigenen Anspruch. Vielmehr gleitet das Papier an vielen Stellen in politischen Kitsch ab. Armut, Gewalt und Krieg seien „Treiber der Migration“ (S. 111). In einer Welt, in der all dies nicht mehr vorkomme, „bräuchte sich keine Gesellschaft Sorgen um zu viel Ein- oder Auswanderung zu machen“ (ebd.). Ja, endlich – möchte man ausrufen: Warum ist bisher noch niemand auf diese Idee gekommen!?
Man sollte von den beiden großen Kirchen erwarten dürfen, dass sie sich auf höherem Niveau zu komplexen politischen Fragen äußern. Schon die empirische Grundlage überzeugt nicht: Das Schleuserunwesen als schmutziges Geschäftsfeld der Organisierten Kriminalität lebt davon, dass ein gestiegenes Wohlstandsniveau in den Herkunftsländern ausgenutzt wird. Dann fällt bei der sozialethischen Urteilsbildung einmal mehr auf, wie wenig die Sorge um gesicherte Staatlichkeit eine Rolle spielt. Der Staat erscheint vor allem als Adressat sozialer Leistungen und gesellschaftlicher Teilhabechancen. – Nur am Rande: Angesichts einer ressentimentsgeladenen Corona- und Impfpolitik, die einem Teil des eigenen Volkes soziale Teilhaberechte entzieht, Ungeimpfte zu Sündenböcken abstempelt und die Entscheidungsfreiheit des eigenverantwortlichen Subjekts verneint, sucht man ähnliche Worte der Kirchen und der Sozialethik vergeblich. Angesichts der Unteilbarkeit von Menschenrechten steigert dies gegenwärtig nicht die Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit der kirchlichen Sozialverkündigung.
Staatliche Leistungsfähigkeit ist kein fester Besitzstand, um sie muss immer wieder neu gerungen werden. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Papiers sagte die Münsteraner Sozialethikerin Marianne Heimach-Steins, eine der Mitverfasserinen: „Auf jeder Seite aller möglichen (politischen) Grenzen befinden sich Menschen.“ Keine Frage. Dies erübrigt aber nicht, danach zu fragen, welchen Wert gesicherte Grenzen für die Handlungsfähigkeit des Staates, die Rechtssicherheit, die Stabilität und den kulturellen Frieden eines Landes haben. Ein Grund, dass solche Fragen im Dokument weitgehend ausgeblendet werden, ist in einem diffusen Ethos weltweiter Geschwisterlichkeit zu suchen, wie es in der jüngsten päpstlichen Sozialverkündigung verstärkt hervorgehoben wird und das immer wieder im Papier durchscheint – mit der Folge, dass eine klare Vorstellung von den Aufgaben des Staates nicht zu erkennen ist. Doch nur ein handlungsfähiger Staat wird auf Dauer auch die Menschenrechte schützen können.
Ein weiterer Grund ist eine Idealisierung gesellschaftlicher Vielfalt, die das gesamte Dokument durchzieht und kulturelle Konflikte weitgehend ignoriert. Sofern von letzteren die Rede ist, geschieht dies allenfalls in Halb- oder Nebensätzen. Zählen Koranschulen, Verschleierung von Frauen, Ablehnung von Homosexualität oder islamisch motivierter Antisemitismus auch zur gewollten Zunahme gesellschaftlicher Vielfalt? Dass eine „Willkommenskultur“ nicht immer gelingt, wird „rechtspopulistischen“ Einflüssen auf die Debattenkultur angelastet. Einmal mehr zeigt sich hier die Strategie, unliebsame Positionen abzustempeln und von vornherein aus dem öffentlichen Diskurs auszugrenzen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den realen Konflikten einer immer inhomogener werdenden faktischen Einwanderungsgesellschaft findet sich nicht. Man muss an dieser Stelle gar nicht auf Ehrenmorde, die Vorgänge der bekannten Kölner Silvesternacht oder spektakuläre Gewaltangriffe anspielen, genügen kann schon ein Blick in eine der gar nicht mehr so wenigen Schulen, in denen die Mehrzahl der Schüler mittlerweile nicht mehr Deutsch als Muttersprache spricht.
Wer, wie im Migrationspapier der Fall, Einbürgerung erleichtern will und Anpassungsanforderungen von Zugewanderten kleinredet, wird den Integrationswillen bremsen, damit aber künftige kulturelle Konflikte noch verstärken. „Viele Formen der Migration verweisen auf international ungelöste Probleme fairer Teilhabe“, so Heimbach-Steins bei Vorstellung des Papiers. Das mag sein, kann aber kein Grund sein, sich vor unangenehmen Entscheidungen auf staatlicher Ebene zu drücken. Denn fehlender Wille zu einer robusten Migrations- und Einwanderungspolitik wird die äußere wie innere Sicherheit nicht befördern.
Die vereinfachende, schöngefärbte Sicht auf gesellschaftliche Vielfalt wird durch eine kanonisch ausgerichtete biblische Grundlegung verstärkt, die sich selektiv und gelenkt ausnimmt. So werden Texte aus dem Alten Testament, die Fremdheit und Abgrenzung betonen, weitgehend ausgespart. Die Auswahl der herangezogenen Bibelstellen wirkt durch die politische Grundlinie des Papiers beeinflusst. So wird man in der Bibel aber auch nur das finden, was man finden will.
Ferner betreibt das Papier die mindestens seit 2015 bekannte Camouflage, wenn über Migration gesprochen wird. Einerseits ist immer wieder von Asyl- und Schutzsuchenden die Rede. Andererseits wird gleich zu Beginn das Narrativ vom Einwanderungsland Deutschland gleichsam als Vorzeichen vor das gesamte Papier gesetzt. Beide Themen wären bei einer sorgfältigen ethischen Abwägung deutlich zu unterscheiden. Und wenn schon von einem Einwanderungsland gesprochen wird, müsste redlicherweise darüber reflektiert werden, dass dies für Deutschland allenfalls de facto gilt. Denn bis heute gibt es keine Einwanderungspolitik im engeren Sinne. Auch der von einer künftigen Ampelkoalition ins Auge gefasste „Spurwechsel“ zur Gewinnung von Fachkräften fußt auf der Asylpolitik.
Die grüne Kanzlerkandidatin erklärte im Wahlkampf, sie wolle im Kanzleramt lernen. Was vielleicht sympathisch rüberkommen sollte, bleibt ein politisch gefährlicher Dilettantismus. Und wer Migration als „Lernort staatlicher […] Aufgaben“ (S. 96) verniedlicht, wie die Autoren des Migrationspapiers, verkennt die gewaltigen Anstrengungen, die notwendig sind, ein geordnetes staatliches Gemeinwesen auf Dauer zu sichern. Das Papier verheddert sich auch an anderen Stellen in seiner eigenen Bildsprache.
So wird der eingangs schon erwähnte „migrationsethische Kompass“ als Aufgabe bezeichnet (S. 96). Oder es heißt, mit einem solchen Kompass könnten „notwendige Abwägungen und Entscheidungen getroffen werden“. Ein Kompass ist keine Aufgabe und trifft auch keine Entscheidungen. Er bleibt ein Hilfsmittel, das Seefahrer dabei unterstützt, den rechten Weg zu finden. In diesem Fall: ein Hilfsmittel, mit dem komplexe politische und ethische Probleme beurteilt werden können. Dies allerdings nur dann, wenn ein solches Hilfsmittel auch sachgerecht angewandt wird.
Doch krankt das Migrationspapier daran, dass dieses methodisch äußerst dürftig bleibt. Zwar wird im Papier an verschiedenen Stellen von der Notwendigkeit differenzierter Abwägungen gesprochen, so heißt es etwa im fünften Kapitel: „Auf allen Ebenen der ethischen Reflexion wie der politischen Gestaltung von Migration ist dabei ein verantwortliches Abwägen zwischen verschiedenen Gütern notwendig und unvermeidlich“ (S. 96). Nur gerade eine solch verantwortliche, differenzierte Güterabwägung wird im Papier nicht geleistet. Es fehlt eine gründliche, unvoreingenommene Wahrnehmung der gravierenden Wertkonflikte, die mit Migration einhergehen, und der damit verbundenen Folgen. Der Text spricht von ethischen Vorzugsregeln, die helfen, zwischen „dem Gebotenen und dem Möglichen“ (ebd.) zu unterscheiden; überzeugend angewandt werden sie aber nicht. Dies mag zwei Gründe haben:
Zum einen fehlt den Autoren des Papiers die notwendige Haltung, abweichende Positionen unvoreingenommen, auf Basis des Selbstverständnisses des Gegenübers wahrzunehmen. Eine differenzierte Güterabwägung setzt voraus, überhaupt erst einmal damit zu rechnen, dass der andere, der eine abweichende Position vertritt, für diese ebenfalls gute Gründe haben könnte. Erst dann kann um das bessere Argument ernsthaft gerungen werden. Dies gelingt aber nicht, wenn Gegenpositionen etwa vorschnell als „populistisch“ etikettiert und aussortiert werden.
Zum anderen liegt dem Migrationspapier von an Anfang an eine Perspektivverengung zugrunde, die aus der begrenzten Auswahl des benutzten Instrumentariums für die sozialethische Orientierung herrührt. Wenn migrationsethische Konflikte allein mit einem migrationsethischen Kompass angegangen werden, können Probleme rechts und links davon gar nicht erst wahrgenommen werden. So bleiben staatliche, wirtschaftliche, sicherheitspolitische oder auch kulturstaatliche Fragen im Migrationspapier merklich unausgeleuchtet. Doch ungeregelte oder illegale Migration hat gravierende Auswirkungen, die weit über den engeren Bereich der Asyl-, Ausländer- oder Einwanderungspolitik hinausreichen. Eine künstliche methodische Blickverengung führt dazu, dass Problemlagen verkürzt wahrgenommen werden und die Antworten am Ende einseitig oder verkürzend ausfallen.
Das christliche Staatsdenken war zu Recht von Vorbehalten gegen ein politisches Schwärmertum gezeichnet, wie es sich gegenwärtig im diffusen Ideal eines globalen Gemeinwohls oder weltweiter Geschwisterlichkeit zeigt. „Fratelli tutti“ lässt grüßen.
Das Papier benennt am Ende einen beeindruckenden Katalog im Zusammenhang mit Migration zu gestaltender politischer Aufgaben – das ist richtig. Soll dies gelingen, bräuchte es allerdings in der migrationsethischen Debatte eine breitere Wahrnehmung der Konfliktlagen, mehr Realismus und ein erneuertes Bewusstsein für Notwendigkeit und Wert staatlichen Handelns. Das Migrationspapier der Kirchen fasst sein Ideal einer künftigen „Weltmigrationsordnung“ – kleiner geht es offenbar nicht – in zwei Grundsätzen zusammen, die wohl an John Rawls und desen Gerechtigkeitstheorie erinnern sollen: „(1) Niemand sollte gezwungen sein, aus seiner alten Heimat auswandern zu müssen. (2) Jeder und jedem sollte es möglich sein, in eine neue Heimat einwandern zu können“ (S. 111). Die beiden Grundsätze sollen vermutlich elementar wirken, bleiben in ihrem systematischen Stellenwert aber unklar, was ein mögliches politisches Radikalisierungspotential verschleiert. Denn auch wenn die Autoren betonen, diese beiden Grundsätze ließen sich „nicht eins zu eins in nationale Politik“ (ebd.) umsetzen, liefe ein solches Migrationsregime über kurz oder lang auf eine unbegrenzte Niederlassungsfreiheit hinaus. Eine solche Utopie mag am akademischen Schreibtisch fernab vom Getümmel der Welt vielleicht leicht formuliert werden, dem Alltag einer Mehrheit der Kirchenmitglieder dürfte sie nicht entsprechen. Und wie in einer solchen Welt, verlässliche staatliche Institutionen, demokratische Teilhabe, kulturelle Stabilität und gesellschaftliche Solidarität noch organisiert werden sollten, bleibt ebenso fraglich. Eine solche Welt liefe auf beständige Verteilungskämpfe und politische Aushandlungsprozesse hinaus, und damit auf permanente Überforderung.