Unser Land ist in Fragen der Migrationsethik deutlich gespalten. Die Debatte um den UN-Migrationspakt hat diese Situation noch einmal verstärkt. Dissens bei der sozialethisch-politischen Beurteilung aktueller Herausforderungen ist nicht das Problem, solange dieser fair und argumentationsstark ausgetragen wird. Sorge sollte allerdings bereiten, dass dies politisch-gesellschaftlich immer weniger gelingt, oftmals auch wissenschaftlich nicht. Etikettierungen ersetzen leider allzu oft das Argument. Kontroverse Standpunkte können aber nur dann sachlich-argumentativ bearbeitet werden, wenn zunächst einmal überhaupt das Selbstverständnis der anderen Position unvoreingenommen wahrgenommen wird – und das gelingt im öffentlichen Diskurs immer weniger, bis dahin, dass missliebige Standpunkte gleich von vornherein aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden sollen. Möglicherweise braucht es so etwas wie eine gesellschaftliche Moderation, aber ich kann gegenwärtig keinen Akteur erkennen, der diese Rolle übernehmen könnte. Die Kirchen haben sich seit Beginn der Migrationskrise parteipolitisch einseitig positioniert und fallen hierfür genauso aus wie die Bundespräsidenten, die sich gleichfalls parteipolitisch geäußert haben, was in anderen Fragen gemeinhin für das Amt als unschicklich gilt.
Gleich, ob man die überkommene Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik für hilfreich hält oder nicht, fällt auf, dass wir mit den Grundlagen unseres Gemeinwesens zu sorglos umgehen. Wir leben gegenwärtig geistig wie materiell von der Substanz – und das wird nicht lange gut gehen. Ein stabiles, funktionsfähiges und befriedetes staatliches Zusammenleben aufrecht zu erhalten, verlangt viel Anstrengung. Über diese Fragen, die hinter der Kontroverse zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischen Positionen stehen, müsste sozialethisch stärker gestritten werden, als dies gegenwärtig geschieht. Vielfach kommt die Sozialethik regelrecht staatsvergessen daher. In diesen Kontext gehört dann auch die Frage, welchen Wert der Nationalstaat für die Aufrechterhaltung des Rechts und der Sicherstellung humanitärer Verantwortung weiterhin besitzt. Nicht jeder, der die Migrationspolitik, die Deutschland praktiziert, in ihren Folgewirkungen nicht zwingend für human hält, spricht sich damit schon dafür aus, sich auf eine pragmatische Realpolitik zurückzuziehen.
Der CDU-Parteitag am Ende der Woche hat mit der Wahl der neuen Vorsitzenden vorerst diese Politik bestätigt. Ob die neugewählte Vorsitzende die Flügel der Partei zusammenhalten kann, wird sich noch erweisen müssen. Vielleicht kann man durchaus von einer Richtungswahl sprechen: Der bisherigen Vorsitzenden scheint es gelungen zu sein, die CDU zu einer neuen sozialdemokratischen Partei umzubauen; ähnliche Prozesse hat es auch in anderen Ländern Europas schon gegeben. Die CSU ist in Teilen auf einem ähnlichen Weg. Das bürgerliche Lager wird in der Folge kleiner oder formiert sich rechts der Union neu. Diese einseitige und polarisierende Entwicklung im Parteiensystem wird dem Land und der Vitalität unserer öffentlichen Debatte auf Dauer nicht gut tun.
Gesprächsfähigkeit zurückzugewinnen, wird ein wichtiges Thema für die öffentliche Debatte im neuen Jahr sein.