Klaus Zierer: Der Sokratische Eid. Eine zeitgemäße Interpretation, Münster (Westf.)/New York: Waxmann 2022, 86 Seiten.
In der zurückliegenden Bildungsreformdebatte standen vor allem Fragen einer Sozialethik der Bildung im Vordergrund. Es ging – und geht – im öffentlichen Bildungsdiskurs vor allem um die bildungsbezogenen sozialen Praktiken, deren Organisation und um „Bildung in Form von Komposita“, anders gesagt: um nachgeordnete Bildungszwecke. Eine eigenständige Sozialethik der Bildung ist ein Kind der jüngeren Nach-PISA-Debatte. Dass Bildung auch ein sozialethisches Thema ist, ist eine wichtige Perspektiverweiterung, auch wenn Pädagogen schon immer gewusst haben, wie zentral die pädagogische Beziehung für Bildung und Erziehung ist. Diese ist Gegenstand einer eigenständigen Bereichsethik, der Pädagogischen Ethik.
Berufspraktisch wirksam werden Fragen einer Berufs- oder Standesethik über den Weg der Selbstregulierung, etwa unter Leitung von Berufs- oder Fachverbänden. Vollprofessionen bedürfen nicht allein einer Ethik des Handelns, etwa zwischen Lehrer und Schüler, sondern auch einer Ethik des Denkens und der wissenschaftlichen Theoriebildung. Die ethischen Prinzipien der eigenen Profession sollten eigenständig aus den wissenschaftlichen Prinzipien der eigenen Disziplin hergeleitet und begründet werden. Dies ist für Pädagogik insbesondere wichtig, da grundsätzlich nur das pädagogisch Geltung beanspruchen kann, was pädagogisch kontextualisiert wurde sowie der Idee der Bildung, also der Befähigung zur Selbstbestimmung, entspricht.
Klaus Zierer hat einen Sokratischen Eid für Lehrkräfte vorgelegt, der nicht allein normativ Prinzipien und Ziele des Lehrerberufes formulieren, sondern auch erfolgreiches Lernen ermöglichen will. Über Notwendigkeit oder Verzichtbarkeit eines solchen Unterfangens ist seitdem kontrovers debattiert worden, etwa in „Profil“, der Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes. Eine Kritik kreist um die Frage, ob es sinnvoll ist, Selbstverständlichkeiten, wie die Bindung der Lehrkräfte an Vorgaben des Grundgesetzes, auf diese Weise hervorzuheben. Nimmt sich eine Berufsgruppe hier selber wichtiger, als sie ist? Oder drückt sich hier vielleicht nur einmal mehr eine Unsicherheit in pädagogischen Fragen aus? Hat unsere Gesellschaft auch in Gestalt ihrer professionellen, öffentlich bestallten Lehrkräfte die Trittsicherheit in Fragen von Bildung und Erziehung verloren?
Ein Ethikkodex für die schulpädagogische Profession bleibt grundsätzlich ein sinnvolles Unterfangen. Einen solchen zu erarbeiten, wäre aber in erster Linie im Zuge der Selbstregulation Aufgabe von Berufsverbänden unter Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise, kann aber nicht vonseiten der Wissenschaft federführend geleistet werden. Für diese Expertise bildet der Band wichtige Vorarbeiten.
Soll ein solcher Ethikkodex Wirksamkeit erfahren, darf er nicht allein bei Selbstverständlichkeiten stehenbleiben, auch sollte es dabei nicht vorrangig um pädagogisch-fachliche Fragen gehen. Dass Kinder ihrem Entwicklungsstand entsprechend zu fordern und zu fördern seien, bleibt eine Binsenweisheit. Ein Ethikkodex wird auf die genuin normativen Fragen des Lehrerhandelns rekurrieren müssen. Dies gelingt dem vorliegenden Entwurf nur unzureichend. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass sich Konflikte häufig nicht auf der Wert-, sondern auf der Normebene entzünden. Auf den Wert Förderung werden sich vermutlich alle schnell verständigen können. Aber wie lässt sich Förderung pädagogisch und ethisch bestmöglich realisieren? Was brauchen Lehrkräfte hierfür an Unterstützung? Dabei ist auch an ein entsprechendes gesellschaftliches Ethos zu denken, dass Lehrer in ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag nachhaltig stützt? Gerade Berufsverbände sollten hierauf achten. Und wie gelingen Förderung und Forderung gleichermaßen am besten? Was meint dieses „Und“ zwischen Fordern und Fördern?
Neue normative Fragen stellen sich im Lehrerberuf gegenwärtig zuhauf, etwa im Bereich zunehmender Digitalisierung: Welche pädagogischen Entscheidungen sind angesichts der Digitalisierung in Schulen zu treffen? Wie soll Schule auf die erweiterten Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz reagieren? Wie sollen Lehrkräfte auf digitale Suchterscheinungen bei Schülern und Klassen reagieren?
Ein beruflicher Eid für Lehrer liegt mit dem aktuellen Band nicht vor. Es sind Überlegungen im Vorfeld eines solchen Instruments. Ein entsprechender Eid müsste kurz und präzise formuliert sein. Er kann dann durch einen umfassenderen Ethikkodex ergänzt werden, der allerdings mehr als individuelle Selbstverpflichtungen enthalten sollte.
Axel Bernd Kunze (Rez.)