„Deutschland verschiebt die Freiheit auf unbestimmt“, schreibt Susanne Gaschke, ehemals Mitglied der SPD, in der Neuen Zürcher Zeitung am 5. März 2021. Ihr Beitrag ist erhellend. „Ich habe mich immer gefragt, wie der Übergang der Bundesrepublik Deutschland in einen wie auch immer gearteten postdemokratischen Zustand aussehen würde. Nach einem Jahr fortdauernder Grundrechtseinschäräkungen – betroffen sind unter anderem die Freiheit der Berufsausübung, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Versammlungsfreiheit, der Schulbesuch und persönliche Kontakte in der Familie – kann man wohl sagen: Jetzt wissen wir es“, schreibt Gaschke weiter.
Die Entwicklungen sind in der politischen Philosophie und der wissenschaftlichen Debatte schon länger vorbereitet worden. Ich kann mich noch gut an ein Oberseminar erinnern, bei dem es um postdemokratische Theoriebildung ging: Ein postdemokratisches Zeitalter solle mehr Partizipation und Anerkennung bringen – als ich gegengehalten habe, hat ein Kollege, der mittlerweile Professor ist, gesagt, ich würde immer alle neuen Entwürfe runterreden und meine Kritik völlig überziehen. Jetzt sehen wir, was ein postdemokratisches Zeitalter mit sich bringt, wenn überkommene demokratisch-rechtsstaatliche Institutionen an Bedeutung verlieren, Ordnung und Werte unserer Verfassung schleichend umgedeutet werden und „neue Entwürfe“ um sich greifen: „zum Volk gehört jeder, der im Land wohnt“ statt Nation; Verzicht auf Grenzsicherung statt Verteidigung der nationalen Souveränität und der Handlungsfreiheit des Staates; affektgeleitete Politik, weil politische Emotionen ja so wichtig seien, statt rationaler Krisenvorsorge- und Zivilschutzpolitik; Brüsseler Zentralismus statt Subsidiaritätsprinzip, etwa in der Impfpolitik; Entgrenzung der Menschenrechte als Instrument der Gesellschaftsreform, und damit nicht mehr ein juridisches Instrument zur Einhegung staatlichen Handelns; Vielfalt als gesellschaftsutopisch überhöhter Leitwert statt robuste Toleranz; sprachpolitischer Rigorismus statt Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit – die Liste ließe sich fortsetzen. Es gibt genügend Agendawissenschaftler an den Universitäten, welche die Entwicklungen legitimieren. Wer hingegen die überkommene Ordnung unserer politischen Institutionen verteidigt, gilt wissenschaftlich als Hinterwäldler.
Wir steuern auf eine Gesellschaftsformation zu, in der eine polarisierende Politik die Spaltung der Gesellschaft immer weiter vorantreibt – mit der Folge, dass immer autoritärer regiert werden muss, bis hin zum Impfzwang. Die Resolution des Europarates 2361/2021 gegen einen Impfzwang in Europa liest sich wie die KSZE-Schlussakte von Helsinki – nur dass dieses Mal nicht kommunistische Zwangssysteme, sondern aus dem Ruder gelaufene Demokratien Westeuropas eingehegt werden müssen. Wer angesichts derart unzureichend erforschter Impfstoffe für eine direkte oder indirekte Impflicht eintritt, hat den antitotalitären Konsens der Demokraten verlassen. Der bayerische Ministerpräsident gehört etwa zu denen, die gewaltig zündeln. Und nachdem der Versuch, eine ernstzunehemnde Oppositionspartei im Wahljahr zum Verdachtsfall zu erklären, gerichtlich gescheitert ist, müssten der Verfassungsschutzpräsident und der Bundesinnenminister in einer funktionierenden Demokratie längst zurücktreten.
Es sind keine schönen Aussichten, auf die wir zugehen. Dabei gibt es durchaus anderslautende Ansichten zuhauf, wie die bisherigen Reaktionen auf den Band „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“ zeigen. Leider schlägt das Pendel jetzt aber wiederum in eine falsche Richtung aus: von einer selbstzerstörerischen Staatsvergessenheit in der Migrationskrise hin zum autoritären „Intensivstaat“ (Der Tagesspiegel) in der Coronakrise. Wer weiß, welche Krisen und Freiheitseingriffe uns nach der Bundestagswahl erwarten werden … Als Ethiker weiß ich, dass Schiefe-Ebene-Argumente verpönt sind, aber unser Staat befindet sich schon länger auf abschüssiger Bahn. Wir fahren auf Substanz, wenn nicht längst auf Reserve.