LESEPROBE: Aktuelle Herausforderungen unserer Demokratie – beleuchtet aus pädagogischer und bildungsethischer Perspektive

EINLEITUNG

aus:

Axel Bernd Kunze: Bildung in der Demokratie. Warum pädagogischer Eigensinn und Freiheit unverzichtbar sind (Pädagogik in Europa in Geschichte und Zukunft; 13), Bonn 2018, 164 Seiten; ISBN 978-3862691487.

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Die Geschichte der deutschen Nationalstaatsbildung zeigt, dass der staatstheoretische und der bildungstheoretische Diskurs von Anfang an eng miteinander verflochten waren. So wurde etwa die Idee der Burschenschaft geboren aus der Sehnsucht nach dem größeren Vaterland, dem einen Deutschland, und seiner inneren Freiheit. Zunächst war die deutsche Nation allerdings nur im geistigen Bereich zu haben, wie es Friedrich Schiller in seiner Prosa­skizze „Deutsche Größe“ in Worte gefasst hat: „[…] und wenn auch das Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. […] Sie ist eine sittliche Größe / sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.“ Die deutsche Kulturnation war entstanden; die Bildungsidee geriet nach dem Untergang des Alten Reiches gleichsam zur „Fortsetzung der Reichsidee mit anderen Mitteln“. Die weitere Geschichte der Burschenschaft ist untrennbar verwoben gewesen sowohl mit dem Kampf um geistig-akademische Freiheit als auch mit dem Ringen um nationale Einheit.

Jede Gesellschaft braucht eine symbolische Vorstellung von sich selbst. Eine solche lebendig zu erhalten, ist nicht unwesentlich – wenn auch keineswegs ausschließlich – eine Bildungsaufgabe. Dass uns hierzulande die Pflege unserer eigenen Kultur alles andere als leicht fällt, hat das letzte runde Jubiläum der Gründung der Urburschenschaft vor zweihundert Jahren in Jena gezeigt: Man muss keineswegs Burschenschafter sein, um diesem Datum Bedeutung für unser Gemeinwesen beizumessen – sollte man meinen. Immerhin stehen zwei der wichtigsten Nationalsymbole, Nationalhymne und Nationalflagge, mit diesem Ereignis in Verbindung.  Dessen eingedenk, ist die Nichtbeachtung dieses Jubiläums durch unsere Verfassungsorgane und den größeren Teil der Öffentlichkeit mehr als fragwürdig gewesen.

Ein Land, das sich seiner eigenen Tradition und seiner eigenen Identität nicht mehr bewusst ist, verliert an geistiger Vitalität und schöpferischer Kraft. Wir sehen das unter anderem an der Empörungs- und Moralisierungsrhetorik, die sich in die politische Debatte eingeschlichen hat (vgl. Körtner 2017). Ein solches Land verliert aber auch an Integrationskraft – weil eine überzeugende Kultur fehlt, in die hinein Integration überhaupt möglich wäre. Dies alles sind schlechte Vorzeichen für die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen. Die geistig-moralischen Grundlagen unseres Gemeinwesens müssen gepflegt werden, wenn die Aufgabe geistiger Selbstbehauptung gelingen soll – und diese Aufgabe wird in den nächsten Jahren nicht kleiner, sondern größer werden.

Der genannte Zusammenhang ist nur ein Beleg dafür, wie sehr politische und Bildungsfragen miteinander verknüpft sind. Wir tragen soziale Verantwortung für Werte und Normen, Sitte und Brauchtum, Sprache und Wissenschaft, Kunst und Kultur oder Tradition und Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht. Denn wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln.

Es wird nicht gelingen, trennscharf zwischen unaufgebbaren Werten und historisch wandelbaren kulturellen Prägungen, Routinen, kollektiven Vorlieben, Gewohnheiten und Alltagspraktiken zu unterscheiden, wie es der im schweizerischen Freiburg lehrende Sozialethiker Daniel Bogner jüngst vorgeschlagen hat. Erstere sind nicht ohne letztere zu haben – und umgekehrt. Dass sich Kultur historisch wandelt, ist eine triviale Aussage. Mit dem Wandel kultureller Prägungen, Routinen, kollektiver Vorlieben, Gewohnheiten und Alltagspraktiken werden sich auf Dauer auch gesellschaftliche Orientierungswerte wandeln. Daher brauchen wir einen offen und fair geführten Diskurs darüber, was unser Zusammenleben bestimmen soll – und was eben auch nicht.

Jedes Gemeinwesen, das stabil bleiben will, braucht einen gesellschaftlichen Mindestkonsens. Wichtig sind zunächst einmal zentrale Spielregeln einer formalen Sittlichkeit. Zu diesen müssen wir uns als Gemeinwesen verbindlich bekennen, diese müssen wir deutlich einfordern und diese muss der Staat auch bereit sein durchzusetzen. Es geht beispielsweise um eine gewaltfreie Streit- und Debattenkultur, ein robustes Maß an Ambiguitätstoleranz, den Willen zu Verständigung und Toleranz, Fairness und gegenseitigen Respekt, Achtung vor der Verfassung und den unveräußerlichen Rechten anderer.

Allerdings genügt ein Gerüst formaler Verfahrensregeln, wie dieses etwa im Modell eines Verfassungspatriotismus propagiert wird, allein nicht. Die Regeln unseres Verfassungsstaates müssen unterfüttert werden durch ein Fundament emotional gestützter, konkret gelebter Orientierungswerte. Diese bestimmen das sozialethische Verhalten der Bürger im Alltag und sind Ausdruck gemeinsamer Identität. Man kann von einem Vorrat an kulturellen Selbstverständlichkeiten sprechen, der uns im Alltag den Rücken freihält. An dieser Stelle ist durchaus der umstrittene Begriff „Leitkultur“ zu verwenden, womit noch nichts darüber ausgesagt ist, wie diese abgesteckt werden kann. Leider haben wir in den politischen Debatten alles dafür getan, diesen Begriff klein zu reden. Dass eine solche „Leitkultur“ nicht statisch sein kann, ist eine triviale Erkenntnis. Und selbstverständlich sollte eine Leitkultur so offen formuliert werden, dass sie dem heutigen Freiheitsempfinden gerecht wird. Aber Liberalität ist keinesfalls eine Erfindung unserer Tage, damit hat unsere westliche Gesellschaft schon länger Erfahrung – und das ist auch gut so. Sie war möglicherweise in bestimmten Bereichen früher sogar größer als heute.

Denn wo kulturelle Gemeinsamkeiten, gegenseitige Verbundenheit und wechselseitig übernommene Verpflichtungen schwinden, wo das Vertrauen in intuitiv gewusste, unproblematisch gelebte Gemeinsamkeiten verloren geht, gehen letztlich Freiheitsräume verloren. Ein Gemeinwesen, in dem man sich nicht mehr aufeinander verlassen kann, muss kontrollieren, regulieren und steuern. Daher ist es keineswegs belanglos, wie sich ein Staatsvolk zusammensetzt. Daher sollten Integrationsprobleme in einem Gemeinwesen nicht aus taktischen Gründen verharmlost werden. Vor ihnen die Augen zu verschließen, wird sich über kurz oder lang rächen.

Integration zählt grundsätzlich zu den gesellschaftlichen Funktionen von Schule. Allerdings wird die Schule dieser Aufgabe nur dann pädagogisch gerecht, wenn sie diese mit individuellen Funktionen verbindet, beispielsweise der Aufgabe persönlicher Identitätsbildung. Bildung befähigt den Einzelnen zur Selbstbestimmung, hilft ihm, sich zu den Bedingungen der eigenen Sozialisation zu verhalten, und ermöglicht ihm, sich Alternativen zu erschließen. Dabei soll der Einzelne ein bewusstes Verhältnis zur eigenen Kultur aufbauen. Das Verständnis der eigenen Kultur wird dadurch befragbar sowie differenzierter und wird sich dadurch auch wandeln. Schule kann diesen Prozess der Auseinandersetzung nicht erzwingen, aber sie kann wichtige Anstöße dafür geben.

Diese Integrationsaufgabe von Schule darf einerseits sicher nicht unterschätzt werden, aber sie ist andererseits auch kein Selbstläufer, der politisch beliebig steuerbar wäre. Schule braucht für ihre Erziehungs- und Integrationsaufgabe politischen und gesellschaftlichen Rückhalt und dann auch die notwendigen Ressourcen. Wir können Schule und Lehrerschaft nicht beständig mit neuen Aufgaben überfordern, wenn das Kerngeschäft des Unterrichts am Ende nicht leiden soll. Nur ein Alarmsignal soll hier exemplarisch genannt werden: In Frankfurt haben sich Anfang Februar 2017 fünfundsiebzig Rektoren und Konrektoren mit einem Offenen Brief zu Wort gemeldet, weil die Folgen der unbewältigten Flüchtlingswelle an den Schulen zu einer kaum noch zu bewältigenden Arbeitsbelastung der Lehrer geführt haben. Ferner litten die Schulen, so die Unterzeichner, unter den Auswirkungen unausgegorener Inklusionskonzepte und der Tatsache, dass die Schule immer mehr Erziehungsaufgaben zu übernehmen habe, für die eigentlich die Familie zuständig sei. Junge Lehrer wollten in der Folge kaum noch eine Stelle in der Großstadt Frankfurt annehmen, so die Schulleiter.

Viel wird davon abhängen, inwieweit Schule zentrale Elemente einer integrativen, überzeugenden Kultur und Wertordnung auch selbst vorlebt. Viele Elemente einer Willkommenskultur in der Schule oder Interkulturellen Pädagogik wirken am Ende dann doch recht hilflos. Angesichts der derzeitigen Integrationsherausforderungen genügt es nicht, einmal ein interkulturelles Schulfest zu veranstalten oder in mehreren Sprachen „Herzlich willkommen“ an die Schultür zu schreiben. Ganz zentral bleibt die Aufgabe, die Verkehrssprache zu erlernen – die wichtigste Voraussetzung, damit keine Parallelgesellschaften entstehen. Desintegration oder Entfremdung zeigt sich mitunter erst in der zweiten oder dritten Generation, wenn die Erinnerungen an die Fluchtumstände verblassen. Die Aufgabe, die hier zu stemmen ist, wird meines Erachtens gegenwärtig noch unterschätzt. Ein erster notwendiger Schritt wäre mehr Realismus in der Integrationsdebatte, der kulturelle und religiöse Unterschiede nicht kleinredet, sondern offen beim Namen nennt.

Der vorliegende Band beleuchtet aus pädagogischer und bildungsethischer Perspektive exemplarisch aktuelle Bildungsaufgaben, vor  denen unser demokratisches Gemeinwesen derzeit steht. Dahinter steht die Überzeugung, dass nur eine Bildung, die den Einzelnen zur Freiheit befähigt, und eine Bildungspraxis in unseren Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen, die selbst vom Kerngedanken der Freiheit durchdrungen ist, unserem Zusammenleben in Staat und Gesellschaft zum Besten gereicht. Pädagogischer Widerspruch sollte überall dort formuliert werden, wo Bildungspolitik die Bürger glauben machen will, sie wüsste schon im Voraus besser, wofür diese ihre Freiheit einsetzen sollten. Die Zukunft liegt nicht fertig vor uns, sie muss erst von uns gestaltet werden – unter Bedingungen und Herausforderungen, von denen niemand vorgeben sollte, sie bereits im Voraus zu kennen. Diese Zukunft zu meistern, bedarf es der Freisetzung der Einzelnen. Den hierfür notwendigen Mut zur Freiheit im Denken, Reden und Handeln, die über Konvention, Anpassung, Routine und Epigonentum hinausgeht, wird nur eine Pädagogik wecken können, die ihre pädagogische Freiheit nicht unter Wert verkauft und die sich ihren pädagogischen Eigensinn politisch nicht nehmen lässt.

Das Auftaktkapitel formuliert einleitend Fragen an den gegenwärtigen Zustand unserer repräsentativen Parteiendemokratie (Kap. II). Anschließend wird aufgezeigt, inwiefern Demokratie ein pädagogisches Thema ist (Kap. III). Dabei wird unterschieden zwischen Demokratie als Bildungsaufgabe und einer Erziehung zur Demokratie. Das folgende Kapitel fragt nach den Chancen, aber auch Grenzen demokratie- und menschenrechtspädagogischer Konzepte in der Lehrerbildung (Kap. IV). Im fünften Kapitel werden aktuelle Veränderungen, die Schule und Hochschule im Zuge der gegenwärtigen Bildungsreformdebatte ergriffen haben, einer pädagogischen Kritik unterzogen (Kap. V). Hierauf aufbauend, werden grundlegende Prinzipien einer eigenständigen pädagogischen Berufsethik dargelegt (Kap. VI). Inwieweit gegenwärtige bildungspolitische Entwicklungen dem Anspruch der Freiheit, wie er dem liberalen Rechts- und Verfassungsstaat zugrunde liegt, gerecht werden, wird an zwei Prüfsteinen exemplarisch diskutiert: dem Umgang mit dem Elternrecht (Kap. VII) und der Inklusionsdebatte (Kap. VIII). Abschließend wird vor dem Hintergrund aktueller migrations- und integrationspolitischer Herausforderungen diskutiert, welche Rolle Religion im Bildungssystem spielen sollte (Kap. IX).

Der Band basiert auf verschiedenen Vorarbeiten, die für die Drucklegung überarbeitet, angepasst und teilweise neu zusammengestellt wurden. In der Regel handelt es sich dabei um Vorträge, die an verschiedenen Orten diskutiert wurden. Auch wenn diese aus ganz unterschiedlichen Anlässen entstanden sind, geben sie zusammen eine Antwort darauf, warum Staat und Gesellschaft auf Bildung nicht verzichten können. Allerdings bleibt es wichtig, dass der Eigensinn jeder Pädagogik nicht durch politische Zwecke absorbiert wird.

Bildung ist das Vermögen des Einzelnen, ein reflexives Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zu seiner Umwelt einzunehmen. Bildung ist das Vermögen des Menschen, sich selbst als Urheber eigener Willensbildungsprozesse zu erfahren und eigene Geltungsansprüche zu erheben: „Anders verhält es sich aber, wenn wir (nachträglich) erfahren, dass unsere Willensbildungsprozesse unter dem manipulativen Einfluss anderer Personen standen. […] Das ist […] dann der Fall, wenn der andere auf unseren Willensbildungsprozess in einer Weise Einfluss gewinnt, die zu einem Kontrollverlust führt.“ (Tiedemann 2006, S. 126 f.) Daher ist Bildung als Menschenrecht geschützt: nicht in erster Linie aufgrund gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Erwartungen, sondern um der Freiheit des Einzelnen willen. Der Mensch vermag nicht einfach zu „existieren“. Er ist weder allein festgelegt durch seine natürlichen Anlagen noch durch die Einflüsse seiner Umwelt. Vielmehr muss er selbst entscheiden: Wer will ich sein? Was will ich aus mir machen? Wie will ich leben? Im Bildungsprozess entfaltet der Mensch seine Mündigkeit, seine Individualität und seine Persönlichkeit.

Unser Zusammenleben in Staat und Gesellschaft lebt von dieser Freiheit der Einzelnen. Nur aus der Erfahrung geistiger Integrität und Unabhängigkeit heraus wird der Einzelne dazu fähig, Verantwortung zu übernehmen und sich für Erhalt, Gestaltung und Weiterentwicklung des gemeinsamen Zusammenlebens einzusetzen.

Ich danke allen, die mich ich in den vergangenen Jahren eingeladen haben, über die genannten Themen zu sprechen und nachzudenken, mit denen ich diskutieren und streiten durfte – viele Gedanken zu einer Pädagogik, die selbst nicht politisch  ist, aber gerade deshalb politisch relevant ist, haben sich auf diese Weise klären und weiterentwickeln lassen.

 

Verwendete Literatur

Daniel Bogner: Wechselseitige Integration. Kann Religion eine Integrationsressource sein?, in: Marianne Heimbach-Steins (Hg.): Zerreißprobe Flüchtlingsintegration, Freiburg i. Brsg. 2017, S. 149 – 162, hier: 159.

Andreas Fisch: Gesetzestreue – Verfassungspatriotismus – Leitkultur. Wie entwickelt sich Zusammenhalt in einer Einwanderungsgesellschaft?, in: Ders., Myriam Ueberbach, Prisca Patenge, Dominik Ritter (Hg.): Zuflucht – Zusammenhalt – Zugehörigkeit? Kontroversen der Migrations- und Integrationspolitik interdisziplinär beleuchtet, Münster 2017, S. 325 – 356.

Andreas Fisch, Axel Bernd Kunze: Streitgespräch II: Die Rolle von Bildung und Bildungseinrichtungen bei der Integration, in: Andreas Fisch, Myriam Ueberbach, Prisca Patenge, Dominik Ritter (Hg.): Zuflucht – Zusammenleben – Zugehörigkeit? Kontroversen der Migrations- und Integrationspolitik interdisziplinär beleuchtet, Münster 2017, S. 199 – 209.

Ulrich H. J. Körtner: Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, Leipzig 2017.

Friedrich Schiller: Deutsche Größe [1801], in: Schillers Werke. Nationalausgabe, 2. Bd., Teil 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1799 – 1805 – der geplanten Ausgabe letzter Hand (Prachtausgabe) – aus dem Nachlaß (Text), herausgegeben von Norbert Oellers, Weimar 1983, S. 431 – 436, hier: 431.

Paul Tiedemann: Was ist Menschenwürde? Eine Einführung, Darmstadt 2006, S. 126 f.

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