„Der kleinste gemeinsame Nenner“ – so bezeichnet Regina Einig in einer Kolumne für die katholische Wochenzeitung „Die Tagespost“ vom 25. September 2025 den „Kampf gegen rechts“, dem sich die Deutsche Bischofskonferenz verschrieben habe. Angesichts grundlegender Unterschiede im Amts- und Kirchenverständnis komme der lautstarken Abgrenzung gegenüber Rechtspopulismus und Rechtskonservatismus eine stabiliserende Funktion zu. Sekundiert wird der Wandlungsprozess einer synodalen Funktionärskirche zur säkularisierten Nichtregierungsorganisation durch die universitären Vertreter der Christlichen Sozialethik. Beim runden Stiftungsfest der Unitas Freiburg im Juni dieses Jahres lieferte die örtliche Sozialethikerin, Ursula Nothelle-Wildfeuer, hierfür bestes Anschauungsmaterial. Ihr Festvortrag ist in Ausgabe 3/2025 der Dachverbandszeitschrift „unitas“ in gekürzter Form dokumentiert.
Die Festrednerin bezieht sich dabei auf eine Erklärung der deutschen Bischöfe aus dem Vorjahr, mit der diese „völkischen Nationalismus“ als „uvereinbar mit dem Christentum“ verwerfen und die AfD für Christen für „unwählbar“ erklären – nicht in Form eines klassischen Wahlhirtenbriefes, wie Nothelle-Wildfeuer eilfertig beteuert. Schließlich würden die Bischöfe keine Parteinahme betreiben, sondern sich für Menschenwürde und christliche Grundwerte einsetzen. Auf die Idee, dass es möglicherweise gute Gründe geben könne, über die Regierungspolitik der vergangenen zehn Jahre anders zu denken und nach politischen Alternativkonzepten zu suchen, kommt die Festrede erst gar nicht. Viel ist in der gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Rhetorik von Haltung die Rede, doch eine der Unvoreingenommenheit ist damit wohl nicht gemeint. Sich mit Gegenargumenten unvoreingenommen auseinander zu setzen und diese zu prüfen, im Ringen um das jeweils bessere Argument, ist nicht Sache gesinnungsethischer Agendawissenschaft.
Nothelle-Wildfeuer wähnt sich auf der richtigen Seite, diskutiert weder politisch noch sozialethisch, kanzelt ihre Gegner moralisierend ab, spricht Andersdenkenden von vornherein den guten Willen ab, möglicherweise auch gute Gründe vorweisen zu können. Die Reaktionen auf die genannte Erkärung der Bischöfe schwankte zwischen begrüßenswerter, notwendiger Orientierung und unzulässiger parteipolitischer Einmischung der Kirchen. Es gäbe also durchaus guten Grund, sich abwägend und erörternd mit der Erklärung auseinander zu setzen. Doch dies gelingt Nothelle-Wildfeuer nicht. Die Theologin gliedert ihren Vortrag in neun Thesen (im Folgenden kursiv gesetzt), die so einseitig sind, als wären diese dem „Schwarzen Kanal“ der früheren Blockkonfrontation entnommen. Versuchen wir dennoch eine Entgegnung.
1. Kirche und Politik – keine Parteipolitik: Eine Partei sei für Christen unwählbar – diese Aussage soll keine Parteinahme darstellen? Früher haben die Kirchen noch gesagt, sie machten keine Politik, sie machten Politik möglich. Doch wer oppositionelle Gegenentwürfe unter Generalverdacht stellt, gegen Menschenwürde und christliche Grundwerte zu sein, argumentiert in der Tat nicht politisch, sondern moralisiert, emotionalisiert und polarisiert – einmal davon abgesehen, dass offenbar ohne jede sozialethische oder innerkirchliche Diskussion von vornherein feststeht, was in der Politik als christlich zu gelten habe und was nicht. Dies leitet zur nächsten These über.
2. Christsein heißt politisch sein: Die unnachahmliche Formel „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ wehrt nicht allein politische Heilslehren ab, sondern legt auch der Kirche politische Zurückhaltung in vorletzten Fragen auf. Glaube ist politisch relevant, doch lassen sich aus dem Evangelium nicht eins zu eins parteipolitische Forderungen ableiten. Vielmehr eröffnet das Evangelium den Raum für eine Politik aus christlicher Verantwortung, die gerade im politischen Diskurs Kontur gewinnt und eine Verschiedenartigkeit säkularer Gesetze zulässt. Christen sind wie andere politische Akteure nicht davon befreit, immer wieder neu darum zu ringen, wie das staatliches Zusammenleben bestmöglich erhalten und gestaltet werden kann.
3. Neuevangelisierung und gesellschschaftliche Verantwortung: Nothelle-Wildfeuer will kein „Sakristeichristentum“ – so weit, so gut. „Wahre Mission“, so die Freiburger Theologin, bedeute, „Menschen in ihrer konkreten Lebensrealität zu begegnen“. Statt politische Verdikte auszusprechen, könnten Sozialethik und Bischofskonferenz damit beginnen und versuchen, nach der Lebensrealität jener zu fragen, die sich von den etablierten Parteien offenbar nicht mehr politisch vertreten fühlen. Stattdessen wird über sie, aber nicht mit ihnen geredet.
4. Kirche als moralische Stimme? – Die Kirche sei nicht zur „Moralagentur“ verkommen, wie Kritiker meinten, sondern erfülle ihren prophetischen Auftrag, sie übe keinen „Herrschaftsanspruch“ aus, sondern diene dem Gemeinwohl. Umso besser, wenn dieser prophetische Habitus kompatibel zum Regierungsprogramm ist. Ein Dienst am Gemeinwohl wäre es, neue Gesprächsbereitschaft über politische Lager zu stiften, statt selber zu polarisieren und auszugrenzen.
5. Konflikt mit der AfD – Menschenwürde als Maßstab. – Die Kirche kritisiere nach Nothelle-Wildfeuer zu recht einen falschen Begriff von christlichem Abendland, wie ihn die AfD vertrete. Kein Wort von ihr dazu, dass sich der Münchner Kardinal Marx längst vom Begriff des „christlichen Abendlandes“ verabschiedet hat – weil er ausgrenzend sei. Bleibt die Frage: Warum und mit welcher Berechtigung will Nothelle-Wildfeuer noch von christlichen Grundwerten in der Politik reden, wenn Christen doch jetzt die religiöse Vielfalt anerkennen sollen und die Vorstellung einer christlich geprägten politischen Kultur längst überholt sei?
6. Humanität und die „Option für die Armen“. – Das Diskriminierungsverbot unserer Verfassungsordnung gilt, auch wenn Nothelle-Wildfeuer dem politischen Gegner anderes unterstellt. Das entbindet aber nicht davon, über den Erhalt der staatlichen Grundlagen, über den verantwortlichen Einsatz stets begrenzter Ressourcen und die Leistungsfähigkeit des Staates nachzudenken. Der Freiburger Sozialethikerin scheint die grundlegende Unterscheidung von „Wohl-Wollen“ und „Wohl-Tun“ abhandengekommen zu sein, früher ein Grundbestandteil der soialethischen Einführung im Grundstudium. Fragen politischer Verantwortungsethik werden sich auf Dauer allerdings nur begrenzt moralisierend und in der politischen Praxis allzuoft dann finanziell zukleistern lassen. Katholisches Staatsdenken war schon einmal höher entwickelt.
7. Für das Gemeinwohl, gegen Spaltung. – Wer wollte dem nicht zustimmen. Bleibt allerdings die Frage, wer spaltet und wer nicht. Nothelle-Wildfeuer spricht sich gegen kulturelle Homogenität aus, hat aber offenbar wenig Probleme mit einer Kirche, in der politische Homogenität gepredigt wird. Schwarz-Weiß-Denken löst politische Konflikte nicht. Wer von der bleibenden Bedeutung kultureller Identität für ein stabiles Gemeinwesen überzeugt ist (erinnert sei nur an das prominente Beispiel Francis Fukuyamas), muss damit nicht gleich eine uniformierte Gesellschaft meinen. Wenn die Kirche für das Gemeinwohl eintreten soll, wäre sie gut beraten, sich auch verantwortlich und differenziert Gedanken über den Erhalt eines stabilen Kulturstaates und seiner geistig-moralischen Voraussetzungen zu machen – andernfalls drohen über kurz oder lang politische, soziale und kulturelle Verteilungskämpfe.
8. Demokratische Grundordnung als Maßstab. – Die Kirche stehe für Freiheit, Pluralität und Minderheitenrechte. Gut gebrüllt, Löwe. Viele Christen hätten es sich gewünscht, wenn die Kirche dies auch angesichts einer ausgrenzenden und freiheitsfreindlichen Coronapolitik beherzigt hätte. Wer die Demorkatie erhalten will, sollte den streitbaren, pluralen, mitunter auch sehr kontroversen Diskurs fördern, nicht spalten und ausgrenzen, wie es die Bischofskonferenz mit ihrer Erklärung tut. Helmut Schmidt wusste noch, dass die Demokratie auch im Athen des alten Perikles keine harmonische Veranstaltung war.
9. Perspektiven: Grenzen des Dialogs. – Doch die letzte These lehrt anderes: Die Kirche müsse gar nicht mit allen im Gespräch bleiben, dekretiert Nothelle-Wildfeuer. Wer keine äußeren Grenzen ziehen will, muss zunehmend innere Grenzen ziehen, damit den Menschen nicht doch zu Bewusstsein kommen könnte, dass nicht alles rund läuft im Staate. Unvoreingenommenheit meint nicht Wertneutralität. Es gibt einen Unterschied zwischen Toleranz und Anerkennung – richtig. Doch wenn Nothelle-Wildfeuer erklärt, Freiheit, Gemeinwohl und Demokratie seien nicht verhandelbar, unterschlägt sie gerade das Grundprinzip einer freiheitlichen Demokratie: Wir müssen immer wieder um das rechte Verständnis von Freiheit, Gemeinwohl und Demokratie ringen. Nur wer meint, im Besitz einer höheren Moral zu sein, kann sich dieser Anstrengung entziehen. Mit einer freiheitlichen Demokratie hat das dann aber wenig zu tun. Vom innerkirchlichen Ringen um das rechte sozialethische Verständnis in einer doch so gern geforderten „synodalen“ Kirche einmal ganz zu schweigen.